Pakistan und China einigen sich auf den Bau der »Neuen Seidenstraße« – ohne die Bewohner vor Ort einzubeziehen. 20.000 Menschen im Norden Pakistans sind plötzlich Teil eines Wirtschaftskorridors mit ungewissen Erfolgsaussichten.
Ein bunt geschmückter Laster quält sich klappernd im Schritttempo am Passu-Gletscher entlang. 500 Meter weiter auf dem Karakorum Highway steht eine Gruppe lachender Frauen am Ortsausgang Passu. Ihnen gegenüber hocken zwei Alte und ein Polizist; auch sie vertieft in einen Plausch. Was soll der Beamte auch anderes machen, in einer Gegend in der es praktisch keine Kriminalität gibt, kaum materiell reiche Menschen und keine Armen und die neue Generation zu 100 Prozent Lesen und Schreiben kann.
Hunza-Gojal heißt dieses Biotop und liegt am nördlichsten Zipfel Pakistans; etwa 700 Kilometer nördlich von Islamabad. Gojal ist ein Teil des geplanten Wirtschaftskorridors, der von der chinesischen Provinz Xinjiang bis zum 3.000 Kilometer entfernten gelegenen Gwadar reichen soll. Dort, am südlichsten Zipfel Pakistans, haben die Chinesen schon mit Milliarden Dollar einen riesigen Überseehafen gebaut, der ihnen Zugang zum Arabischen Meer verschafft.
Mit einem Investitions-Volumen von 46 Milliarden US-Dollar hat die chinesische Regierung die neue Seidenstraße den Verantwortlichen in Islamabad schmackhaft gemacht. Letztere gaukeln nun ihrer Bevölkerung vor, dass ihr Land durch dieses Abkommen auf einmal vor einer blendenden Zukunft stehe. Dass die USA nicht tatenlos zuschauen werden, scheint die Regierung von Premier Nawaz Sharif in Islamabad zu verdrängen. Die Vereinigten Staaten haben in Pakistan viele Fehler gemacht, aber es sind vorwiegend amerikanische Dollars, die Pakistan seit einem Jahrzehnt vor dem Staatsbankrott bewahren.
Auch dem Nachbarn Indien gefällt das chinesische Treiben in Pakistan überhaupt nicht, denn Gojal ist ein Teil der umstrittenen Region Gilgit-Baltistan und damit Teil des Kaschmir-Konflikts. Somit wird das Wettrüsten der verfeindeten Nachbarn weitergehen. In den vergangenen Jahren war Indien zum Teil der größte Waffenkäufer der Erde, Pakistan der drittgrößte – Geld, das gerade Pakistan fehlt, für dringende Investitionen in Bildung und Infrastruktur.
So springt in Sachen Bildung schon seit Jahren Saudi-Arabien ein. Mit bis zu 100 Millionen US-Dollar im Jahr unterstützt Riad Religionsschulen der Deobandis in Pakistan, in denen Taliban und andere Extremisten ihren Nachwuchs rekrutieren. Der Iran beschränkt sich vorwiegend auf Stipendien für die schiitische Minderheit. Um die Infrastruktur Pakistans will sich nun Peking kümmern. Neue Stromkraftwerke entlang einer Schneise vom Norden Pakistans bis zum Süden könnten dem Land, das unter eklatanten Stromproblemen leidet, neue Impulse verleihen. Doch dies würde nichts an den Ursachen der Probleme ändern: eine ineffektive Bürokratie und korrupte Verantwortliche auf fast allen Ebenen. So gehören auch bei der Energieversorgung Leitungsverluste und Stromdiebe zu den Hauptgründen für die extrem häufigen Stromausfälle.
Armee auf dem Vormarsch, Demokratie auf dem Rückzug
Einzig die pakistanische Armee zeigt, dass es Veränderungen braucht, damit die Chinesen ihr Investitions-Versprechen nicht zurückziehen. Nachdem die Militärs mit den Taliban mehr als zwanzig Jahre lang Außenpolitik betrieben haben, scheinen sie verstanden zu haben, dass ihnen ihr Frankenstein-Monster aus den Händen geglitten ist – und haben die Extremisten aus fast allen ihren Hochburgen entlang der Grenze zu Afghanistan vertrieben.
Doch auch in die Innenpolitik mischt sich die Armee mal wieder ein. Nachdem sich die Zahl der Gewaltverbrechen in Karatschi in sieben Jahren Demokratie verzehnfacht hat, sorgen die Rangers, eine Sondereinheit der Armee, auf ihre Art für Ruhe. Allein in den letzten zwölf Monaten haben sie dort mehr als 900 vermeintliche Verbrecher erschossen. Dass die Armee einspringen muss, weil der klamme pakistanische Staat in Karatschi nur einen Polizisten auf 1.500 Bürger zur Verfügung stellt – in London sind es einer für 152 – ist ein weiteres Indiz für den Rückzug der Demokratie in Pakistan.
Auch Teile des Rechtssystems hat die Armee wieder in ihre Hände genommen. Nachdem Schul-Massaker in Peschawar im Dezember 2014 hat die Politik ihren Streitkräften klaglos eigene Schnellgerichte zugestanden, die angebliche Terroristen verurteilen können. Auch in Gojal regiert nicht die Politik, sondern die Armee, in Form des allmächtigen Geheimdienstes ISI, der ihnen unterstellt ist. Dazu ist auch ein Teil der anderen 25 pakistanischen Geheimdienste in Gilgit-Baltistan nach Gojal umgezogen, um 20.000 Bewohner, beschäftigungslose Polizisten und 1.000 chinesische Straßenarbeiter zu »beschützen«.
Pakistans Regierung hat noch immer keine Antwort auf die jährlichen Überschwemmungen und Hitzewellen
Letztere bauen zurzeit den Karakorum Highway aus, auf dem knapp zwölf Kilometer mit dem Boot zurückzulegen sind. Im Jahr 2010 entstand ein 23 Kilometer langer See durch einen Erdrutsch. Der See versperrte dem Karakorum Highway den Weg und die Chinesen boten der pakistanischen Regierung an, ihn kontrolliert zu fluten, damit sie weiter an ihrer neuen Seidenstraße mit Zugang zum Arabischen Meer arbeiten könnten.
Doch damals hing Pakistan noch bedingungslos am Tropf der Amerikaner – und die hätten einer Flutung nicht zugestimmt, um den chinesischen Vorstoß in Schach zu halten. Doch die Chinesen haben den Tunnel seitlich des Sees nun so gut wie fertiggestellt. Die Bewohner Gojals haben dennoch ihre Zweifel an den guten Absichten Pekings. Die Region ist reich an Metallen und Edelsteinen. Dazu mit unzähligen Gletschern und siebentausend Metern hohen Bergen ein touristisches Paradies.
»Niemand von uns weiß, was unsere Verantwortlichen den Chinesen versprochen haben. Schon jetzt überfluten die chinesischen Arbeiter mit ihrem billigen Fuselalkohol unsere Gegend. Wir wollen hier keine riesigen chinesischen Fabriken oder Vergnügungsparks. Wir wollen hier selber investieren dürfen«, sagt mir eine respektierte Person der hiesigen Gemeinschaft. Dass Präsident Sharif ihm Gehör schenkt, glaubt er selber nicht.
Wie jedes Jahr ist das Land in diesem Sommer von Überschwemmungen betroffen; vor einem Monat war es noch eine Hitzewelle. Und jedes Jahr tun die Verantwortlichen Pakistans so, als treffe das Schicksal das Land aus heiterem Himmel. Auch im diesjährigen Etat spielen Bildung und die Gesundheitsversorgung keine große Rolle. Die jungen gebildeten Menschen rennen weiterhin in Scharen ins Ausland. Daran werden wohl auch die Visionen, die mit dem Bau des Seidenstraßen-Projekts verbunden sind, wenig ändern.