In einem Park in Lahore kommen beim Morgensport Anwälte, Journalisten und andere Menschen zusammen. Beim Plausch zum Workout tauschen sie sich lakonisch über Pakistans Image, peinliche Politiker und Problemprioritäten aus.
Es ist ein typisch nebliger Morgen in Lahore. Soeben streckte ich Hussain 20 Rupien hin. Hussain ist über 60, kann nicht mehr richtig laufen und kaum noch sehen. Womit verdient jemand wie er sein Geld? Er verkauft Vogelfutter der besonderen Art. Hussain reicht mir eine Tüte mit verrotteten Fleischstücken, die ich ihm zurückgebe und mich mit meiner Kamera in Position stelle. Dann wirft der Alte die Fleischtücke soweit wie er kann zur Seite; ungefähr zweieinhalb Meter.
Leider flattern nur ein paar Raben heran und ein kleiner Bussard, die großen Bussarde schweben misstrauisch über uns. Hussain zuckt mit den Schultern und sagt: »Kal«. In der Landessprache ist damit morgen gemeint, aber auch gestern. So entscheide ich mich für die positivere der zwei Möglichkeiten: Morgen hast du bestimmt mehr Glück. Fünf Minuten später schlendere ich durch den Eingang des großen Jinnah-Parks, wo ein Plakat die Jogger dran erinnert, unbedingt lange Hosen zu tragen. Nein, nicht aus religiösen Gründen, sondern wegen der Moskitos. 1
00 Meter weiter steht eine Reihe Sportgeräte – Rana Sahibs kostenfreies Freiluft-Gym. Herr Rana sitzt auch jetzt vor dem Holzschuppen, in dem die Hanteln und Bänke abends gelagert werden. Er ist 80, und leitet seit 1956 diesen Ort. Dann begrüße ich ein paar Sportsfreunde, Mittvierziger allesamt, die ausgiebig miteinander diskutieren: »Na, schon beim Zungentraining?«, frage ich augenzwinkernd.
Einer der Rechtsanwälte des nahen High Courts ist auch da und schwingt ein paar Hanteln; natürlich im frisch gebügelten Anzug. Nach dem grausamen Anschlag auf die Schule in Peschawar im Dezember 2014 hat das Parlament der Armee eigenen Schnellgerichte zugestanden, die Terroristen umgehend aburteilen können. Ich spreche den Anwalt darauf an: »Jetzt geht die Armee ja euern Richtern zur Hand.« Der Jurist stellt die Hanteln unsanft ab: »Unsere obersten Richter sind die am wenigsten korrupten Staatsdiener in Pakistan«, erklärt er ungewohnt heftig.
»Die Richter in den Distrikten hingegen sind völlig überlastet und vielleicht auch deswegen korrupt. Anstatt der Armee noch mehr Geld zuzuschaufeln, sollte die Regierung neue Richter einstellen. Warum haben denn die Richter in den Distrikten Schwierigkeiten, Mörder oder Terroristen zu verurteilen? Erstens, sind sie vollkommen schutzlos, und zweitens schaffen es Polizei und Geheimdienst nur selten, stichhaltige Beweise zu liefern. Was soll ein Richter ohne Beweise machen?« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die Sportsfreunde auf der anderen Seite mir die Zungen herausstecken.
Sie würdevoll ignorierend, frage ich den Anwalt, was er anstelle der Schnellgerichte vorschlage. »Aber das ist doch ganz einfach. Wir leben in einer Demokratie«, antwortet er und stutzt kurz. »Na jedenfalls auf dem Papier. Die Armee ist zum Schutz der Zivilbevölkerung und der staatlichen Institutionen da. Richter sollen die Terrorverdächtigen aburteilen und die Armee als Werkzeug der Demokratie soll die Richter beschützen. Meinetwegen kann man in jeder Provinz spezielle mobile Gerichtshöfe einrichten, aber das Recht muss von der Judikative gesprochen werden und nicht von der Exekutive. Sonst werden wir nie eine Demokratie.«
Am späten Nachmittag ist es um den Sportplatz herum bei weitem betriebsamer. Familien mit ihren Kindern und Verliebte bei ihren ersten Rendezvous spazieren durch den Park. Auf dem behindertengerechten Spielplatz, auf dem ich noch nie einen Behinderten gesehen habe, findet das übliche Spiel statt. Ein paar Kinder toben ausgelassen an den Geräten herum, dann schreitet behäbig ein Wachmann heran. Er beginnt zu schimpfen, dass das hier ein Ort für Behinderte sei. Aber erst als der Wachmann auf etwa 20 Meter herangeschritten ist, suchen die Kinder vergnügt lachend das Weite. Die Autorität des Wachmannes, der nicht einmal 100 Euro im Monat für seine täglichen 12-Stunden-Schichten bekommt, bleibt gewahrt – und auch die Kinder sind offensichtlich zufrieden.
»Hattet ihr schon mal einen Bildungsminister, der nicht lesen und schreiben kann?«
Neben mir versucht ein Journalist vor seiner Abendschicht etwas gegen sein Bäuchlein zu unternehmen; doch er lässt es schnell sein und fragt mich: »Wie berichten eigentlich eure Zeitungen über Pakistan?« »Na ja«, antworte ich zögernd«, »in der Regel nur über Taliban, Bomben und Christenverbrennungen…«, als der Kollege unwirsch dagegen halten will, hebe ich die Hand und fahre fort: »Aber es gibt immer wieder Zeitungen, die versuchen aufzuzeigen, das es in Pakistan eher an etwas anderem krankt: an den zu geringen Investitionen in Bildung und an den korrupten Clan Parteien Pakistans.
Doch an der Resonanz der Leser sieht man, dass die meisten lieber über Bomben und Taliban lesen wollen. Wenn ich mir jedoch eure Auslandsseiten anschaue, sind das auch nicht gerade Berichte aus erster Hand…«. »Im Inlandsteil schon«, entgegnet er lachend, »denn unsere Politikern haben aller höchsten Unterhaltungswert. Hattet ihr schon mal einen Bildungsminister, der nicht lesen und schreiben kann?« Ein anderer Sportler, ein Zahntechniker, unterbricht seine Übungen und mischt sich ein: »Oder hattet ihr schon mal einen Tourismusminister, der sagt: ›Tourismusindustrie, was ist denn das? Landwirtschaft, das ist eine Industrie, aber Tourismus?‹«
Der Journalist legt nach: »Oder unser letzter Eisenbahnminister, Ghulam Bilour. Der meinte: ›Was die Leute immer mit ihrer Eisenbahn haben! Schaut doch mal nach Saudi-Arabien oder Afghanistan. Die haben keine Eisenbahn, und es geht auch.‹« »Na, der Beste«, sagt der Zahntechniker, »war doch nun wirklich unser letzter Innenminister, Rehman Malik, als er forderte, ihm die Namen aller säumigen Stromkunden zu nennen, er würde das Geld in kürzester Zeit eintreiben. Zwei Monate später stellte sich heraus, dass Malik seit mehr als vier Jahren seine eigene Stromrechnung nicht bezahlt hatte«
»Ja, da lobe ich mir unseren neuen Energieminister, Abid Sher Ali. Im April drohte er allen Institutionen, die ihre Rechnung nicht schnellstens bezahlen, den Strom abzustellen. Zwei Tage später gingen im Parlamentsgebäude und im Präsidentenpalast die Lichter aus«, kontert der Journalist. Stirnrunzelnd frage ich den Journalisten, ob es ihm lieber wäre, wenn solche Geschichten in den ausländischen Medien landen würden.
»Nun gut, Werbung für unser Land wäre das zwar auch nicht, aber zumindest würden solche Berichte die eigentlichen Probleme Pakistans auf den Punkt bringen. Noch wichtiger wären Artikel, die zeigen, dass auch in Pakistan ganz normale Menschen leben. Ja, wir haben ein Problem mit Extremisten, aber immer mehr Menschen in Pakistan stehen auf und fordern von der Politik, endlich aktiv zu werden; wie im aktuellen Fall um die Rote Moschee in Islamabad. Wie kann ein Extremist in einer staatlichen Moschee seit Jahren zum Hass gegen Andersdenkende aufrufen, ohne dass die Politik einschreitet? Ich würde mir wünschen, dass man im Ausland auch darüber berichtet. Da reisen unsere Politiker und Generäle durch die Welt und fordern finanzielle Unterstützung im Kampf gegen den Terror, doch zu Hause wird die Zivilbevölkerung völlig alleine gelassen.«