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Interview mit Islam-Gelehrten Maulana Wahiduddin Khan über Indien und Pakistan

»Viele Muslime sind besessen von der Idee der Diskrimierung«

Interview
Interview mit Islam-Gelehrten Maulana Wahiduddin Khan über Indien und Pakistan
Der Maulana Wahiduddin Khan im Osten der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Foto: Florian Guckelsberger

Der Maulana Wahiduddin Khan bezeichnet sich als Friedensaktivist und gehört mit 94 Jahren zu Indiens umstrittensten muslimischen Gelehrten. Im Gespräch fordert er seine Glaubensbrüder auf dem Subkontinent auf, die Opferrolle hinter sich zu lassen.

zenith: Im Vorfeld der Wahlen in Indien wurde viel Hass zwischen den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften im Land geschürt. Wie würden Sie die Beziehung zwischen Muslimen und Hindus in Indien heute beschreiben?

Maulana Wahiduddin Khan: Indien ist multi-religiös und seit jeher herrscht hier eine Kultur der Toleranz. Die Teilung Indiens nach der Unabhängigkeit hat einige Probleme geschaffen, eines davon ist die Angst vor einer durch die Mehrheiten geführten Bewegung gegen die Minderheiten. Mahatma Gandhi und Pandit Jawaharlal Nehru haben das in Indien jedoch verhindert. Leider erkennen die Muslime heutzutage ihre gesellschaftliche Rolle nicht. Deswegen haben sich ihre Denkweisen auch so negativ entwickelt.

 

Welche Rolle spielt die Situation in Kaschmir?

Kaschmir bietet für Indiens Tourismus-Industrie enorme Möglichkeiten. Doch die gewalttätigen Proteste der Kaschmiris hemmen dieses Potenzial. Die Menschen sollten lieber diese Chancen erkennen und entsprechend handeln, anstatt zu protestieren und sich zu beschweren.

 

»Pakistan muss eine politische Strategie nach dem Vorbild von Westdeutschland in der Nachkriegszeit finden«

 

Wie steht es mit Pakistan?

Pakistan und Indien sind Nachbarn und können es sich nicht leisten, Antagonisten zu bleiben. Sie müssen freundschaftliche Beziehungen zueinander aufbauen – in allen Bereichen –, um sich weiterzuentwickeln. Und Pakistan muss eine politische Strategie nach dem Vorbild von Westdeutschland in der Nachkriegszeit finden. Eine andere Option hat das Land nicht.

 

Was genau meinen Sie?

Westdeutschland hat auf Basis dessen gehandelt, was dem Land geblieben war und keine Zeit damit verschwendet, dem hinterher zu trauern, was verloren war. Menschen sind besessen von einer Idee der Totalität. Sie wollen Dinge vollständig erreichen und es widerstrebt ihnen, ihre Ziele nur in Teilen zu erreichen. Aber dieser Gedanke widerspricht der Natur. Die Vergangenheit kommt nicht zurück. Die Führer der Muslime hätten ihrer Gemeinschaft genau das aufzeigen müssen. Das ist ihnen nicht gelungen und deswegen ist viel Zeit verloren gegangen. Die realistische Erfolgsformel für Pakistan lautet: Man kann nicht alles erreichen, sondern muss die Möglichkeit nutzen, die zur Verfügung stehen. Und das bedeutet, sich darauf zu konzentrieren, den eigenen Staat aufzubauen.

 

Interview mit Islam-Gelehrten Maulana Wahiduddin Khan über Indien und Pakistan
Facebook, Youtube, Quora: Wahiduddin Khan ist auf vielen Social-Media-Kanälen aktiv. Seine Ansprachen werden aufgezeichnet, um sie später im Internet zu veröffentlichen.Foto: Florian Guckelsberger

 

2012 haben Sie in einem Interview behauptet, es gäbe keinerlei Diskriminierung von Muslimen in Indien. Sehen Sie das immer noch so?

Ja, das sehe ich immer noch so. Die religiösen Oberhäupter haben die muslimische Gemeinschaft in die Irre geführt. Es stimmt, dass Muslime im Vergleich zu anderen Gemeinschaften rückständig sind. Der Grund dafür ist aber nicht etwa Diskriminierung, sondern mangelnde Bildung. Wenn viele Muslime weiterhin so besessen bleiben von dieser Idee, diskriminiert zu werden, werden sie nie eine positive Rolle einnehmen können. Die Menschen schreien immer sofort »Diskriminierung«, wenn sie Unterschiede sehen. Aber Unterschiede sind nicht etwa schlecht, sie gehören zu jeder Gesellschaft natürlicherweise dazu.

 

Premierminister Narendra Modi steht in der Kritik, den Hindu-Nationalismus und damit die Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften anzuheizen. Die Berichte über Lynchmobs, die Jagd auf Muslime machen, häufen sich. Ist es angebracht, die heutige Situation mit der Zeit vor der Teilung Britisch-Indiens zu vergleichen?

Damals wurden die Briten für die Gewalt verantwortlich gemacht, heute ist es Modi. Als die Briten die Eisenbahn nach Indien brachten, war das für indische Politiker ein Symbol der Unterjochung. Was die Briten uns gebracht haben, habe ich jedoch immer als großen Segen empfunden. Ich habe einen positiven Blickwinkel auf die Dinge. Leider haben die meisten Menschen negativere Ansichten.

 

Pakistan war ursprünglich als sicherer Zufluchtsort für alle Religion gedacht – und hatte den Anspruch, das »bessere Indien« aufzubauen. Warum ist dieser Traum geplatzt?

Weil es ein unnatürlicher Traum war. Muslimen wurde glaubhaft gemacht, dass nationale Einheit auf Religion beruht. Das ist vollkommen falsch. In der modernen Welt ist der Begriff der nationalen Einheit mit einem Heimatland verbunden. Dieses Konzept entspricht vollkommen den islamischen Prinzipien, aber die Muslime verstehen das nicht. Als sie Pakistan gründeten, versuchten sie eine nationale Einheit auf Basis von Religion herzustellen. Das war zum Scheitern verurteilt. Das westliche Verständnis von nationaler Einheit war ein Segen. Die Muslime haben nicht verstanden, dass dieses Prinzip der Welt letztlich Frieden bringen wird und können die Rolle des Westens nicht wertschätzen.

 

»In keinem politischen System sollte man Forderungen auf Grundlage von religiösen Identitäten stellen«

 

Sie haben die Zeit der Teilung miterlebt und sich dazu entschieden, in Indien zu bleiben, anstatt sich in Pakistan niederzulassen. Warum?

Ich bin in Indien geboren und habe nie mit dem Gedanken gespielt, meine Heimat zu verlassen. Diese Überzeugung liegt im Islam begründet: Als der Prophet Mekka verließ und sich nach Medina aufmachte, schaute er zurück und sagte: »Oh Mekka. Du bist mir lieber als jeder andere Ort dieser Erde. Aber deine Einwohner lassen mich hier nicht leben«. Diese Überlieferung sollte die Verbindung des Propheten zu seiner Heimat zum Ausdruck bringen, nicht die Überlegenheit Mekkas.

 

Heute leben in Indien genauso viele Muslime wie in Pakistan. Drängt sich da nicht die Frage auf, wie man die nicht-hinduistischen Minderheiten behandelt?

In keinem politischen System sollte man Forderungen auf Grundlage von religiösen Identitäten stellen. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es unweigerlich Mehr- und Minderheiten. Minderheiten müssen das als Herausforderung sehen und dabei kreativ werden. Nur wenn Muslime das schaffen, können sie eine konstruktive Rolle für ihr Land spielen.

 

Sie werden regelmäßig von konservativeren Islam-Gelehrten kritisiert, vor allem aus Pakistan. Einige Ihrer Büchern wurden verboten. Woher kommt dieser Ärger?

Muslime trennen die Welt in Muslime und Nicht-Muslime. In die »Muslimische Welt« und die »Nicht-Muslimische Welt«. Auch Begriffe wie »Dar al-harb« (Reich des Krieges) oder »Dar al-Kufr« (Reich des Unglaubens) wurden von muslimischen Gelehrten erfunden. Der richtige Begriff lautet »Dar al-Insan« (Reich der Menschheit). Nach den Lehren des Islam gibt es nur eine Gegenüberstellung – die von Menschen und Gott, und nicht die von Muslimen und Nicht-Muslimen. Ich glaube an die Einzigkeit Gottes und an die Einheit der Menschheit. Ich habe mit dieser Trennung zwischen Menschen und Gott gebrochen und für diejenigen, die das islamische Konzept zu diesem Thema missverstanden haben, ist das inakzeptabel.

 

»Muslime sind keine Repräsentanten des Islam. Wer wissen will, was der Islam wirklich ist, muss auf den Koran und die Sunna schauen«

 

Ihr erklärtes Lebensziel ist es, das Bild vom Islam als friedliche Religion zu fördern. Trotzdem scheinen immer mehr Menschen Angst vor Muslimen zu haben. Beunruhigt sie das?

Es beunruhigt mich nicht, weil ich denke, dass es sich hier um ein mediales Phänomen handelt. Heute wird oft nur über eine Auswahl von Ereignissen berichtet. Meiner Meinung nach existiert so etwas wie »Islamphobie« überhaupt nicht – weder im Westen, noch sonst irgendwo auf der Welt. Es liegt eher an den Muslimen, ihre Einstellung gegenüber dem Westen zu ändern. »Islamophobie« war eine von ihnen selbst erfundene Obsession ohne jegliche Relevanz.

 

Sie haben einmal gesagt, dass die Menschen Muslime nicht mit dem Islam gleichsetzten sollten. Meinten Sie damit, dass viele Muslime den Islam überhaupt nicht verstehen oder richtig befolgen?

Muslime sind keine Repräsentanten des Islam. Wer wissen will, was der Islam wirklich ist, muss auf den Koran und die Sunna schauen, nicht auf die muslimische Praxis. Muslime sind letztlich eine Gemeinschaft. Einige mögen der Ideologie des Islam folgen, andere nicht.

 

Sie sind über 94 Jahre alt. Sie betreiben einen YouTube-Kanal, eine Facebook-Seite, einen Podcast und Sie schreiben über Themen wie Islam und dem Klimawandel. Was treibt Sie an?

Ich genieße dieses Alter und ich wachse jeden Tag in meiner Kreativität. Ich habe eine positive Sicht auf die Dinge und das motiviert mich. Ich denke überhaupt nicht daran, in Rente zu gehen. Alte Menschen übertreffen die Jüngeren in ihrer Erfahrung – und die ist unermesslich wertvoll. Heute stellen Unternehmen junge Menschen ein, weil sie einer Routine folgen können, nicht wegen ihrer Kreativität. Alte Menschen können keiner Routine mehr folgen.


Maulana Wahiduddin Khan wurde 1925 geboren und erlebte die Teilung Indiens als junger Mann. Bereits 1949 schloss er sich der Jamaat-e Islami an, sagt sich aber später von der Organisation und deren Gründer Abul A'la Maududi (1903-1979) los. 1970 Gründete Khan das Centre for Peace and Spirituality (CSP) in Neu-Delhi, das er bis heute leitet. Einige seiner Schriften sind in Teilen Pakistans verboten.

Von: 
Florian Guckelsberger

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