Radikale Prediger, Zensur und Ehre der eigenen Familie: Die pakistanische Metropole Lahore ist ein hartes Pflaster für junge Künstler. Wer dennoch nach ihnen sucht, wird staunen.
Fatima hat dem Türsteher Fotos ihrer Eltern in die Hand gedrückt: »Lass sie auf keinen Fall herein.« An diesem Samstag Anfang Februar 2021 ist ihr großer Auftritt, sie tanzt die Hauptrolle in »Mirza Sahiban«, einer tragischen Liebesgeschichte. Die 25-Jährige hat das Stück selbst choreografiert und führt Regie. Diesen Teil hat sie auch ihren Eltern erzählt, doch dass sie selbst tanzt, davon dürfen sie niemals erfahren.
Fatima ist eine von 30 jungen Pakistanerinnen und Pakistanern, die an diesem Abend im Kunstzentrum »The Colony« in Lahore, der zweitgrößten Stadt des Landes, auf der Bühne stehen. Das Zentrum bietet Kreativen einen Raum, der bislang nicht existierte. Der 27-jährige Saad Sheikh gründete »The Colony« im Sommer 2019, musste später fast ein Jahr schließen wegen eines Gebäudewechsels und Covid-19. Erst seit Dezember letzten Jahres finden im Zentrum wieder Theater, Tanz, Gesang und Ausstellungen statt.
Die Auftritte im Kunstzentrum sind nicht für die Augen der breiten Öffentlichkeit gedacht. In »The Colony«, einem Gebäude im Industriestil, verlieren die vielen ungeschriebenen Regeln der Gesellschaft ihre Kraft. Dort gilt: Sprich aus, was du denkst; zieh an, wonach dir ist; bewege dich, wie du möchtest.
Müssten sie höflich sein, würden viele Menschen in Pakistan das Stück von Fatima und ihrer Gruppe als »unmoralisch« bezeichnen – und dabei denken: Huren. Fatima weiß das genau, ihre Tänzerinnen und Tänzer auch, die 150 jungen Menschen im Publikum ebenso. Doch sie alle sind Teil einer neuen Generation, die in den Großstädten des Landes heranwächst, die Aufbruch will statt Konservatismus.
Fatima trägt bereits das Kostüm, einen langen Rock, darunter schwarze Leggins, ein Oberteil liegt eng an ihrem zierlichen Körper an und außer dem Ausschnitt, der knapp unter dem Schlüsselbein endet, ist keine nackte Haut zu sehen. Trotzdem wirkt sie sinnlich, ihre dunklen Locken fallen über die Schultern, schwarzer Lidstrich, die Nägel rot lackiert. Später, im schummrigen Licht auf der Bühne, wird sie dem männlichen Haupttänzer in den Armen liegen und ihre roten Lippen werden den seinen so nah sein, dass das Publikum den Unterschied zum Kuss kaum sehen kann.
Es sind Szenen wie diese, die Fatimas Vater vergangene Nacht dazu brachten, sie mit den Worten: »Zieh aus meinem Haus aus!«, anzuschreien. Fatima aber sieht nichts Unmoralisches in ihrem Tanzstück, deshalb hatte sie ihre Eltern zur Premiere eingeladen, in der extra eine andere Tänzerin die Hauptrolle übernahm. Fatima wollte ihren Eltern zeigen, was sie als Regisseurin kreiert hatte.
Zu Hause stritt sie mit ihrem Vater, den sie als nicht besonders religiös, aber konservativ beschreibt. Er verbot ihr, am nächsten Tag zurückzukehren. Fatima flehte ihn an: »Ich mache alles, was du willst, suche mir einen Mann und ich heirate ihn, aber bitte lass mich morgen raus!«, erzählt sie. Schließlich habe er gesagt: »Ich erlaube es nicht, aber wenn du willst, dann geh.«
Egal wie liberal ein pakistanischer Vater ist, die eigene Tochter tanzend auf der Bühne, das würde kaum einer erlauben. Nähe zu einem fremden Mann würde das Ansehen der Familie verletzen. Der weibliche Körper bewegt sich in Pakistan immer zwischen Ehre und Sünde, ihm obliegt das oberste Gebot der Gesellschaft: »Log kya kahain gay?«, auf Urdu bedeutet das: Was werden die Leute sagen?
Das Stück »Mirza Sahiban«, das Fatima an diesem Abend tanzen wird, hatte der Poet Shayer Pillo bereits in der Mogulzeit im 17. Jahrhundert geschrieben, doch der Inhalt ist aktuell: Die junge Frau Sahiban verliebt sich in Mirza, was ihre Brüder nicht tolerieren und das Paar deshalb töten.
Bis heute werden in Pakistan Frauen von ihren Familien oder Verwandten umgebracht, weil sie sich verlieben oder zum Beispiel tanzend in einem Video zu sehen sind. Human Rights Watch schätzt, dass etwa tausend Pakistanerinnen jedes Jahr Opfer von sogenannten Ehrenmorden werden. Oft geschehen solche Taten auf dem Land, doch auch in den Städten sterben Frauen. Drei Tage vor der Aufführung in der »Colony« titelte eine Tageszeitung: »Mutter zweier kleiner Töchter in Lahore von Verwandten ermordet, weil sie keinen Jungen gebar«.
Im Probesaal übt Fatima gerade mit der Gruppe Teile der Choreografie, als mit einem Ruck die Tür aufgeht. Fatimas jüngerer Bruder platzt mit aufgerissenen Augen herein: »Fatima!«, er streckt ihr ein Telefon hin. Sie tauschen hektisch einige Worte aus, Fatima rennt aus dem Raum, ihr Bruder hinterher. Er ist in der Familie ihr Verbündeter, begleitet sie überall hin, denn Eltern in Pakistan mögen es nicht, wenn Töchter allein unterwegs sind.
Im Nebenzimmer reden mehrere Personen auf Fatima ein, sie umklammert ihren Körper, der sonst gerade, grazile Rücken ist nach vorn gekrümmt. Ihre Mutter hat angerufen, sie habe erfahren, dass sie tanze, jemand im Publikum werde ihr ein Video schicken. Der Bruder sagt zu ihr, wenn die Eltern tatsächlich Bescheid wüssten, spiele es nun keine Rolle mehr, ob Fatima auftrete oder nicht. Sie starrt ins Leere, bleibt einen Moment still, dann sagt sie bestimmt: »Ich werde auftreten. The show must go on.«
Als sie die Tür zum Probesaal öffnet, jubelt ihre Gruppe. »Betet für mich!«, sagt sie zu ihnen. Sofort bilden alle einen Kreis, halten die Handflächen nach oben. »Bismillah«, im Namen Gottes, fangen sie an, dann rufen sie gute Wünsche aus, immer lauter schreien sie sich die Angst vom Leib.
In Pakistan gibt es unzählige Meinungen darüber, welche Art des Islams die richtige sei, oft herrscht darüber selbst innerhalb der Familie Uneinigkeit. Über 95 Prozent der pakistanischen Bevölkerung sind Muslime, mehrheitlich Sunniten, die Religiosität ist im Vergleich zu anderen islamischen Ländern hoch.
Konservativ-religiöse Kleriker gehören zu den Gegnern der jungen Kreativen in »The Colony«, doch dadurch lassen sie sich nicht von ihrem Glauben entfremden. Saad Sheikh, tätowierte Ringe am Oberarm, Smartwatch, dunkelroter Schal um die Schultern drapiert, sagt: »Mein Allah ist zu offen und zu groß, als dass mein Islam klein und verschlossen sein kann.«
20 Uhr, kurz vor Showbeginn. Junge Menschen sitzen dicht gedrängt auf Kissen im Saal, alle tragen eine Maske. Mehr Angst als vor dem Coronavirus haben Fatima sowie die meisten Tänzerinnen und Tänzer vor etwas anderem: vor Fotos oder Videos, die in den sozialen Medien landen. Deshalb gilt eine weitere Regel: Handys ausschalten. Das Risiko bleibt, das weiß die Tanzgruppe, doch sie vertraut darauf, dass alle im Raum an diesem Abend Komplizinnen und Komplizen sind, die diese Oase der Freiheit schätzen und schützen.
Als Fatima die Bühne zu rhythmischer Musik der Band betritt, schaut sie ganz kurz verunsichert ins Publikum, nach einigen Sekunden entspannen sich ihre Gesichtszüge. Die männliche Hauptrolle tanzt Ibrahim Rana, 27, dessen Eltern ihn im Gegensatz zu den meisten anderen unterstützen, da er aus einer Künstlerfamilie stammt. Viele Eltern seiner Kollegen sind weniger verständnisvoll, auch für pakistanische Männer gilt Tanzen als unmoralisch.
Dabei blickt der Subkontinent auf eine lange Tradition des Tanzens zurück, einst wurden Frauen als respektierte Künstlerinnen angesehen, wenn sie an den königlichen Höfen auftraten. Als der Militärdiktator Zia-ul-Haq gegen Ende der 1970er Jahre Pakistan islamisierte, verbannte er viele Formen der Kunst und Unterhaltung, Tänzerinnen mussten in den Untergrund. Bis heute sind fundamentalistisch geprägte Gruppen eine starke soziale Kraft im Land, die mit Massenprotesten ganze Stadtteile lahmlegen können und die eine Liberalisierung von Gesellschaft und Kultur bekämpfen.
Fatima wirft Rana verführerische Blicke zu, mal streicht sie sich sanft über die Schulter, mal wirbelt sie herum, immer schneller, ihr Rock und die Haare fliegen durch die Luft, sie strahlt. »Ich bin am allermeisten ich selbst, wenn ich auf der Bühne tanze. Es ist, als ob in diesem Moment niemand in dieser Welt Kontrolle über mich hat«, sagt sie.
»Jedes Wort kann draußen gegen dich verwendet werden, deshalb nutzen wir diese Bühne und drücken alles aus, was wir und die Leute im Publikum nicht aussprechen können«, sagt Ibrahim Rana. Wenn er und Fatima sich beinahe küssen, geht ein Raunen durch das Publikum, manche klatschen oder jubeln. Rana probt parallel für ein Theaterstück über Lust und Verführung. »Sex ist das normalste der Welt, also sollten wir es auch thematisieren«, sagt er.
Tabuthemen gebe es auf der Bühne kaum, sagt »The Colony«-Gründer Saad Sheikh. Sie seien aber vorsichtig, weder die Religion noch das Militär offen anzugreifen. Was sie aufführten, fänden viele moralisch verwerflich, doch alles sei legal. Vor einigen Jahren organisierte er einen Flashmob in der Altstadt von Lahore, Frauen tanzten zu Beyoncés Zeilen: »Who run the world? Girls!« Das Video davon ging viral, danach drohte ihm jemand am Telefon, seinen Kopf abzuschneiden. »Ich glaube daran, in einer Demokratie zu leben, und das bedeutet, dass nicht alle miteinander übereinstimmen müssen, aber wir sollten nebeneinander existieren dürfen«, sagt er.
Viele junge Pakistanerinnen und Pakistaner wollen das Land verlassen. Auch Fatima hat schon darüber nachgedacht, doch sie will bleiben. »Wenn alle Künstler und Denker gehen, wer bleibt dann, um das Land zu retten?«, fragt sie. »Tanzen ist für mich auch eine Form von Widerstand.« Saad sagt, er bleibe, weil er für die Jugend Möglichkeiten schaffen möchte, die er selbst nicht hatte.
Die Show ist zu Ende, im Raum hinter der Bühne jubeln die Tänzerinnen und Tänzer, fallen sich erleichtert in die Arme. Fatima weiß: Ihre Eltern würden sie nicht umbringen, wie das andere, konservativere und vielleicht weniger gut gebildete Eltern täten, selbst wenn sie ein Tanzvideo von ihr sähen. Die Strafen wären hart, sagt sie, sie dürfte wahrscheinlich das Haus für lange Zeit nicht mehr verlassen, Handy weg, keinen Kontakt zur Außenwelt.
Doch Angst um ihr Leben hätte sie nicht. »Ich glaube, meine Mutter wollte mir nur Angst machen, ich werde einfach alles abstreiten«, sagt Fatima. Und sie wird recht behalten. So betritt sie auch am nächsten Abend wieder die Bühne und tanzt.