Unter dem Schutz der Taliban betreibt Herr Haqqani hier eine lukrative Waffenschmiede. Ansonsten scheint es, als seien die Mächtigen sehr weit: ein Besuch im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet.
Mufti Ibrahim Haqqani sitzt in seinem Waffenladen in Dera Adam Khel und betet. Die Geschäfte mit Nachbauten von halbautomatischen Pistolen der Marken Sig Sauer und Glock laufen zwar gut, doch Haqqani steht vor einer ungewissen Zukunft. Dabei sind Waffen im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan allgegenwärtig.
In Dera Adam Khel liegt einer der bekanntesten Waffenmärkte der Region. Von hier organisierten die Mudschaheddin ihren Widerstand gegen die Sowjets, später rüsteten sich die afghanischen Taliban für ihren Kampf gegen die pro-westliche Regierung in der afghanischen Hauptstadt Kabul.
Dera Adam Khel liegt zentral im Kerngebiet der Paschtunen, die auf beiden Seiten der Grenze leben. Die Briten zogen hier einst willkürlich die Durand-Linie quer durch deren Siedlungsgebiet, heute bildet sie die Staatsgrenze zwischen Pakistan und Afghanistan.
Bis 2018 lag die Stadt in den sogenannten Federal Administered Tribal Areas (FATA), die einst vom britischen Empire als Pufferzone eingerichtet wurde. Das koloniale Erbe setzte sich hier fort. Denn die sieben Stammesagenturen wurden bis dahin von der pakistanischen Regierung dank eines umstrittenen Gesetzes aus der britischen Kolonialzeit direkt verwaltet. Diese Konstellation enthielt den über vier Millionen Einwohnern weitreichende Bürgerrechte vor. Stattdessen diente der traditionelle paschtunische Ehrenkodex Paschtunwali als gesellschaftlicher Kompass.
Die von Paschtunen dominierten Taliban und andere militante Gruppierungen fanden so sicheren Unterschlupf in den abgelegenen Stammesgebieten. Hohe Arbeitslosigkeit, erbitterte Armut, Drohnenangriffe aus dem Ausland und jahrelange Diskriminierung als Bürger zweiter Klasse trieben die Bewohner der FATA immer weiter in die Hände der Extremisten. Erst 2018 schaffte die pakistanische Regierung die Stammesgebiete offiziell ab und integrierte sie stattdessen in die Provinz Khyber-Pakhtunkhwa.
Für den berühmten Waffenmarkt hatte dies handfeste Auswirkungen. Zumindest in der Theorie. Denn war der Waffenhandel in den Stammesgebieten kaum reguliert, gelten in den pakistanischen Provinzen eigentlich strenge Gesetze.
Doch so ganz ist die neue politische Realität noch nicht in Dera Adam Khel angekommen. Das Angebot auf dem einst zwei Kilometer langen Markt ist zwar überschaubarer geworden, doch noch immer bieten Händler wie Mufti Haqqani ihre Ware feil; lernen schon Kinder, wie man schießt.
Dass nun im August 2021 die Hauptstadt Afghanistans nach 20 Jahren internationaler Intervention wieder in die Hände der Taliban fiel, macht die Situation noch komplizierter. Denn die pakistanische Regierung unterstützte die afghanischen Taliban aus strategischen Gründen, ebenso das mit ihnen verbündete, aber nicht deckungsgleiche Haqqani-Netzwerk, zu dem auch Mufti Haqqani gehört. Gleichzeitig bekämpfen sie aber die pakistanischen Taliban erbittert. Obwohl Islamabad offiziell mit dem Westen verbündet war, versprach man sich durch die Unterstützung der afghanischen Taliban mehr Sicherheit im Land.
Dass diese Gleichung aufgeht, ist keineswegs ausgemacht. Seit Mitte 2021 steigt die Gewalt durch Anschläge in Pakistan nach Jahren der relativen Ruhe wieder. Allein im Februar 2022 starben 67 Menschen bei einem Anschlag auf eine schiitische Moschee in Peschawar, der Hauptstadt von Khyber-Pakhtunkhwa. Mehrere Versuche der pakistanischen Regierung, einen Frieden mit den pakistanischen Taliban zu schließen, scheiterten bisher.
Lichter aus. Bei Nacht bringt ein Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern eine Handvoll junger Männer zum Junggesellenabschied in einen Vorort von Kohat, ein paar Kilometer von Dera Adam Khel entfernt. Sie steigen vor einer Bauruine aus. Zwei Wachen an der Tür schielen hinüber und sammeln die Handys ein: Fotos unerwünscht. Was die Entourage des Bräutigams unten im Keller erwartet, soll im konservativen pakistanischen Hinterland geheim bleiben. Unter erwartungsvollen Blicken bringt ein Dorfältester drei Bauchtänzerinnen in den schummrigen Raum.
Dieselbe Festgemeinschaft am Tag: Einige der jungen Männer wollen den freudigen Anlass mit einem Stakkato an Salven begehen – fast jeder hier besitzt zumindest eine Handfeuerwaffe. Die Älteren im Ort sind wenig begeistert von diesen Ritualen: Querschläger bergen immer die Gefahr, unbeabsichtigt jemanden zu verletzen oder zu töten. Zudem ruft der Lärm ein paar Jungs aus dem benachbarten Viertel auf den Plan, die das Freudenfeuer ihrerseits mit Schüssen in die Luft aus ihren halbautomatischen Gewehren beantworten.
Währenddessen im Waffengeschäft von Mufti Ibrahim Haqqani: Die Geschäfte laufen gut. Die Taliban gehören zu seinen besten Kunden – auch auf pakistanischer Seite der Grenze.
Zurück beim Junggesellenabschied: Fast so, als hätten sie noch nie eine Frau gesehen, starren die jungen Männer auf die Bauchtänzerinnen. Sie sind schüchtern, blicken gleichermaßen fasziniert und verunsichert auf die drei Frauen. Während sich die Teetassen leeren, wird die Stimmung immer ausgelassener. Bald lassen sowohl Bauchtänzerinnen als auch Junggesellen die Hüften schwingen.
Pistolenrohlinge in der Waffenmanufaktur von Ibrahim Haqqani. Trotz seines geschäftlichen Erfolgs ist die Anspannung ständiger Begleiter des Klerikers. Haqqani fürchtet nicht nur um das eigene Leben, sondern auch um das seiner Angehörigen. Deshalb übt er seine Kinder schon früh in dem Umgang mit Waffen.
Denn Haqqani ist zwar ein anerkannter Rechtsgelehrter in Dera Adam Khel. Doch die Prominenz seines Namens macht ihn auch zur Zielscheibe. Einer seiner Verwandten, Sirajuddin Haqqani, ist seit 2021 Innenminister von Afghanistan. Auf beiden Seiten der Grenze wird die Hierarchie innerhalb des Clan-Netzwerk nun neu geordnet.
Der Abend nähert sich dem Ende. Zu freizügig darf es dann doch nicht werden – auch beim Junggesellenabschied tragen die Tänzerinnen unter dem Kostüm schwarzes Fleece und Leggings.