Nach der Machtergreifung in Kabul haben die Taliban die Grenzen entlang der Durand-Linie immer noch nicht akzeptiert. Das Konzept eines »Paschtunistan« reicht bis in die Kolonialzeit – und so werden die Taliban zur strategischen Gefahr für Pakistan.
Mobin Khan gehört zu den wohl präsentesten Gesichtern des neuen Taliban-Regimes. Besonders in den Sozialen Medien ist der frühere Sprecher der Taliban-Sicherheitskräfte von Kabul aktiv – und zeigt sich dort als Anhänger eines paschtunischen Nationalismus. Für Aufsehen sorgt er vor allem mit seinen Tiraden gegen Pakistan. Der vorläufige Höhepunkt: Eine Reihe von Tweets im Herbst, inklusive einer Karte der Nachbarschaft in der Region, versehen mit der Überschrift: »Das ist mein Land. Es gibt keinen Tag der Ruhe, solange diese Pläne nicht vollendet sind.«
Diese Grenzen umschließen auch Gebiete, die zu Pakistan gehören: Khyber Pakhtunkhwa, Belutschistan, Waziristan und Kaschmir (allerdings nicht die von Indien kontrollierten Teile Kaschmirs oder das indische Unionsterritorium Ladakh). Die vom Taliban-Offiziellen beanspruchten Ländereien entsprechen den Gebietsansprüchen eines Loy Afghanistan – Paschtu für »Groß-Afghanistan«: ein Staat zwischen den Flüssen Amu Darja und Indus. Paschtunische Nationalisten sehen darin eine Wiederherstellung historisch gültiger Grenzen.
»Ich akzeptiere weder Durand noch Gandamak«, heißt es in einem Lied des Sängers Gilaman Wazir, der selbst aus Nord-Waziristan stammt, das zu Pakistan gehört. Die Textzeile bezieht sich auf den Vertrag von Gandamak sowie die Durand-Linie und damit auf den Verlust von paschtunisch besiedelten Gebieten infolge des Zweiten Anglo-Afghanischen Kriegs Ende des 19. Jahrhunderts.
Machtsicherung und Grenzziehung gingen für Abdurrahman Khan Hand in Hand
Schon als die Taliban das erste Mal zwischen 1996 und 2001 an der Macht waren, haben sie die Durand-Linie offiziell nie anerkannt. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch: Die Taliban sind bei weitem nicht die erste Bewegung, die sich für die Überwindung der kolonialen Grenzziehungen einsetzt, die die paschtunischen Siedlungsgebiete trennt. Und sie ist ebenso wenig die erste Bewegung, die Afghanistan als paschtunisches Land definiert. Tatsächlich ist dieses Phänomen eng mit der Entstehung des modernen Nationalstaates Afghanistan verknüpft.
Infolge des Zweiten Anglo-Afghanischen Kriegs konkurrierten verschiedene Mitglieder der herrschenden Barakzai-Dynastie um die Macht im 1823 gegründeten Emirat. In Kabul regierte Abdurrahman Khan. Während sein Cousin Ayub Khan über Herat herrschte, kontrollierten die Briten immer noch Kandahar und Umgebung. Zu dieser Zeit war Afghanistan ein fragiles Gebilde, das kaum als eigenständig agierender Staat bezeichnet werden konnte.
Machtsicherung und Grenzziehung gingen für Abdurrahman Khan Hand in Hand. Nach außen suchte er ein Übereinkommen mit den Briten und einigte sich auf die Demarkierung des Grenzverlaufs. Nach innen konsolidierte er seine Stellung mit harter Hand: Mehr als 40 Revolten soll er niedergeschlagen haben. Ein wichtiger Pfeiler der Machtsicherung: Abdurrahmans Religionspolitik. Er verlieh sich selbst den Ehrentitel »Anführer der Gläubigen« (Amir al-Mu'minin), der in der islamischen Geschichte traditionell dem Propheten Muhammad und seinen Nachfolgern vorbehalten ist und einem von Gott legitimierten Führungsanspruch gleichkommt. Zugleich setzte er der Autonomie der traditionellen religiösen Führer ein Ende und läutete eine Ära der religiösen Intoleranz ein, unter der vor allem nicht-paschtunische ethnische Minderheiten zu leiden hatten. Die nicht-muslimischen Nuristani in Khyber Pakhtunkhwa wurden zwangskonvertiert, tausende schiitische Hazara fielen den Pogromen zwischen 1888 und 1893 zum Opfer.
Es tun sich viele Parallelen auf zwischen dem »Eisernen Emir« und den Taliban
Es tun sich also viele Parallelen auf zwischen dem »Eisernen Emir« und den Taliban. Der wichtigste Unterschied: Abdurrahman gehörte zu den Architekten der Durand-Linie – selbst wenn seine Nachfolger die Grenzziehung ablehnten. Sein Enkel Amanullah Khan erreichte die Unabhängigkeit des Königreichs Afghanistan 1926 so nur unter der Bedingung, die Durand-Linie zu akzeptieren. Dafür setzte er im Innern einen demografischen Wandel in Gang, in dessen Verlauf immer mehr Paschtunen in nicht-paschtunischen Gebieten angesiedelt wurden.
Die Taliban setzen, nachdem sie abermals an die Macht gelangt sind, diesen Kurs weiter fort. Tötungen und Zwangsvertreibungen von Nicht-Paschtunen sind seit Sommer 2021 wieder an der Tagesordnung. Besonders im Fadenkreuz stehen wieder die Hazara in Zentralafghanistan, aber auch Tadschiken und Usbeken im Norden des Landes.
Wieder einmal lassen sich Kontinuitäten ausmachen – auch zur Politik des Vorgängerregimes. So riefen etwa die Übervorteilung paschtunischer Bewerber bei den landesweiten Uni-Aufnahmeprüfungen ebenso Widerstand und Proteste gegen die Regierung von Präsident Aschraf Ghani hervor wie die Planung umfangreicher Elektrifizierungsprojekte, die die zentralafghanischen Siedlungsgebiete der Hazara außen vor ließen. Sogar die eigenen Streitkräfte ließ die Regierung Ghani im Kampf gegen die Taliban im Stich – wohl aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten der paschtunischen Mehrheit.
»Die Taliban sind zwar Dschihadisten«, sagt Ferdaws Kawisch. »Aber rassistische Denkmuster sind ebenso Teil ihres Glaubenssystems«, ist der Journalist überzeugt, der bis zur Machtübernahme der Taliban mit Hasht-e Subh eine der größten unabhängigen Tageszeitungen Afghanistans leitete. »Als reine Muslime erachten die Taliban nur Paschtunen, die nach ihrer Pfeife tanzen.«
Die Sicht auf den Grenzverlauf belastet die bilateralen Beziehungen seit Jahrzehnten
Auf Resonanz stößt der paschtunische Nationalismus aber nicht nur in Afghanistan, wo er seit jeher die Stellung die größten Bevölkerungsgruppe weiter ausbaut. Sondern auch jenseits der Durand-Linie, schließlich sehen sich die Paschtunen in Pakistan von der Regierung in Islamabad oft genug vernachlässigt oder diskriminiert. 2014 entstand so die die Paschtunische Tahafuz-Bewegung (PTM). Als deren Anhänger 2018 gegen die pakistanische Regierung demonstrierten, erhielten sie Rückendeckung aus Kabul: »Auf dieser Seite (der Grenze) oder auf der anderen: Wir sind alle Afghanen«, ließ Präsident Aschraf Ghani verlautbaren. Sehr zum Unmut des pakistanischen Außenministeriums, das umgehend mitteilen ließ, dass man sich derlei Einmischung in innere Angelegenheiten verbitte.
Die Sicht auf den Grenzverlauf belastet die bilateralen Beziehungen seit Jahrzehnten. Seit der Gründung des unabhängigen Staates Pakistan 1947 hat jede afghanische Regierung es vermieden, die Durand-Linie offiziell anzuerkennen. Allerdings hat Kabul seine Gebietsansprüche auch nie vor ein internationales Schiedsgericht getragen. Dass die sogenannten Nordwestprovinzen (NWFP) des britischen Raj heute als Khyber-Pakhtunkhwa zu Pakistan gehören, ist auch das Ergebnis eines Referendums im Jahr 1947. Zur Auswahl standen allerdings nur Pakistan und Indien, nicht Afghanistan – folglich boykottierten die meisten paschtunischen Führer die Abstimmung. Diese historische Konstellation ebenso wie die politischen Spannungen der Gegenwart sorgen dafür, dass paschtunische Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen in Khyber Pakhtunkhwa auf Zustimmung stoßen.
Davon profitiert seit Jahrzehnten vor allem die Tehrik-i-Taliban Pakistan. Der pakistanische Ableger der Taliban hat die Errichtung eines islamischen Emirats an der Südgrenze Afghanistans als Ziel ausgerufen. Islamabad sieht die Rückkehr der Taliban in Kabul als Erfolg seiner Politik an, im Nachbarland eine wohlgesonnene Marionettenregierung an die Macht zu bringen. Kontinuierlich unterschätzt wird dabei die Bedrohung, die von der Taliban-Bewegung insgesamt für die Sicherheit Pakistans ausgeht.
»Die Taliban mögen Pakistans Interessen in der Region dienlich sein, aber Islamabad kann die pakistanischen Taliban nicht daran hindern, von afghanischem Boden aus gegen Pakistan vorzugehen«, glaubt Ferdaws Kawisch. Pakistans langfristige Strategie, eine Organisation aufzubauen, die endlich die Durand-Linie akzeptiert, ist schlichtweg gescheitert. Und die Taliban haben deutlich gemacht, dass sie unabhängig von ihrer dschihadistischen Ideologie sich weiterhin als Sachwalter eines paschtunischen Nationalismus sehen.