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Gaza-Krieg und Regierungskrise in Israel

Der Gantz-Rücktritt und seine Folgen

Analyse
Gaza-Krieg und Regierungskrise in Israel
Screenshot Youtube

Tausende Israelis demonstrierten am Samstag erneut für einen Regierungswechsel. Gleichzeitig verlässt Minister Benny Gantz die Notstandsregierung. Warum Israel trotzdem nicht aus der politischen Sackgasse kommt.

»Wir werden gemeinsam demonstrieren«, das verkündete Benny Gantz, der Vorsitzende der Partei HaMachane HaMamlachti (zu Deutsch »das Staatslager«), am 9. Juni während einer Pressekonferenz. Der ehemalige Generalstabschef verkündete den Wechsel der Partei von der Notstandsregierung in die Opposition und seinen Rücktritt aus dem Kriegskabinett. Statt die Regierung weiter zu stützen, ist das erklärte Ziel der Mitte-Rechts-Partei nun deren vorzeitiges Ende.

 

Wenige Tage nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober hatten sich Premierminister  Benjamin Netanyahu und Parteichef Benny Gantz auf die Bildung einer gemeinsamen Notstandsregierung geeinigt. Sie sollte Einheit und Sicherheit ausstrahlen, aber auch den Einfluss der rechtsradikalen Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich schmälern. Im Rahmen der Einigung riefen Netanyahu und Gantz das fünfköpfige Kriegskabinett ins Leben, um Ben Gvir und Smotrich zu umgehen, die im eigentlich zuständigen Sicherheitskabinett vertreten sind.

 

Als Reaktion auf den Rücktritt forderte der für Anstiftung zum Rassismus verurteilte Polizeiminister Ben Gvir prompt einen Sitz am Tisch des Kriegskabinetts. Zur Irritation aller unterzeichnete der rechtsradikale Minister den Brief, in dem er seine Forderungen darlegt, mit »Verteidigungsminister Itamar Ben Gvir«. Diese Position bekleidet allerdings weiterhin Netanyahus Parteikollege Yoav Gallant. Ihm warf Ben Gvir in der Vergangenheit vor, eine »unterwürfige Linie« im Gaza-Krieg zu vertreten und forderte dessen Entlassung.

 

Die in eine Grußformel gepackte Provokation steht symbolisch für eine ständig zerstrittene Regierung. Zudem stechen Minister Zitate und Aufnahmen dieser Konflikte in bisher ungekanntem Ausmaß an die Presse durch.

 

Auch aus diesem Grund warfen viele Demonstrierende Gantz und seiner Partei vor, die Regierung Netanyahu am Leben zu erhalten und ihr so einen restlichen Hauch internationalen Ansehens zu garantieren. Auf den Straßen des Landes fordern bereits seit vielen Wochen Tausende einen Regierungswechsel. So auch diesen Samstagabend nach Ende des Schabbats. Die Protestierenden blockierten Straßen, trotzten Wasserwerfen und stellenweise auch Polizeigewalt. Sie riefen: »Ein Abkommen, jetzt!«, forderten »Die Rückkehr aller, jetzt!« und wollen vor allem: »Wahlen, jetzt!«.

 

Das Wörtchen »Jetzt« ist aus der israelischen Protestkultur nicht wegzudenken

 

Das Wörtchen »Jetzt« ist aus der israelischen Protestkultur nicht wegzudenken. Der Ursprung geht zurück auf die Organisation Shalom Achshav, zu Deutsch »Frieden, jetzt«. Mitglieder der israelischen Friedensbewegungen gründeten sie im Jahr 1978. Seitdem nutzen viele Protestgruppen das bekannte Rezept: Forderung + Jetzt. Teilweise verwenden Protestierende auch weiterhin die für jeden Israeli sofort erkennbare Schriftart der Bewegung »Frieden, jetzt«.

 

Jedoch waren die letzten Wochen von einer Stimmung gekennzeichnet, die mit der Dringlichkeit von »Jetzt!« nichts zu tun hat. Die Verhandlungen für ein weiteres Abkommen mit der Hamas ziehen sich seit Wochen hin – ohne erkennbares Ende und Ergebnis. Einen Plan für den »Tag Danach«, also den Wideraufbau des Gazastreifens und dessen Regierung, gibt es weiterhin nicht. Die vom Obersten Gerichtshof geforderte Einigung im Streit um die Integration der Haredim, also streng religiösen jüdischen Bevölkerung, in den Wehrdienst wirkt nach wie vor utopisch. In Israel hatte man das Gefühl festzustecken, in jeglicher Hinsicht.

 

Zu dieser Einsicht gelangte auch Benny Gantz, als er Benjamin Netanyahu vor circa drei Wochen mit einem Ultimatum konfrontierte. Er verlangte vom Premierminister unter anderem einen Plan für die Situation im Gazastreifen, eine Lösung der Wehrpflichtfrage und intensivere Bemühungen für ein Abkommen mit der Hamas. Stichtag des Ultimatums: der 8. Juni.

 

Doch Gantz und seine Partei sagten die Pressekonferenz zuerst im Zuge der erfolgreichen Befreiung von vier israelischen Geiseln – im Zuge derer die israelischen Streitkräfte hunderte palästinensische Zivilisten töteten – am Samstagmittag ab. Manche befürchteten bereits, dass der Minister, wie bereits während der Haushaltsverhandlungen im Sommer 2020, die Konsequenzen eines Ultimatums gegenüber Netanyahu erneut nicht zieht. Doch um den Spekulationen den Wind aus den Segeln zu nehmen, verlautbarte Gantz, dass sich die strategische Gesamtlage, trotz Rückkehr der vier Geiseln, nicht verändert habe.

 

Gantz wandte sich persönlich an den Verteidigungsminister und nun ehemaligen Kabinettskollegen Yoav Gallant

 

An diese Argumentation knüpfte er in seiner Rücktrittsrede an und warf dem Premierminister vor, einen »echten Sieg« zu verhindern. Mit dieser Wortwahl grenzt sich Gantz bewusst von Netanyahus Mantra eines »totalen Sieges« ab. Ein »echter Sieg« zeichnet sich laut Gantz auch dadurch aus, dass er die Rückkehr der Geiseln vor die Zerstörung der Hamas priorisiert. Außerdem plädiert der 65-Jährige dafür, die historische Möglichkeit zu ergreifen, die Beziehungen mit Saudi-Arabien unter amerikanischer Vermittlung zu normalisieren und somit eine gemeinsame Achse gegen Iran zu formieren.

 

Obwohl Gantz in seiner Rede ebenfalls Wahlen für den Herbst dieses Jahres forderte, steht der Zerfall der Regierung nicht unmittelbar bevor. Die in Teilen rechtsextreme Koalition verfügt weiterhin über eine stabile Mehrheit von 64 Mandaten. Eine Gegenmehrheit für den bereits vorliegenden Antrag auf Auflösung der Knesset müsste die Opposition erst noch mühevoll herbeiverhandeln.

 

Einen ersten öffentlichen Schritt in Richtung neuer Mehrheiten machte Gantz schon während seiner Rede am Sonntagabend. Er wandte sich persönlich an den Verteidigungsminister und nun ehemaligen Kabinettskollegen Yoav Gallant. Sie kennen und schätzen sich seit Jahren, führte Gantz aus, und seine Wertschätzung für ihn sei seit dem Ausbruch des Krieges nur gewachsen. »Tu das Richtige«, beschwor Gantz den Likud-Minister. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass dieser Aufruf mindestens fünf Mitglieder der rechtesten Regierung in der Geschichte des Landes dazu motiviert, offen gegen Netanyahu zu rebellieren und gemeinsam mit linken und arabischen Parteien für die Auflösung der Knesset zu stimmen.

 

Für einen kurzen Moment schien Israel in Bewegung. Vier Geiseln kehrten zurück und Zehntausende fluteten geeint im Wunsch nach Veränderung die Straßen. Benny Gantz bekundete voller Pathos gegenüber Israels Bürgerinnen und Bürgern nichts Geringeres als seine Bereitschaft, »für Ihre Kinder zu sterben«. Doch vorerst bleiben Slogans wie »Wahlen, jetzt!« weiterhin nur der fromme Wunsch vieler. Stattdessen steckt Israel vorerst wieder fest.

Von: 
Ignaz Szlacheta

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