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Interview mit Anatol Lieven zu Afghanistan und den Taliban

»Afghanistans Regierung könnte schnell kollabieren«

Interview
von Leo Wigger
Afghanistans Präsident Aschraf Ghani
Afghanistans Präsident Aschraf Ghani U.S. Secretary of Defense

Die Vorbereitungen für Friedensverhandlungen laufen auf Hochtouren – die Offensive der Taliban ebenfalls. Im Interview bringt der britische Afghanistan-Experte Anatol Lieven Ordnung in die Flut der Hiobsbotschaften.

zenith: US-Verteidigungsminister Mattis war jüngst in Kabul, Russland lädt auch die Taliban zu neuen Friedensgesprächen nach Moskau ein, ebenso sollen sich US-Diplomaten in Katar mit Taliban-Emissären getroffen haben. Gleichzeitig fegt eine neue Welle der Gewalt über das Land – und die Taliban entreißen der Regierung immer mehr Gebiete. Was geht in Afghanistan vor sich und lassen die vielen, teils widersprüchlichen Meldungen vom Hindukusch ein Erklärungsmuster erkennen?

Anatol Lieven: Die Ausgangslage hat sich eigentlich nicht verändert und alles, was in den vergangenen Wochen geschehen ist, bestätigt mich in dieser Einschätzung. Der Angriff der Taliban auf Städte wie Ghazni ist natürlich keine gute Nachricht, aber auch keine Katastrophe. Die Taliban haben es bislang nie geschafft, nach solchen Eroberungszügen größere Städte dauerhaft zu halten.

 

Es ist also zu erwarten, dass die Gegenden, die die Taliban unter ihre Kontrolle gebracht haben, bald wieder an die Regierungstruppen fallen?

Nein, zumindest nicht auf dem Land. Denn egal, wieviel Unterstützung die afghanischen Streitkräfte von den Amerikanern bekommen, werden sie erstens die Taliban nie besiegen und zweitens einige Landstriche nicht mehr zurückerobern können. Das wird einfach nicht passieren. Und ohne amerikanische Waffenhilfe würde die afghanische Armee im Übrigen sofort zusammenbrechen, weil sie vollständig, bis auf den letzten Cent, von den USA finanziert wird. Entweder wird dieser Krieg ewig so weiterlaufen – und das würde bedeuten, dass die US-Truppen auf unbestimmte Zeit im Land stationiert bleiben müssen. Oder die Kriegsparteien lassen sich auf einen Kompromiss ein.

 

Wie stehen die Bedingungen dafür im Land?

Bislang beschränken sich Gespräche auf Kleinigkeiten. Einen detaillierten Entwurf für einen Friedensplan bleiben die Taliban schuldig. Ebenso hat die Regierung den Taliban noch kein Angebot unterbreitet, das wirklich Unterstützung findet.

 

Gäbe es denn genug Druck von außen, um auf einen Friedensschluss zu drängen?

Die Dynamik der Supermächte in Zentralasien ist mittlerweile sehr viel komplizierter als früher, als es noch mehr oder weniger eine bipolare Auseinandersetzung war. Heute flammt nicht nur die amerikanisch-russische Rivalität wieder auf, sondern ebenso Washingtons Spannungen mit China und Iran. Auch die Rolle Indiens und Neu-Delhis schwieriges Verhältnis zu Pakistan und China müssen hier berücksichtigt werden.

 

Ganz konkret könnten die Taliban den Russen zum Beispiel anbieten, gegen den afghanischen Ableger des sogenannten Islamischen Staates (IS) vorzugehen

 

Was verspricht sich Russland in Afghanistan?

Die Russen sehen in Afghanistan eine Realität, die sich nicht wegwünschen lässt und auf die man Antworten finden muss. Sie wissen, dass die Taliban nicht einfach verschwinden werden und dass man sich irgendwann mit ihnen arrangieren muss. Und sie sind sicher, dass die Taliban auf kurz oder lang sowieso an einer Regierung beteiligt sein werden. Allerdings möchte Moskau um jeden Preis ein Afghanistan unter Taliban-Kontrolle wie in der 1990er Jahren verhindern, das die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien destabilisieren oder die bewaffneten Konflikte im Nordkaukasus wieder anfachen könnte.

 

Moskau will die Taliban einhegen?

Die Taliban haben den Russen in dieser Hinsicht wohl schon Zugeständnisse signalisiert. Dabei beriefen sie sich auf Aussagen von Mullah Omar …

 

… der frühere Taliban-Führer, der 2013 starb …

… demnach sich die Taliban nicht als internationalistische Dschihadisten sehen und Kämpfern keinen Unterschlupf mehr gewähren wollen, die eine Bedrohung für die Nachbarländer darstellen. Ganz konkret könnten die Taliban den Russen zum Beispiel anbieten, gegen den afghanischen Ableger des sogenannten Islamischen Staates (IS) vorzugehen, zumal Russland den IS als die größte externe terroristische Gefahr einstuft.

 

Zugleich steht auch Zentralasien im Schatten der Rivalität zu den USA.

Die Russen wollen, dass die Amerikaner und ihre Militärstützpunkte aus der Region verschwinden. Deswegen drängen sie auf eine Verhandlungslösung, die ihnen zusichert, dass die US-Basen in Afghanistan dichtgemacht werden.

 

Was haben die Taliban den Russen sonst noch anzubieten?

Die Taliban haben versprochen, dem Drogenanbau und -handel ein Ende zu setzen, sollten sie an die Macht kommen. Das einströmende Heroin hat gerade in Russland und Iran verheerende Auswirkungen.

 

Wenn die US-Regierung also tatsächlich einen Militärschlag anordnen oder einen Regimewechsel forcieren sollten, wäre es ein Leichtes für Teheran, die Taliban mit schweren Waffen zu versorgen

 

Iran ist also bereit, mit den Taliban in Verhandlungen zu treten?

Grundsätzlich wollen die Iraner die Taliban eigentlich nicht an der Macht sehen. Aber sie könnten sich zu einem Arrangement durchringen, das von einzigen Ziel geleitet wird: dass die Taliban den Amerikanern größtmöglichen Schaden zufügen. Wenn die US-Regierung also tatsächlich einen Militärschlag anordnen oder einen Regimewechsel forcieren sollten, wäre es ein Leichtes für Teheran, die Taliban mit schweren Waffen zu versorgen, zumal die sowieso schon gegen die US-Truppen Krieg führen.

 

Wie weit reicht die iranische Unterstützung für die Taliban?

In Geheimdienstkreisen kursieren darüber viele Spekulationen. Eine nüchterne Einschätzung ist derzeit schwierig, nicht zuletzt angesichts der anti-iranischen Stimmungslage in Washington und Tel Aviv. Eine meiner britischen Geheimdienstquellen hat es so formuliert: Iran hat die Einrichtung einer Art Korridor in Gang gesetzt, um große Mengen schweren Kriegsgeräts an die Taliban zu liefern, das im Falle eines Angriffs auf Teheran für eine Taliban-Offensive gegen US-Truppen in Afghanistan in Stellung gebracht werden soll. Die Iraner, mit denen ich geredet habe, geben es zwar nicht offen zu, aber geben klar zu verstehen, dass das genau ihrer Sicht auf die Taliban entspricht: ein potenzieller Verbündeter in der Konfrontation mit den USA – aber nur im Falle eines US-Angriffs. Zudem betonen die Iraner, dass ihr traditionelles Allianzgefüge in Afghanistan unverändert bleibt. Dazu gehören die schiitischen Hazara, pro-iranische Kräfte in und um die Stadt Herat sowie, eher allgemein, die persischsprachigen Gemeinschaften, die über ganz Afghanistan verteilt sind.

 

Hat sich nach der Wahl von Imran Khan die Interessenlage des Nachbarn Pakistan verändert?

Nicht wirklich. Imran Khan hat ja wiederholt öffentlich Sympathien für die Taliban erkennen lassen. Die Afghanistan-Politik liegt aber weiterhin in Händen des Sicherheitsapparates, nicht der Regierung. Und dort steht ein Ziel über allem: Indien aus allen möglichen Übereinkünften herauszuhalten und eine indische »Einkreisung« zu verhindern.

 

Khans Vorgänger Nawaz Sharif stand einer Annäherung an die Taliban kritisch gegenüber. Finden die Taliban in Afghanistan nun mehr Gehör in Islamabad?

Sollte ein Abkommen auf dem Tisch liegen, das die Taliban an der Macht beteiligt, wird Pakistan Rückendeckung signalisieren. In keinem Fall wird Islamabad jemals gegen die afghanischen Taliban zu Felde ziehen, das Sicherheitsrisiko wäre einfach zu groß, gerade in und für Pakistan. Und Pakistan wird die Taliban auch nicht in ein Friedensabkommen drängen, das nicht die volle Unterstützung unter den Taliban selber findet. Denn das würde den Krieg nicht beenden, sondern lediglich zu Spaltungen innerhalb der Taliban führen. Und einer dieser Fraktionen könnte sich dann dem IS anschließen. Islamabad muss aber auch auf chinesische Interessen Rücksicht nehmen.

 

Peking will sicherstellen, dass Afghanistan nicht zum Nährboden für Extremismus wird, der in die Provinz Xinjang überschwappen könnte

 

China investiert Milliarden in Infrastruktur-Projekte in Pakistan. Peking hat sich damit auch politisch einen Hebel gesichert, da vor allem der Militärapparat von den chinesischen Investitionen profitiert.

Interessanterweise haben die Chinesen mehr oder weniger die pakistanische Linie übernommen, nämlich dass die Taliban an der Macht beteiligt werden sollten. Allerdings lehnen sie eine Nachkriegsordnung ab, in der die Taliban die dominante Kraft sind, weil sie befürchten, dass diese dann die Unterstützung für die Uiguren hochfahren, wenn sie nicht unter Kontrolle gehalten werden. Peking will sicherstellen, dass Afghanistan nicht zum Nährboden für Extremismus wird, der in die Provinz Xinjang überschwappen könnte. Daneben teilen die Chinesen das russische Ziel, der amerikanischen Militärpräsenz in der Region ein Ende zu setzen.

 

Was steht für die andere regionale Hegemonialmacht Indien auf dem Spiel?

Die Inder sorgen sich in erster Linie um den Einfluss Pakistans in Afghanistan. Sie wollen sicherstellen, dass Terrorgruppen wie Lashkar-e-Taiba dort keinen Rückzugsraum finden, von dem aus Anschläge in Indien geplant werden. Übrigens: Eine Verhandlungslösung mit offizieller indischer Beteiligung wäre aus Sicht Islamabads ein Dealbreaker.

 

Auch für die Amerikaner steht viel auf dem Spiel. Der Druck auf das Pentagon wächst angesichts der schlechten Nachrichten aus Afghanistan. Hat Washington einen Plan?

Viele meiner amerikanischen Kontakte sagen mir im Privaten völlig unumwunden, dass sie einen vollständigen Kollaps der afghanischen Regierung befürchten – eine Wiederholung des schnellen Zusammenbruchs der Verbündeten in Saigon, der den unrühmlichen Rückzug aus dem Vietnamkrieg symbolisierte. Solch ein Szenario würde einen Deal mit den Taliban wohl wahrscheinlicher machen – allerdings nur zu Bedingungen, die es den Amerikanern erlauben, ihr Gesicht zu bewahren und explizite Zusagen der Taliban für den Kampf gegen den IS. Selbst Präsident Trump hat während seines Wahlkampfs Bereitschaft für solch einen Deal durchblicken lassen.

 

Solch ein Deal würde ein Ende der amerikanischen Militärpräsenz in Afghanistan bedeuten.

Die Frage ist, ob ein ausreichend großer Teil der US-Militärführung die Stützpunkte in Afghanistan halten will – insbesondere im Hinblick auf strategische Bedrohungen durch China, Russland und Iran. Wenn das die höchste Priorität genießt, erscheint ein Deal eher unwahrscheinlich. Einige Experten suggerieren zwar, dass die Taliban sich auch auf ein Abkommen einlassen könnten, das den Amerikanern ihre Basen im Land lässt, aber ich kann mir das nicht vorstellen. Die Taliban haben immer ausdrücklich den Abzug aller auswärtigen Streitkräfte als Kernstück ihrer Bereitschaft, Frieden zu schließen, formuliert. Das können sie nicht einfach zurücknehmen. Wenn also die Amerikaner nur einem Deal zustimmen, der es ihnen erlaubt, im Land zu bleiben, und die Taliban genau das explizit ablehnen, kann es per definitionem keinen Friedensschluss geben, an dem die Amerikaner beteiligt sind.

 

Die Pakistanis lassen die Taliban in Ruhe und die Taliban sorgen dafür, dass sich die Paschtunen in Belutschistan nicht gegen Islamabad erheben

 

Einige Experten meinen, die Taliban seien inzwischen besser ausgerüstet als die afghanische Armee.

Das sind sie nicht. Die Taliban haben vor allem eine höhere Motivation, zu kämpfen. Die USA haben die afghanischen Streitkräfte großzügig ausgestattet. Das Problem ist, dass die afghanische Armee völlig demoralisiert ist. Die Taliban haben keine schwere Artillerie im Arsenal, sie haben überhaupt relativ wenig Artillerie. Und ihnen fehlen Fernlenkgeschosse und Flugabwehrgeschütze. Deswegen greifen sie ja meist auf Sprengfallen zurück. Wenn die Taliban wirklich besser als die Armee ausgerüstet wären, stünden sie schon kurz vor dem militärischen Sieg in diesem Krieg.

 

Woher beziehen die Taliban ihre Waffen?

Sie kaufen sie – oft von Mitgliedern der Armee. Oder sie schmuggeln sie ins Land, meist aus Belutschistan. Und ich bin mir sehr sicher, dass sie zumindest zu einem gewissen Grad noch immer vom pakistanischen Sicherheitsapparat versorgt werden, wenn auch nicht mit schwerem Kriegsgerät.

 

Wie aktiv sind die pakistanischen Geheimdienste in Afghanistan?

Sie sorgen dafür, dass afghanische Taliban zuweilen auf pakistanischem Territorium Unterschlupf finden, wobei sie in den Fällen den Vorteil haben, dass sie genau wissen, wo sich diese Taliban-Kämpfer genau aufhalten. Im Norden der Provinz Belutschistan, einer vorwiegend paschtunischen Gegend, haben sie eine Art Übereinkunft mit den Taliban getroffen: Die Pakistanis lassen die Taliban in Ruhe und die Taliban sorgen dafür, dass sich die Paschtunen in der Provinz nicht gegen Islamabad erheben.

 

Islamabad will einen Aufstand verhindern, an deren Spitze sich die Taliban setzen?

Die pakistanischen Taliban haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrfach gegen den pakistanischen Staat erhoben, zumeist in den ehemaligen Stammesgebieten unter Bundesverwaltung sowie in der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa. Dort haben sie sogar einige Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Auch im Norden Belutschistans leben überwiegend Paschtunen, aber dort ist es viel ruhiger. Der Grund: Das pakistanische Militär hat die afghanischen Taliban auf eine stillschweigende Übereinkunft verpflichtet: Ihr könnt hier machen, was Ihr wollt, aber sorgt dafür, dass es einigermaßen ruhig bleibt.

 

Kann der pakistanische Geheimdienst über finanzielle Unterstützung auf die Taliban einwirken?

Ich glaube, in dieser Hinsicht ist der pakistanische Einfluss nicht abzustreiten. Aber er wird im Allgemeinen überschätzt. Zahlen westlicher Geheimdienste beziffern das Jahresbudget der Taliban mit 300-500 Millionen US-Dollar – ein Zehntel dessen, was die afghanische Armee ausgibt. Anders gesagt, wenn diese Zahlen stimmen – und sie kommen aus den Reihen der CIA und des MI6 – dann führen die Taliban einen sehr kostengünstigen Krieg. Dank der Einnahmen aus dem Heroinhandel und großzügiger Spenden vom Golf erwirtschaften die Taliban bereits genug, um nicht auf Gelder der pakistanischen Geheimdienste angewiesen zu sein. Die pakistanische Unterstützung hat wenig mit finanzieller Bezuschussung zu tun, sondern zeigt sich eher, wenn die Behörden ein Auge zudrücken, etwa wenn es um die Schmuggelrouten geht.

 

Auf lange Sicht wollen sich die Taliban aber vor allem so positionieren, um in Zukunft noch mehr Macht an sich zu reißen, sollte sich die Gelegenheit bieten

 

Was genau wollen die Taliban eigentlich, abgesehen davon, den Krieg zu gewinnen?

Erst einmal wollen die Taliban, dass alle amerikanischen Stützpunkte im Land aufgegeben werden. Und sie wollen die Kontrolle über ihre Hochburgen im Norden, rund um Kandahar sowie in Khost, Paktia, und Paktika verstetigen und dort ihre Widersacher loswerden. Auf politischer Ebene streben die Taliban nach politischer Teilhabe an der Macht. Die könnten sie etwa auch über Gewährsleute sichern, die als »gute Muslime« erachtet und für Taliban-genehme Positionen empfänglich sind, ohne selbst Taliban zu sein. Auf lange Sicht wollen sich die Taliban aber vor allem so positionieren, um in Zukunft noch mehr Macht an sich zu reißen, sollte sich die Gelegenheit bieten.

 

Welchen Kurs verfolgen die Taliban den nun: Teilhabe durch Verhandlungen oder Machtergreifung mit Waffengewalt?

Unter den Taliban findet sich eine Reihe von Hardlinern – darunter etwa das Haqqani-Netzwerk – die jeglichen Kompromiss ablehnen und bis zum Endsieg kämpfen wollen. Und es finden sich Andere, die das einfach nicht als realistisches Szenario sehen und deshalb einen Kompromiss befürworten. Dieser Gruppe ist durchaus auch bewusst, dass sich die Taliban immer erfolgreich auf dem Land einnisten, aber nie für lange Zeit die urbanen Zentren des Landes unter Kontrolle halten konnten.

 

Die Taliban sind in »Falken« und »Tauben« gespalten?

Schwer zu sagen, aber nur soviel: Das Haqqani-Netzwerk kämpft seit 50 Jahren um die Kontrolle des Gebietes Groß-Paktia: Diesen Kampf werden sie nicht von heute auf morgen einstellen. Auch nicht, wenn sie dafür bezahlt würden. Das wurde schon oft versucht, und es hat nie geklappt.

 

Ist die jüngste Offensive der Taliban eine Machtdemonstration, um sich in eine möglichst gute Ausgangsposition für die Friedensverhandlungen zu bringen?

Die Taliban führen Krieg, richtig? Mich amüsiert diese Annahme vieler westlicher Experten, dass die Taliban den Kampf einstellen müssten, um die Bereitschaft zum Frieden unter Beweis zu stellen. Das ist doch bizarr. Die Taliban werden immer argumentieren, dass sie solange weiterkämpfen, bis sie ein Abkommen zu den bestmöglichsten Konditionen für sich herausschlagen können. Dennoch hoffe ich, dass der Friedensprozess eine Reihe wichtiger vertrauensbildender Maßnahmen zeitigt: etwa Waffenstillstandsvereinbarungen und Garantien, medizinisches Personal nicht ins Visier zu nehmen.

 

Lasst uns doch einfach in Frieden miteinander leben. Und die Taliban antworten darauf: Klar, das war doch von Anfang an unser Plan. Allerdings ist hier eine Liste mit Leuten, die von hier verschwinden müssen

 

Hat die afghanische Regierung den schon wirklich realisiert, wie sehr sich die Machtverhältnisse verschoben haben oder blendet sie die Realität aus?

Ich rede mit unzähligen afghanischen Regierungsvertretern und um ehrlich zu sein: Von Realitätsverlust kann keine Rede sein – eine realistische Einschätzung war einfach nie da. Ohne amerikanische Unterstützung würde die afghanische Regierung zusammenbrechen.

 

Als die Taliban im August Ghazni überrannten, hat die Regierung fast sechs Tage lang entsprechende Berichte zurückgewiesen. Und auch die Angaben darüber, welche Gebiete unter der Kontrolle der Taliban stehen, unterscheiden sich teils drastisch von den Einschätzungen etwa der US-Behörden oder nichtstaatlicher Organisationen.

Man kann den Angaben der afghanischen Behörden keinen Glauben schenken. Dennoch, auch die Zahlen, die unabhängige Beobachter herausgeben, sind nicht immer akkurat. Als ich noch als Journalist gearbeitet habe, bin ich regelmäßig durch das Land gereist und bin oft durch Gebiete gekommen, die formell unter Regierungskontrolle standen, in denen die Taliban aber unübersehbar präsent waren. Andersrum übrigens genauso. Vor Ort haben sich beide Seiten oft miteinander arrangiert – nicht zuletzt, um etwa Einnahmen aus dem Heroin-Geschäft untereinander aufzuteilen. Der kleinste gemeinsame Nenner dabei ist, dass man sich nicht gegenseitig angreift.

 

Das heißt, auf lokaler Ebene sind Friedensabkommen längst in Kraft?

Solche Arrangements sind quer durchs Land gängige Praxis. Insbesondere in paschtunischen Gebieten stehen beide Seiten, etwa Taliban-Kommandeure und Regierungsvertreter, in regelmäßigem Austausch. Auch bei Hochzeiten, Beerdigungen und Geschäftsabschlüssen trifft man sich. Der Subtext solcher Begegnungen lautet oft: Keiner von uns will das militärisch austragen, also lasst uns doch einfach in Frieden miteinander leben. Und die Taliban antworten darauf: Klar, das war doch von Anfang an unser Plan. Allerdings ist hier eine Liste mit Leuten, die von hier verschwinden müssen.

 

Eine mögliche Beteiligung der Taliban würde bedeuten, dass alle anderen noch weniger vom Kuchen abbekommen

 

Kann sich die afghanische Regierung auf solche Arrangements auf lokaler Ebene verlassen, um das eigene Überleben zu sichern?

Tatsächlich könnte die Regierung sehr viel schneller als gedacht kollabieren – so wie schon einmal zwischen 1994 und 1996. Viele afghanische Familien begegnen derart unsicheren Zukunftsaussichten, indem sie etwa einen Sohn zur Armee und einen zu den Taliban schicken – so ist man auf der sicheren Seite, egal, wer am Ende die Oberhand behält.

 

Geht es für die afghanische Regierung nur um das pure Überleben oder verspricht sie sich noch mehr von einem Friedensschluss?

Die Regierung ist extrem fragmentiert. Das Patronage-System, also der große Kuchen, den es zu verteilen gilt, ist der kleinste gemeinsame Nenner, der alles zusammenhält. Und der Kuchen wird immer kleiner, gerade nachdem der Großteil der Nato-Truppen abgezogen ist. Eine mögliche Beteiligung der Taliban würde bedeuten, dass alle anderen noch weniger abbekommen.

 

Aber bedeutet ein Friedensschluss nicht mehr als eine bloße Umverteilung von Ressourcen?

Taliban finden sich auch unter Tadschiken, Usbeken und anderen Volksgruppen. Aber gerade bei den Paschtunen geht ein Riss durch die Familien, der tiefgreifende Folgen für die Gesellschaft hat. Deswegen ist gerade unter den Paschtunen eine große Friedenssehnsucht festzustellen – allerdings finden sich unter den Paschtunen auch eine Reihe prominenter Persönlichkeiten, die einen Friedensschluss vehement ablehnen. Dazu zählen etwa säkular gesinnte Paschtunen in der afghanischen Armee, oder aber paschtunische Warlords, die auf Kriegsfuß mit den Taliban stehen und viel zu verlieren haben. Ironischerweise könnte aus diesem Grund ein Friedensschluss bei den Hazara oder den Usbeken auf viel weniger Widerstand stoßen, da deren Führungsfiguren die Pfründe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle wohl behalten könnten. Eine Einschränkung ist hier aber angebracht: Es gibt in Afghanistan keine wirklich klaren ethnischen Trennlinien. Deswegen stand etwa eine Aufteilung des Landes nie zur Debatte.


Anatol Lieven

Ist Dozent für Internationale Politik am Campus der Georgetown University in Doha, Katar. Zuvor hat er lange Jahre als Journalist als Auslandskorrespondent gearbeitet, unter anderem für die BBC und die Financial Times. Zurzeit schreibt er an einem Buch über paschtunische Identität in Afghanistan und Pakistan.

Von: 
Leo Wigger

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