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Interview zur Eskalation zwischen Indien und Pakistan

»Verhandlungen mit Indien wären für Imran Khan ein Erfolg«

Interview
von Leo Wigger
Ein pakistanischer Grenzsoldat blickt Richung Indien
Ein pakistanischer Grenzsoldat blickt am Übergang Wagah Richung Indien. Leo Wigger

Seit dem Terroranschlag in Kaschmir nimmt der indisch-pakistanische Konflikt wieder an Fahrt auf. Militärexpertin Ayesha Siddiqa verrät im Interview, warum sich Islamabad so widersprüchlich verhält – und Imran Khan sich auf der Gewinnerstraße sieht.

zenith: Was unterscheidet die momentane Eskalation von früheren Konfrontationen zwischen den beiden Nachbarn in Südasien?

Ayesha Siddiqa: Pakistan und das Verhältnis zu Jaish-e Mohamad (JeM) spielen hier natürlich eine wichtige Rolle. Auf einer anderen Ebene aber ist die momentane Eskalation das Ergebnis der Situation in Kaschmir selbst: In den vergangenen Monaten nehmen die Menschenrechtsverletzungen zu, die Sicherheitslage ist angespannt. Der zugrundeliegende Konflikt ist ja auch eine lokale Angelegenheit – deswegen verwundert es auch nicht, dass der Hauptattentäter selbst Kaschmiri ist. Die indische Seite behauptet nun aber, dass er von Pakistan für den Anschlag angeworben worden sei.

 

Gehören Selbstmordanschläge zum Alltag im Kaschmir-Konflikt?

Die Attacke von Pulwama war der erste Selbstmordanschlag seit langer Zeit. Indische Streitkräfte und muslimische Kaschmiris liefern sich seit Jahren Gefechte, aber erst seit den 2000ern operieren überhaupt Selbstmordattentäter in Kaschmir – und zwar die von Jaish-e Mohamed.

 

Trotz des offiziellen Verbots kann Jaish-e Mohamad in Pakistan weiterhin nahezu unbehelligt agieren.

 

Diese pakistanische Terrorgruppe hat ihren Sitz eigentlich in Bahawalpur, im Punjab …

… Die Organisation zielt aber schon seit langem auf Kaschmir und gibt als Ziel aus, die Provinz von der indischen Herrschaft befreien zu wollen. Das ist Teil ihrer Ideologie, unterdrückte Muslime weltweit zu unterstützen.

 

Warum schlug die Terrorgruppe gerade jetzt zu?

Der Zeitpunkt des Anschlags folgte strategischen Überlegungen: Eine Reaktion aus Washington wäre zwar zu erwarten. Aber die Amerikaner verhandeln ja gerade mit den Taliban in Afghanistan über den Zwischenhändler Pakistan. Aus diesem Grund würde die US-Regierung wohl weit weniger Druck auf Islamabad ausüben, aus dem Anschlag Konsequenzen zu ziehen. In einem Propagandavideo kurz nach dem Anschlag hat JeM-Führer Masood Azhar Indien sogar offen verhöhnt, weil Neu-Delhis Werben um Unterstützung weltweit auf so viele taube Ohren gestoßen war. Insofern bestätigt die internationale Reaktion das Kalkül der JeM-Führung.

 

Jaish-e Mohamad ist seit einem Anschlag auf das indische Parlament 2002 in Pakistan verboten, sämtliche Konten wurden eingefroren. Wie konnte die Terrorgruppe einen Anschlag wie jenen in Kaschmir Mitte Februar also finanzieren?

Trotz des offiziellen Verbots kann Jaish-e Mohamad in Pakistan weiterhin nahezu unbehelligt agieren. Das Hauptquartier der Gruppe ist ja weit von Kaschmir entfernt. In Bahawalpur, im Süden des Punjab, betreibt die Gruppe zwei große Medressen. Sie kann dort nach Belieben schalten und walten, rekrutiert und bildet neue Mitglieder aus. Die Geheimdienste müssten Masood Azhar nach der Gesetzeslage eigentlich überwachen, und dennoch muss er keinen großen Druck befürchten.

 

Nach dem Anschlag in Kaschmir mussten die pakistanischen Sicherheitsbehörden ein Stückweit zurückrudern: Hatten sie zuvor jegliche JeM-Präsenz in Bahawalpur negiert, räumten sie danach ein, dass die Gruppe in der Stadt Moscheen und Koranschulen wie das Sabir-Subhanallah-Zentrum betreibt. Diese seien aber lediglich religöse Bildungseinrichtungen, keine Trainingscamps.

Auch diese neue Position der Behörden stimmt so nicht: Ja, die Medressen sind da, aber diese Zentren dienen eben auch als logistisches Hauptquartier der Organisation.

 

Khan könnte seine Argumentationslinie präsentieren: Um das Terrorismusproblem zu lösen, muss auch die Kaschmir-Frage auf den Tisch.

 

Unterhalten die pakistanischen Sicherheitsbehörden Beziehungen zu Jaish-e Mohamad?

Ja, die Beziehungen sind ausgesprochen eng und bestehen seit dem Afghanistan-Krieg in den 1980er Jahren. Masood Azhars Familie und auch er selbst sind ein Teil davon. Insbesondere der ISI (Inter-Services Intelligence), der Militärgeheimdienst, sieht die Beziehungen zu den Taliban und anderen dschihadistischen Gruppen als strategisches Faustpfand in der Außenpolitik, insbesondere auch in der Kaschmir-Frage.

 

Aber welchen strategischen Nutzen würde der pakistanische Sicherheitsapparat gerade jetzt aus dem Anschlag ziehen, kurz vor den Wahlen in Indien? Einige Analysten glauben, die Stimmung im Nachbarland würde nun wohl eher in Richtung der Hindu-Nationalisten von Premier Narendra Modi kippen.

Es gibt die Sichtweise, dass Modi die indische Gesellschaft spaltet, Indien schwächt und somit Pakistan hilft. Ich schließe mich dem nicht an, sondern halte es für naheliegender, dass der ISI auf eine Wahlniederlage von Modi und der Regierungspartei BJP hofft. Man spekuliert, dass Neu-Delhis Vergeltungsoptionen, gerade vor dem Hintergrund der gegenseitigen nuklearen Abschreckung, begrenzt sind und er deswegen letztlich als Verlierer aus der Konfrontation hervorgeht und dementsprechend an der Urne abgestraft wird.

 

Premier Imran Khan ruft zu Verhandlungen auf und fordert gegenseitigen Respekt zwischen Indien und Pakistan. Auf der anderen Seite hat ein Anschlag die momentane Krise ausgelöst, der zumindest zu einem gewissen Grad aus Pakistan heraus unterstützt wurde. Welche Haltung verfolgt nun eigentlich die pakistanische Regierung?

Was Imran Khan eigentlich sagt: Lasst uns reden – und zwar über alles. Unmittelbarer Anlass wären die Anschläge. Aus Sicht des Premiers böten Gespräche aber die Gelegenheit für viel weitergehende Verhandlungen. Khan könnte dann seine Argumentationslinie präsentieren: Um das Terrorismusproblem zu lösen, muss auch die Kaschmir-Frage auf den Tisch.

 

Auf welche politischen Druckmittel setzt Imran Khan?

Er kann dafür sorgen, Indien an den Verhandlungstisch zu bringen. Und wenn er Modi die Zusicherung abringt, dass Kaschmir auf die Tagesordnung kommt, wäre das allein schon ein politischer Erfolg für den Premier. Zudem würde er den pakistanischen Militärapparat hinter sich bringen, die Verhandlungen zu unterstützen. Imran Khan verfolgt hier einen ganz anderen Ansatz als sein Vorgänger Nawaz Scharif …

 

Nawaz Scharif war überzeugt, dass die bilateralen Beziehungen ohnehin gekittet werden müssen – und zwar völlig unabhängig von der Kaschmir-Frage.

 

… der es sich schon vor seiner Absetzung 2017 ob seiner Haltung gegenüber dem Nachbarn mit der pakistanischen Armee verscherzt hatte …

Nawaz Scharif war überzeugt, dass die bilateralen Beziehungen ohnehin gekittet werden müssen – und zwar völlig unabhängig von der Kaschmir-Frage. Imran Khan folgt hier von vornherein eher der Linie des pakistanischen Militärs, das die Kaschmir-Frage als zentral ansieht und für die Terror grundsätzlich eine Option ist, um Indien an den Verhandlungstisch zu zwingen – ein altbekanntes Muster, das aber noch lange keine erfolgreichen Gesprächsergebnisse garantiert.

 

Dennoch, wie passen die versöhnlichen Worte des Premiers und die Terrortaktik des Sicherheitsapparats zusammen?

Man kann hier von Scheinheiligkeit reden, oder von taktischem Kalkül – beides geht Hand in Hand. Aus militärischer Sicht ist die Sache vielleicht klarer: Um seinen Gegner an den Verhandlungstisch zu bringen, muss man ihm erst einmal vor Augen führen, welchen Preis er bezahlen muss, wenn er nicht verhandeln will.

 

Wie groß ist angesichts dieses Kalküls die tatsächliche Kriegsgefahr? Und welche »roten Linien« dürften nicht überschritten werden?

Kurzfristig haben die Spannungen sehr an Fahrt aufgenommen, insbesondere nachdem die indische Luftwaffe Angriffe auf Ziele in Pakistan fliegen ließ. Neu-Delhi zeigte, dass es im Fall eines Terroranschlags bereit ist, ohne Vorwarnung zurückzuschlagen. Und die pakistanische Seite wiederum stellte mit dem Abschuss eines indischen Kampfflugzeuges unter Beweis, wie man auf eben solche Vergeltungsschläge reagiert. Beide Seiten sendeten Signale und verschoben so in gewisser Weise die bisherigen »roten Linien«. Aber ich denke, dabei belassen es Islamabad und Neu-Delhi fürs Erste. Grundsätzlich tendieren beide Seiten nun erstmal in Richtung Deeskalation.

 

Wer stünde denn bereit, im Falle einer erneuten Eskalation zwischen den beiden Atommächten zu vermitteln?

Die Koordinaten der internationalen Diplomatie und geopolitischen Allianzen sind im Fluss: Noch vor fünf Jahren haben die USA ihren Einfluss in Südasien mit Vehemenz geltend gemacht. Washington baute die Beziehungen zu Neu-Delhi aus, wurde aber in Islamabad weiter als Verbündeter gesehen. Unter der Trump-Regierung spielen die USA in der Region nicht mehr unangefochten die erste Geige. Das bedeutet aber nicht, dass sich Islamabad vollständig von Washington abwendet. Pakistan hat sich zwar eindeutig an Chinas Seite gestellt, allerdings verfügt Peking bei weitem nicht über die Einflussmöglichkeiten auf Indien wie die Amerikaner. Aus diesem Grund bleiben die USA trotz allem weiter die Großmacht mit dem größten Gewicht in der Region.

 

Handelspolitische Instrumente könnte womöglich den Anreiz für Pakistan schaffen, sich von Terrororganisationen loszusagen.

 

Könnte die Europäer eine diplomatische Annäherung voranbringen?

Deutschland unterhält gute Beziehungen zu Pakistan, hält sich für den Moment aber eher am Rand. Frankreich und Großbritannien haben hier die Initiative ergriffen und gemeinsam mit den USA eine Resolution bei den Vereinten Nationen eingebracht, die Jaish-e Mohamad auf die Terrorliste setzten soll. Washington und Neu-Delhi haben das schon mehrfach versucht, sind aber stets am Veto der Chinesen im UN-Sicherheitsrat gescheitert.

 

Welche diplomatischen Hebel stünden denn außerhalb von UN-Sanktionen zur Disposition?

Die EU könnte den Hebel des Allgemeinen Präferenzsystems (APS) ansetzen, das Staaten bevorzugte Handelsbedingungen, insbesondere zollfreien Marktzugang für bestimmte Produkte, in Aussicht stellt. Pakistan verfügt seit 2014 über einen priviligierten Status. Solch ein handelspolitisches Instrument könnte womöglich den Anreiz für Pakistan schaffen, sich von Terrororganisationen loszusagen.

 

Wirtschaftliche Anreize verspricht auch der umstrittene saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS), der nur einen Tag nach dem Anschlag in Kaschmir zum Staatsbesuch in Islamabad eintraf.

Dass MBS ausgerechnet zu dem Zeitpunkt eintraf, war wohl Zufall, hat Pakistan aber dennoch indirekt in die Hände gespielt und die indische Vergeltung hinausgezögert. Neu-Delhi wollte nun wirklich nicht zuschlagen, während ein so hochrangiger Staatsgast sich im Nachbarland aufhielt. Saudi-Arabien verfolgt in der Region natürlich auch eigene Interessen, und dazu gehört, dschihadistische Gruppen unter Kontrolle zu bringen und sich dienbar zu machen. Ziel ist es Iran und dessen Vasallen zu schwächen. Aus diesem Grund denke ich nicht, dass Saudi-Arabien hier eine konstruktive Rolle spielen kann. Riad würde eher von einer Eskalation im Kaschmir-Konflikt profitieren.


Ayesha Siddiqa, 52, forscht seit Jahrzehnten zur Rolle des Militärs in Staat und Gesellschaft in Pakistan. Zurzeit ist sie Gastwissenschaftlerin an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) der Universität London.

Von: 
Leo Wigger

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