Ramsan Kadyrow inszeniert sich und seine Herrschaft in Tschetschenien zunehmend als islamkonform. Damit dient er sich nicht nur dem Kreml an, sondern gewinnt auch in Teilen der Diaspora an Einfluss – auch in Deutschland.
Tschetschene zu sein: Das bedeutet seit Jahrhunderten, Teil eines schier aussichtslosen Kampfes um das Überleben der eigenen Kultur, Sprache und Gruppe. »Märsch woghil! – Ich hoffe, du kommst in Freiheit« – so begrüßen sich viele Tschetschenen bis heute. Immer wieder mussten sich die Tschetschenen gegen die Unterwerfungsversuche Moskaus wehren – ihnen wurden verheerende Kriege aufgezwungen, sie litten unter massiver staatlicher Verfolgung und 1944 auch unter Massendeportationen.
Trotz aller Widrigkeiten ist der Wunsch nach Unabhängigkeit nie erloschen. Die Bevölkerung fand immer wieder Wege, den Widerstand gegen Russland fortzusetzen: Als Solidaritäts- und Kampfgruppen innerhalb des eigenen Clans oder der Dorfgemeinschaft, als fromme muslimische Kämpfer eines Sufi-Ordens, als Anhänger und Soldaten der international nie anerkannten Tschetschenischen Republik Itschkerien oder als zunehmend salafistisch geprägte Kampfverbände im Kaukasus.
Stets diente der Islam als verbindendes Element nach innen, als Abgrenzung gegenüber Russland und nicht selten als treibende Kraft des bewaffneten Widerstands. Der Kontrast zu den aktuellen Entwicklungen in Tschetschenien könnte kaum größer sein: Russland und das von Moskau eingesetzte tschetschenische Regime um Ramsan Kadyrow verbreiten seit Jahren erfolgreich ein Narrativ, das die tschetschenische Identität und den Islam zu Quellen der Loyalität gegenüber dem Kreml umdeutet.
Russland wird in dieser Lesart als Schutzmacht konservativer Werte und Religionsgemeinschaften sowie als Bollwerk gegen den aggressiven, moralisch verkommenen, weil demokratischen Westen gedeutet. Im Gegenzug, so die Schlussfolgerung, schulde man Russland und seinem Präsidenten daher Loyalität und Treue. Ramsan Kadyrow nimmt dabei eine Schlüsselfunktion ein: Er besucht regelmäßig Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit und empfängt daheim einflussreiche Politiker und andere Persönlichkeiten. So fungiert er für den Kreml als Türöffner auf dem internationalen Parkett und knüpft eigene Kontakte zu Geheimdienstchefs, Kronprinzen und Ministern.
Kadyrow inszeniert sich als »Wertebotschafter« Russlands in der islamischen Welt
In Fernsehansprachen wendet er sich auf Russisch und Tschetschenisch direkt an die Diaspora, droht Landsleuten im Ausland und anderen, die er für Feinde Russlands hält. Gleichzeitig stellt er immer wieder klar, dass alle Tschetschenen, die seine Autorität nicht in Frage stellen, in ihre Heimat zurückkehren und dort unter seiner vorgeblich islamischen Herrschaft ihre Religion ausüben können. Ein Narrativ, dessen sicherheitspolitische Auswirkungen weit über die Grenzen der Russischen Föderation hinaus spürbar sind.
Dank Kadyrow kann sich Russland als natürlicher Verbündeter all jener Staaten und Gemeinschaften präsentieren, die betonen, sich in besonderer Weise Werten wie Moral, Ordnung und Religion verpflichtet zu fühlen. Trotz des Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Sanktionen des Westens erweist sich diese Strategie als erstaunlich erfolgreich. Auch in der ursprünglich überwiegend russlandkritischen tschetschenischen Diaspora verfängt dieses Narrativ und erzeugt beziehungsweise verstärkt eine pro-russische Grundhaltung – trotz eigener Verfolgungserfahrungen und trotz beziehungsweise wegen der zunehmenden Hinwendung zu sehr konservativen Islaminterpretationen.
Um zu verstehen, warum der Kreml auf der internationalen Bühne ausgerechnet Ramsan Kadyrow als Kronzeugen für dieses Narrativ ins Feld führt, lohnt ein Blick in die jüngere Geschichte der nordkaukasischen Teilrepublik: Denn in Kadyrows Tschetschenien ist Russland ein Experiment gelungen, dessen Ergebnisse Putin nun weltweit nutzbar machen kann.
In den 1990er-Jahren erstarkten tschetschenische Salafisten und traten in Konkurrenz zum überwiegend säkular orientierten ethno-nationalistischen Lager, das bis dahin den bewaffneten Kampf gegen Russland dominiert hatte. Nachdem russische Truppen Anfang der 2000er-Jahre die Region weitgehend wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatten, begann der Kreml mit der Umsetzung einer Islampolitik, die auf die Schaffung von Vasallen abzielte, die Russland direkt kontrollieren konnte.
Islampolitik in Tschetschenien: Sufistisch, anti-westlich, russlandhörig
Im Zentrum dieser Islampolitik stand die Schwächung und Delegitimierung aller antirussischen Kräfte auf tschetschenischer Seite bei gleichzeitiger Kooptierung des sufistischen Islams beziehungsweise seiner Vertreter. Russland wollte sich damit eine der wichtigsten Triebkräfte des Widerstands zunutze machen: den Islam. Dazu gründeten russische Stellen staatlich finanzierte religiöse Institutionen, förderten Organisationen und Ämter und schließlich jene sufistischen Eliten, die sie unter ihre Kontrolle bringen wollten.
Gegenüber dem Westen verkaufte Moskau sein brutales Vorgehen im Nordkaukasus als Kampf gegen die aus dem Ausland eingesickerte Ideologie des Salafismus und als Teil des »Krieges gegen den Terror«, der damals ohnehin den öffentlichen Diskurs dominierte. Gleichzeitig nutzte die russische Regierung ihre Islampolitik im Nordkaukasus, um ihre Beziehungen zur islamischen Welt auszubauen. So sprach Wladimir Putin 2003 als erstes Staatsoberhaupt eines Landes ohne muslimische Bevölkerungsmehrheit auf einem Gipfel der »Organisation für Islamische Zusammenarbeit« (OIC) und behauptete, Russland sei Teil der islamischen Welt und seit jeher Heimat vieler muslimischer Volksgruppen.
Zwei Jahre später, 2005, wurde Russland als ständiger Beobachter in die OIZ aufgenommen. Seitdem verstärkt Moskau seine Darstellung Tschetscheniens als angeblich vorbildliche islamische Republik innerhalb Russlands. Ramsan Kadyrow wird in dieser Imagekampagne als authentischer Führer und legitimes Oberhaupt Tschetscheniens präsentiert. Kadyrow zelebriert bei jeder sich bietenden Gelegenheit die unter seiner Herrschaft gestiegene Bedeutung des Islam in Tschetschenien und huldigt im gleichen Atemzug unterwürfig Wladimir Putin.
Unter Kadyrows Herrschaft und mit russischem Geld wurde nicht nur die Hauptstadt Grosny wieder aufgebaut, Tschetschenien erhielt auch eine deutlich »islamischere« Fassade, etwa in Form zahlreicher prunkvoller Moscheen, strenger Kleidervorschriften und inszenierter öffentlicher Auftritte von Offiziellen und religiösen Würdenträgern. Kadyrow brüstet sich damit, dass unter ihm in Tschetschenien die Scharia herrsche und die Tschetschenen endlich in Frieden und ohne Einschränkungen ihre Religion ausüben könnten. Putin sei Dank.
Tschetschenische Diaspora-Gemeinden und die Versuchung aus der Heimat
Besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang die Radikalität der Botschaften, die von offizieller und halboffizieller Seite in Russland verbreitet werden, insbesondere seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die in russischer, tschetschenischer und inzwischen auch in arabischer Sprache verbreiteten Aussagen unterscheiden sich teilweise kaum noch von islamistischer und dschihadistischer Propaganda. So bezeichnete der Mufti von Tschetschenien den russischen Angriffskrieg als »Dschihad«.
Dazu passend kursierten Fotos von tschetschenischen Soldaten beim Gemeinschaftsgebet nahe der Front und Videos mit Aufnahmen aus Mariupol, die mit einschlägigen Anaschid-Gesängen unterlegt sind. Eines davon zeigt Kadyrows Soldaten in Mariupol Anfang 2023 und fand auf verschiedenen Social-Media-Kanälen unter anderem in arabischer Sprache Verbreitung. In dem Clip geht es um den angeblichen Krieg der Tschetschenen gegen den Westen, gegen Ungläubige und Juden in der Ukraine, gegen kampfunwillige Araber und gegen den »großen Satan« Amerika. Solche Inhalte erreichen mittlerweile Millionen von Menschen weltweit.
Anfang letzten Jahres tauchte der bis dahin pro-ukrainische Tschetschene Husein Dschambetow in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf und verkündete in Begleitung eines hochrangigen Kadyrowzy-Kommandeurs, er werde künftig für Russland kämpfen. Ein Seitenwechsel, den die tschetschenischen Medien zu nutzen wussten. Dschambetow wurde nach Grosny geflogen, wo er öffentlich seine Loyalität zu Kadyrow bekundete und seinen neuen Herrscher persönlich traf und unterwürfig begrüßte. In einem der Videos behauptet der Überläufer, erst in Grosny den wahren Islam gefunden zu haben.
Moskaus Islampolitik im Nordkaukasus hat direkte Folgen für Deutschland
Ein anderes Video zeigt Dschambetow zusammen mit zwei weiteren jungen Männern, die offenbar ebenfalls aus der Diaspora stammen und nun in Tschetschenien eine militärische Ausbildung erhalten. An die Tschetschenen in Europa gerichtet, fordert Dschambetov in diesem Video alle wehrfähigen Männer auf, ebenfalls nach Tschetschenien zu kommen und sich für den Kampf ausbilden zu lassen, um ihren Teil zum Schutz der dort angeblich etablierten Scharia beitragen zu können.
Eine besorgniserregende Entwicklung, denn: Appelle wie der von Dschambetov richten sich an die Diaspora in Westeuropa. In Deutschland trifft diese Botschaft auf eine Gemeinschaft, die in weiten Teilen ohnehin schon extrem konservativ eingestellt ist und in der extremistische Vorstellungen auf dem Vormarsch sind. Noch sind es vor allem salafistische Vordenker, die unter tschetschenischen Jugendlichen die Errichtung eines »Islamischen Staates« und die Einführung der Scharia propagieren. Doch deren Anziehungskraft nimmt ab, je besser es Kadyrow gelingt, sich als islamkonformer Herrscher zu präsentieren.
Denn hinzu kommt, dass Kadyrow über reale Macht verfügt. So kann er nicht nur den Rückenwind des von Russland seit Jahren verbreiteten Narrativs eines legitimem islamischen Führers zählen, er kann auch darüber entscheiden, wer aus Ländern wie Deutschland ein- und wieder ausreisen darf. Auf diese Weise gewinnt das Regime zunehmend an Einfluss im Ausland.
Die russische Islampolitik im Nordkaukasus hat also direkte Auswirkungen auf die Entwicklungen in Deutschland. Sie ist der Versuch, eine ehemals feindlich gesinnte Bevölkerungsgruppe für sich und die eigenen politischen Ziele zu gewinnen.
Adam Ashab ist Rechtswissenschaftler mit einem Fokus auf Migration, Meinungsfreiheit und Sicherheitspolitik. Er arbeitet als Berater in der Fachstelle Islam im Land Brandenburg.
Caspar Schliephack ist Islamwissenschaftler und Berater in der Fachstelle Islam im Land Brandenburg. Er arbeitet unter anderem zu den Themen nordkaukasische Gemeinschaften und Islamismus.