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Syrien und die Scharia

Was die neuen Machthaber in Syrien vorhaben

Essay
Dschoulani hält seine Rede in der Umayyaden-Moschee.
Foto: Credits: Al-Jazeera

Kurz erklärt: Über Scharia, islamische Regierung, die Mentalität von Revolutionären und ein Damaskus-Erlebnis

Wird nun die Scharia eingeführt?

Die Rebellengruppen, die die Speerspitze des Umsturzes des Assad-Regimes waren, wollen dem syrischen Staat ein islamisches Antlitz verleihen. Das tun sie nicht nur als Machtdemonstration gegenüber anderen, sondern auch, um ihren eigenen Anhängern zu zeigen: Wir halten unsere Versprechen im Sinne jener Ideologie, die uns durch Jahre der Hoffnungslosigkeit begleitet und gestärkt hat. Die Symbolik ist allerdings zwiespältig, denn auf der anderen Seite schwächen sie damit den innersyrischen Zusammenhalt und wecken Ängste der Minderheiten und säkularen Syrer, die das Regime mit dem Schreckgespenst des Islamismus Jahrzehnte lang in Solidarität zwängte. Dieses Regime ist vor allem gefallen, weil seine Machtbasis mehr Abscheu und Frustration gegenüber den herrschenden Verhältnissen empfang als Angst vor dem, was danach kommen wird.

 

Gleichzeitig verkünden die großenteils sehr jungen und in Regierungs- und Verwaltungsfragen vollkommen unerfahrenen Vertreter des »Befreiungskomitees« Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), dass sie den Beamten vertrauen wollen, dass die Volksgruppen keine Angst haben sollten und man lediglich am »hukm rashid«, der rechtgeleiteten, das heißt ethischen Herrschaft oder auch Governance interessiert sei. Ausländische Kommentatoren spekulieren derweil auf Basis der Äußerungen verschiedener HTS-Vertreter über die »Einführung der Scharia« in ganz Syrien. Hinzu kommen Falschmeldungen, die von denjenigen in Umlauf gebracht werden, die die Transition augenscheinlich möglichst frühzeitig sabotieren wollen.

 

Fest steht: Die sogenannte Scharia, also die islamische Rechtsprechung, gilt in Syrien seit Jahrhunderten und galt auch unter den diversen Republiken seit der Unabhängigkeit des Landes von der französischen Mandatsherrschaft. Allerdings nicht im Strafrecht, das bis heute auf dem französischen Code basiert. Wenn aber in westlichen Medien von der Scharia geredet wird, ist damit zumeist das islamische Strafrecht gemeint.

 

Islamische Rechtsprechung in Syrien betrifft etwa den Personenstand von Muslimen – um Übrigen auch der heterodoxen Minderheit der Alawiten – nicht aber den von Christen, auch wenn diese bis zu einer Reform 2005 noch nach muslimischer Rechtsprechung erbten bzw. erben mussten. Auch die Drusen haben ein eigenes Personenstandsrecht. Diskriminierung nichtmuslimischer Minderheiten im Recht wurde auch unter dem alten, pseudo-säkularen Baath-System in Syrien kritisiert – die Diskussion ist also nicht neu. Laut Verfassung muss der Präsident des Landes ein Muslim sein; der Islam gilt eine der zentralen Quellen der Rechtsauslegung.

 

So gab sich auch das alte System einen islamischen Anstrich. Das Regime förderte zeitweise sogar ultrakonservative und salafistische Missionare, um zu zeigen, dass es nicht gegen den Islam eingestellt sei, und, um eine islamische, aber quietistische Konkurrenz zu den militanten Muslimbrüdern aufzubauen. Insofern sind die Syrer mit der politischen Instrumentalisierung des Islam vertraut. Die große Aufgabe für Rebellenführer Abu Muhammad Al-Dschulani, der nun unter seinem bürgerlichen Namen Ahmad al-Shar’a auftritt, und seine Berater stellt sich nun darin, das Vertrauen aller Volksgruppen zu gewinnen und dabei seine unerfahrenen und gewiss teilweise übereifrigen islamistischen Gefolgsleute zu zügeln.

 

Al-Dschulani, Damaskus und die islamische Heilsgeschichte

Bisher scheint Al-Dschulani an syrische Traditionen anzuknüpfen, die auch mit der islamischen Heilsgeschichte verbunden sind. Als er den Boden seiner Heimatstadt Damaskus betrat, küsste er diesen und wohnte einem Gebet in der Omayyadenmoschee bei – einer der ältesten und bedeutendsten der islamischen Welt. In den Überlieferungen und Chroniken von der Eroberung Syriens (Bilad al-Sham) durch die arabischen Muslime steht Damaskus symbolisch für die Siegesverheißung: Hier traf die neue politisch-religiöse Bewegung Muhammads aus der »Wüste Arabiens« quasi auf die städtische Zivilisation. Hier errichtete die Herrscherdynastie der Omayyaden die Hauptstadt ihres Kalifenreichs. Als die arabischen Muslime der Legende nach Damaskus einnahmen, taten sie dies ähnlich wie die Aufständischen gegen das syrische Regime: teils mit Gewalt (anwatan) und teils durch Vertrag bzw. friedlich (sulhan). Beide Verfahren wurden zu einer Art staatsrechtlicher Blaupause für spätere Eroberungen.

 

Auch wenn vieles von den Berichten Legende sein kann: Der Umgang der muslimischen Herrscher mit dem im 7. Jahrhundert durchweg christianisierten Syrien zeugt von einem Ideal der Toleranz gegenüber den Christen (was zu keiner Zeit mit Gleichberechtigung verwechselt werden sollte). Dass Dschulani ausgerechnet einen christlichen Bischof zum Interims-Vorsteher von Aleppo ernannte, mag eine taktische Geste gewesen sein, um die religiösen und ethnischen Minderheiten zu beruhigen. Bei seiner eigenen Anhängerschaft, die mit den Erzählungen über die frühen islamischen Herrscher vertraut sind, dürfte dieser Schritt aber als Anknüpfung an diese Tradition verstanden werden.

 

Die Gefährten bzw. Nachfolger des Propheten Mohammed verhandelten ihrerseit mit den Bischöfen der christlichen Gemeinschaften – nicht mit den byzantinischen Militärs. In Sozialen Medien haben manche Dschulanis Auftritt in der Omayyadenmoschee mit dem des IS-Anführers Abu Bakr Al-Baghdadi gleichgesetzt, der sich 2014 auf der Kanzel der Großen Moschee von Mosul zum Kalifen akklamieren ließ. Diese Gleichsetzung läuft fehl. Weder hat sich Dschulani zum spirituellen Führer Syriens noch zum Kalifen erklärt. Und die Omayyadenmoschee ist nicht nur ein muslimisches, sondern auch ein nationales Symbol Syriens – so etwa wie die Kathedrale von Notre Dame für Frankreich. Hier haben traditionell alle Herrscher des Landes öffentlichkeitswirksam ihr Gebet verrichtet: von Sultan Saladin über den arabischen Nationalisten Gamal Abdel Nasser bis hin zu Baschar al-Assad.

 

Politische Ideologie und das neue Syrien

Für die politische Zukunft Syriens gibt es viele Optionen. Das eine ist die Wahl des Modells, das andere die Umsetzung der Gesetze. Für zahlreiche islamistische Gruppierungen schließen sich islamisches Recht und Demokratie aus. Und diejenigen Islamisten, die sich an demokratischen Prozessen beteiligt haben, standen stets im Verdacht, sie praktizierten den Marsch durch die Institutionen und würden niemals von der Macht lassen, wenn sie diese einmal erlangt hätten.

 

Manche Kräfte sind der Ansicht, Demokratie biete die Rahmenbedingungen, um den Islam zu leben, weshalb es keines politischen Islams bedürfe. Andere, wie etwa die orthodoxen Vertreter der politischen Lehre der Muslimbruderschaft, meinen, dass man ohne die Erlangung der politischen Herrschaft den Islam gar nicht leben könne, weil dieser sich ja erst in der gottgefälligen Ordnung des Gemeinwesens ausdrückt.

 

Nun lässt sich Syrien nicht mit den arabischen Staaten gleichsetzen, in denen das Experiment der Islamisten in der Demokratie bereits krachend gescheitert ist. (Dieser Unterschied verleitete Baschar al-Assad u.a. dereinst zu der falschen Annahme, der Arabische Frühling mit seinen Protestbewegungen könne Syrien niemals erreichen). Das Land ist ethnisch und religiös nicht homogen. Keine islamistische Kraft könnte glaubhaft für sich in Anspruch nehmen, die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft zu vertreten.

 

Darüber hinaus verfügt Syrien – was angesichts der jahrzehntelangen Diktatur vielleicht widersprüchlich klingt – über eine gewisse parlamentarische Tradition. Die ist zwar nur in der Theorie vorhanden, Syrer insbesondere in den Städten sind aber mit parlamentarischen Begriffen und Verfahrensweisen durchaus vertraut. Der ineffiziente, aufgeblasene öffentliche Sektor und die alles durchdringende Bürokratie können hier etwas Gutes mit sich bringen, weil er die Ideologie ausbremsen kann.

 

Und anders als etwa in Libyen, wo es reiche Ölvorkommen gibt, genügt es für Machthaber in Syrien nicht, die Zentralbank zu besetzen und die staatlichen Öleinnahmen auszuplündern. Man muss die Wirtschaft und den Staat ins Laufen bringen, wenn man das Land regieren will.

 

Im Staatsapparat sitzen großenteils Syrerinnen und Syrer, die mit politischer Ideologie – geschweige denn religiöser – wenig zu tun haben. Die alte sozialistische Baath-Ideologie war zuletzt nur noch eine leere Hülle. Das neue syrische Übergangskabinett sowie viele Führungsposten wurden nun mit zum Teil jungen und unerfahrenen Figuren aus dem Umfeld der islamistischen »Heilsregierung« Dschulanis aus Idlib besetzt.

 

Das Kabinett wiederum spielte, bis auf wenige Ausnahmen, auch unter dem alten Regime keine große Rolle. Entscheidend waren die Parallelstrukturen im Sicherheitsapparat, der Schattenwirtschaft und der Baath-Partei, die nun zusammenbrechen. Regiert wurde, wenn überhaupt, mit Dekreten und Geheimdekreten, den Rest besorgte der Beamtenapparat. Dschulani und seine Rebellennetzwerke werden über Parallelstrukturen auch in Zukunft Macht ausüben können. Gleichzeitig haben sie versprochen, diese Strukturen aufzulösen. Die nun ernannten Regierungsfunktionäre haben kaum Erfahrung, wie man politische Entscheidungen in Verwaltung übersetzt und – andersherum – den politischen Prozess verwaltet. Zu dieser Stunde sollte man sie bei ihrem Bemühen ernst nehmen und Hilfe anbieten, auch wenn Erfolg alles andere als garantiert ist.

 

Seit Jahren diskutieren Syrer darüber, ob eine parlamentarische Demokratie das richtige ist für Syrien und ob man nach den Erfahrungen des Arabischen Frühlings überhaupt von einer demokratischen Kultur im Nahen Osten sprechen kann. Sorgen und Kritik sind legitim, ebenso das Argument, dass man die – ebenfalls in der Krise befindliche – liberale Demokratie nicht auf die arabische Welt übertragen kann. Es lohnt sich jedoch ein Blick in die Nachbarschaft: Die Türkei ist ein demokratisches System mit teils bedenklichen autoritären Zügen. Gekämpft wird dort aber nach wie vor um Wählerstimmen. Und die Republik Irak, die mit Syrien eine große Grenze teilt, ist eine defizitäre parlamentarische Demokratie, für die aber das Gleiche gilt. Seit dem Sturz Saddam Husseins hat es viel Instabilität gegeben, aber auch eine Tradition des großenteils friedlichen Regierungswechsels. Die Parteien, die dort maßgeblich um Macht, Ressourcen und die Gunst der Wähler ringen, sind den eigenen Beteuerungen nach ebenfalls islamisch oder sogar islamistisch. Den politischen Alltag bestimmen wiederum die Kämpfe um Posten, Ressourcen und die Durchsetzung kurz- bis mittelfristiger Interessen.

 

Als Mittelmeeranrainer stehen die Chancen Syriens ein funktionierender Staat mit einem System der Mitbestimmung zu werden, nicht unbedingt schlechter, zumal es derzeit nicht so aussieht, als werde das politische System des Landes von einer Besatzungsmacht aufoktroyiert. Die größte Herausforderung im Umgang mit den islamistischen Kräften wird auch in Syrien nicht deren Beziehung zur Religion sein, sondern die Mentalität von Rebellen und Revolutionsregierungen, denen das Schicksal zur Macht geholfen hat. Sie sind – und das gilt weltweit, nicht nur für die islamische Welt – oft mit dem Ideal von Gerechtigkeit angetreten. Aber sie sind oft auch beseelt von historischem Determinismus, dergestalt, dass sie glauben, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Wer einmal gelitten hat, verachtet und verspottet wurde, neigt besonders oft dazu, es nun den anderen zeigen zu wollen. Und unter Umständen niemals von der Macht zu lassen.

Von: 
Daniel Gerlach

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