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Wie das Regime Assad aus dem Süden gestürzt wurde

»Hayat Tahrir Al-Scham muss sich noch beweisen«

Interview
Waleed Al-Nufal bei der Feier in Paris.
Foto: privat

Noch vor der Hayat Tahrir Al-Scham war die südliche Front in Damaskus am vergangenen Wochenende eingezogen und hat Assad gestürzt. Der syrische Journalist Waleed An-Nufal erklärt, weshalb es so schnell ging, und wie der Süden Syriens auf die Entwicklungen schaut.

Der Angriff auf das Regime ging von Hayat Tahrir Al-Scham in Idlib aus und führte über Aleppo nach Damaskus. Die Südfront formierte sich erst später – und war dennoch als erste in Damaskus eingedrungen. Wann wurde klar, dass das Regime fallen würde?

Waleed Al-Nufal: Homs war der Schlüssel – nicht nur, weil es die drittgrößte Stadt ist und zwischen Damaskus und der Küste liegt. Sondern auch, weil die Schwäche des Regimes offen zutage trat. Assads Männer waren nur geflohen – die Stadt fiel kampflos – anders als bei der Befreiung von Hama. Und es gab noch einen letzten Grund: In Homs bestätigte sich, dass Russland und der Iran Assad im Stich gelassen hatten.

 

Wie hat sich der Widerstand im Süden formiert – und mit welchen Waffen haben die Syrer Damaskus erobert?

Die Opposition in Deraa bildete sich innerhalb eines Tages. Ich war ständig in Kontakt mit den Menschen und fragte sie, wie sie die Entwicklungen sehen würden. Die Antwort, die ich erhielt, war oft die gleiche: Sobald Homs fällt, werden wir uns bewegen. Als sich die Befreiung von Homs abzeichnete, ging alles sehr schnell. Polizeistationen wurden gestürmt, Militärstützpunkte zurückerobert. Die syrische Armee ließ alles hinter sich.

 

Gibt es eine Koordination zwischen Deraa und Suwayda?

Nein. Noch am Donnerstag wollten wir gerade in der drusischen Stadt Suwayda zurückhaltend bleiben. Als die syrischen Soldaten abzogen, herrschte hektische Betriebsamkeit.

 

Warum dieses Zögern?

Auf drusischer Seite war man schon 2011 vorsichtig – und versuchte, zwischen Opposition und Regime neutral zu bleiben, sich nicht einzumischen. So wurde systematisch die Fahne des Widerstands nicht gehisst. Doch in den letzten Jahren wurden Korruption, wirtschaftliche Unterdrückung oder einfach nur Vernachlässigung sichtbarer denn je, und die Regierung überschwemmte die Region gleichzeitig mit der Droge Captagon. Das Regime hat die Kontrolle verloren.

 

»Die Kontrolle des Regimes war völlig oberflächlich.«

 

Dennoch wollte sich der Süden nicht sofort an der neuen Militäraktion beteiligen.

Wie könnte er das? Weder die Bevölkerung von Deraa noch die von Suwayda verfügte über schwere Waffen. Diese Möglichkeit ergab sich erst, als Assads Brigaden und Spezialkräfte die Flucht ergriffen. Es gibt noch einen weiteren Grund: Die Opposition im Süden war nie wirklich dschihadistisch. Die Jabhat Fatah Al-Scham, aus der Hayat Tahrir Al-Scham hervorgegangen ist, war 2016 noch in Deraa präsent, aber nie wirklich populär – zwar kämpfte die Fraktion mit der Freien Syrischen Armee, aber auch die war lange Zeit unbeliebt.

 

Wie konnte das Regime so schnell zusammenbrechen? Hatten Assads Truppen den Süden nicht besser im Griff?

Die Kontrolle des Regimes im Süden war völlig oberflächlich. Tatsächlich haben sich Deraa, aber auch Suwayda, in den letzten Jahren selbst verwaltet – insbesondere nach dem von Russland vermittelten Abkommen zwischen dem Regime und der Opposition im Jahr 2018. In Deraa und Suwayda sprachen unabhängige Gerichte Recht, die Polizeikräfte des Regimes überließen ihre Arbeit lokalen Bündnissen,  die längst die Oberhand gewonnen hatten, und auch das Schulpersonal und die Steuern waren in den Händen der lokalen Gemeinschaften.

 

Für die weiteren Entwicklungen in Syrien und vor allem für ein neues Syrien wird es entscheidend sein, ob die verschiedenen Regionen integriert werden können. Wie blicken die Bewohner des Südens auf Hayat Tahrir Al-Scham.

Die Militärallianz konnte viele Befürchtungen ausräumen – bereits in Aleppo. Die Tatsache, dass es keine Vergeltungsaktionen gab, führte auch zu einer viel größeren Popularität im Süden. Tatsächlich hatte die Südfront, die in Damaskus mit der Hayat Tahrir Al-Scham zusammengestoßen war, die Kontrolle zurückgegeben. Beispielsweise die Kontrolle über die Zentralbank, die sich zunächst in den Händen einer Miliz aus Deraa befunden hatte. Das zeigt: Nicht nur die Popularität ist gestiegen, sondern auch das Vertrauen. Es ist anzunehmen, dass es zwischen einigen Gruppen im Süden inoffizielle Absprachen gibt – man hat sich also im Hintergrund koordiniert. Inzwischen sind die Milizen wieder nach Suwayda und Deraa zurückgekehrt.

 

Und werden Deraa und Suwayda auch einen Platz in der Übergangsregierung von HTS haben?

Dies bleibt abzuwarten. In Aleppo wurde dies der Bevölkerung bereits mitgeteilt, es ist unklar, ob dies auch in Deraa oder Suwayda der Fall sein wird. Ich stehe in ständigem Kontakt mit Kurden, Christen und Armeniern: Die Signale sind sehr positiv. Man muss aber auch sagen, dass Aleppo, Damaskus oder Homs nicht Idlib sind. Idlib ist eine kleine Stadt – Hayat Tahrir Al-Scham muss sich erst noch beweisen. Ich bin unglaublich froh, dass das Regime gefallen ist.

 

Was sind Ihre größten Sorgen für das Land?

In erster Linie die Rolle Israels: Israel hat fast die gesamte syrische Armee ausgeschaltet und hält die gesamten Golanhöhen besetzt, seit Sonntagabend sind sie auch in Quneitra präsent. Die Regierung Netanjahu ist völlig unberechenbar, und gleichzeitig ist die Armee nur noch wenige Kilometer von Damaskus entfernt. Doch Israel ist nicht die einzige außenpolitische Herausforderung.

 

Sondern?

Es ist nach wie vor nicht ausgeschlossen, dass sich die Kurden abspalten. Jeder Staat hat seine Interessen in Syrien: Jordanien betrachtet die Hayat Tahrir Al-Scham als dschihadistische Muslimbruderschaft, die Türkei will weitere Gebiete für sich gewinnen können. Die Gefahr eines Zerfalls Syriens bleibt real.

 

Der Journalismus hat Sie ins Exil gezwungen. Planen Sie Ihre Rückkehr?

Tatsache ist, dass sich jemand, der echten Journalismus betreibt, Feinde macht – und zwar bei allen Parteien. Derzeit sehe ich nicht, wie ich in Syrien in Sicherheit leben könnte. Wenn wir eine funktionierende Justiz sehen, wenn die Waffen abgezogen werden, werde ich reisen. Ich möchte das Land wieder aufbauen – aber in Sicherheit.

 


Waleed Al-Nufal wurde 1998 in Deraa geboren. Er ist investigativer Journalist und arbeitet seit 2016 für das Portal »Syria Direct«. 2013 musste er Syrien verlassen und lebte zunächst in Jordanien, bevor er nach Paris zog, wo er auch heute noch lebt.

Von: 
Pascal Bernhard

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