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Emigration aus Afghanistan

Wieder eine Generation vor dem Exodus

Feature

Aus Afghanistan kommt die zweitgrößte Gruppe von Flüchtlingen Richtung Europa und Deutschland. Eine Kampagne junger Afghanen versucht, Ausreisewillige zum Bleiben zu motivieren. Und was unternimmt die Regierung in Kabul gegen den Exodus?

Die Krise in Afghanistan ist bereits fern der Heimat sichtbar, am Flughafen Köln-Bonn. Dort fährt seit einer Woche jeden zweiten Tag ein Zug mit Flüchtlingen aus Bayern am Flughafen-Bahnhof ein. 400 bis 500 Menschen in einem Intercity, darunter zahlreiche Afghanen. »Die Flucht ist gefährlich«, sagt ein Mann aus Maidan Wardak, einer Provinz, in der viele Taliban ihr Unwesen treiben. »Bei der Überfahrt über das Meer zwischen der Türkei und Griechenland gehen immer wieder Menschen über Bord. Manche ertrinken oder bleiben einfach zurück.«

 

Der Mann trägt ein Plastik-Band am Handgelenk. »SALZBURG« steht drauf. Registriert wird er viel später erst, nachdem ihn der Bus in eine neue Unterkunft gebracht hat. Über 55.000 Afghanen, so UN-Angaben, haben ihr Land nach Deutschland und Europa verlassen. Viele weitere Tausende sind auf dem Weg. Das zweitgrößte Kontingent nach Syrern, abgesehen von den Balkan-Ländern.

 

Die Hauptgründe: fehlende Sicherheit und wirtschaftliche Depression. In Afghanistan herrscht rekordverdächtige Arbeitslosigkeit. Überall werden Beschäftigte entlassen. Der Staat kann seine Lehrer nicht mehr bezahlen. Handel und Steuer-Aufkommen verzeichnen Einbußen von bis zu 40 Prozent. Dazu die prekäre Sicherheitslage: neben Taliban, Warlords und privaten Milizen auch Entführungen und die neue Gefahr durch gewendete Taliban, die im Zeichen des sogenannten IS kämpfen. Die Depression ist allenthalben spürbar. In Kabul wird der Besucher aus Europa ausgefragt, wie die Aussichten auf Asyl in Deutschland stünden. Treffpunkt für Ausreisewillige ohne Flugschein sind vor allem Busbahnhöfe.

 

»Ich warte hier auf meinen Pass. Sie sehen ja: Viele meiner Mitbürger wollen ins Ausland, aus einer Reihe von Gründen. Ich will nach Europa«, erzählt ein Mann mit Kind im Arm. Dutzende Busse fahren täglich in Richtung iranischer Grenze. Von dort schlagen sich die Reisenden mithilfe von Schleppern in kleinen Gruppen weiter durch. Viele junge Männer sind darunter. So droht Afghanistan nun, eine ganze Generation zu verlieren.

 

Spät startet nun eine Gegeninitiative. »Afghanistan needs you – Afghanistan braucht dich« heißt eine Kampagne junger Afghanen aus Kabul, die zum Bleiben auffordert. »In den vergangenen Monaten sind viele junge Menschen geflohen, auch aus meinem Bekanntenkreis«, so Initiator Shekeb Mohsenyar. »Aber die letzten fünfzehn Jahre dürfen nicht umsonst sein. Es kann nicht sein, dass der Wegzug der Jungen das Land in die Krise stürzt.«

 

»Afghanistan needs you« wirbt auf Twitter und Facebook. In Tweets wird unter anderem eine Arbeitsvermittlung für junge Menschen nach europäischem Vorbild gefordert. »Wir bekommen 150.000 Klicks über die sozialen Netzwerke und wollen uns jetzt über Zeitungen und mit Interviews bekannt machen«, so Mohsenyar. »Es steht keine Partei oder Organisation dahinter. Wir wollen jetzt Prominente ansprechen: Sportler, Künstler, Politiker. Der Aufruf soll helfen, Vertrauen in Regierung und Staat zurückgewinnen.

 

«Der afghanische Philosoph Masoud Rahel mahnt deshalb: »Das hat massive Konsequenzen für Afghanistan selbst und den Widerstand gegen Taliban und Extremisten. Was wir brauchen, sind mehr Entwicklungsprojekte für afghanische Jugendliche. Damit auch der Mittelstand bleibt. Wir können nicht die ganzen Jugendlichen an Deutschland und Europa verlieren.« Fehlende Bildungsmöglichkeiten sind immer wieder ein Thema der Kampagne. Von geschätzten 400.000 Schulabgängern bekommt nur ein Bruchteil einen Studienplatz oder eine Ausbildung. Dazu kommt die Unsicherheit. Kaum eine Woche in Kabul, in der es keine Anschläge gibt. 

 

»Der Abzug war legitim. Aber das Partnering muss man entschlossen unterstützten«

 

»Man verbreitet ein Panik-Gefühl in Europa. Afghanistan haben die Europäer quasi aufgegeben«, findet Masoud Rahel. »Man hört es in Berlin und in Köln so, als ob es morgen oder übermorgen an die Taliban übergeben werden soll. Das bekommen natürlich die Afghanen mit. Dann fliehen sie halt. Der Abzug war legitim. Aber das Partnering muss man entschlossen unterstützten.«

 

Die afghanische Regierung erklärt, man habe alle Anstrengungen unternommen, um junge Menschen im Land zu halten. Das sehen viele anders und kritisieren Seilschaften von Warlords und ethnische Bevorzugung bei der Jobvergabe. Vitamin-B gehe vor Qualifikation. »Unser Präsident und die Minister behaupten, Afghanistan sei sicher und es gäbe hier Arbeit – das ist eine blanke Lüge«, so unlängst Ramazan Bashardost, der im Unfrieden geschiedene frühere Planungsminister der Regierung Karzai – ein Populist und bekennender Kritiker internationaler Hilfsorganisationen.

 

»Wie können Sie jene verurteilen, die als Migranten unterwegs sind? Warum bekommt ein fertiger Medizin-Student keinen ordentlichen Arbeitsplatz?«, fragt Bashardost öffentlich. Ein Kommentar auf der Homepage von »Afghanistan needs you« nennt die Ausreise dagegen »Verrat am Land«. Ein Tweet mit Foto zeigt einen Studenten mit schwarzem Doktorhut und Anzug, wie er über einer Pfanne einen Maiskolben brät. »Wann wird dieser Absolvent wohl das Land verlassen?«, steht darunter.

 

Von den Ankömmlingen am Köln-Bonner Flughafen sind dagegen viele ohne Schulabschluss. Minderjährige sind darunter. Erschöpft von einem Monat Strapazen über Berge und Meere. »Deutschland ist für mich das Land der Menschenliebe und der Humanität. Mein Sohn und ich wollen etwas davon lernen«, sagt ein Afghane, der die Nachrichten der vergangenen Tage auf seinem Handy verfolgt hat.

 

Und Afghanistan? Obwohl sie größtenteils ihr Militär abgezogen haben, finanzieren Deutschland und der Westen nicht nur den Löwenanteil der afghanischen Streitkräfte. Sie verfügen so über ungleich mehr Einfluss als in Syrien oder dem Libanon. Wird es also bald auch »Hotspots« und Flüchtlings-Krisendiplomatie am Hindukusch geben? »Wichtig«, so Masoud Rahel, »sind Projekte für Jugendliche, Projekte für Wohnungsbau. Und der afghanische Mittelstand muss unterstützt werden. Wir können das auch mit weniger Mitteln machen, verglichen mit den 10 Milliarden US-Dollar, die wir für Flüchtlinge in Deutschland ausgeben.«

Von: 
Martin Gerner

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