Ein junger Deutschkurde zieht in den Kampf, gegen den »Islamischen Staat« und für Kurdistan. Mit dabei: eine Frau, die dort bereits als Kriegsheldin verehrt wird. Ob das eine gute Idee war?
An dem Tag, als kurdische Peschmerga-Truppen aus dem Nordirak die Stadt Sindschar vom »Islamischen Staat« (IS) zurückerobern, durch die kaputten, mit Geröll und zurückgelassenen Militärlastwagen verstopften Straßen vorrücken und sich zusammen mit den Kämpfern der kurdisch-türkischen PKK, der kurdisch-syrischen YPG und der jesidischen Sindschar-Allianz auf die Suche nach verbliebenen Gegnern und Minen machen, vorbei an entweder vom IS oder von dem tagelangen Bombardement der US-Luftwaffe plattgemachten Häusern, an diesem Tag geht Kawa Prüfer in der Küche einer Peschmerga-Basis auf und ab und jagt Fliegen mit der Hand.
Kawa hätte gern mitgekämpft. Gegen die IS-Leute. Und für ein vereintes, freies Kurdistan. Dafür ist der Deutschkurde aus Karlsruhe in den Nordirak gereist. Wie im Frühjahr zuvor, als er schon einmal an vorderster Front war, sechs Monate lang, wie er sagt. Im Herbst 2015 wollte der 29-Jährige wieder in den Krieg ziehen. Aber dieses Mal ist alles nicht so einfach. Dieses Mal ist seine Mutter dabei. »Sonst lasse ich dich nicht wieder gehen«, hatte Majeda Prüfer ihm gesagt. Die 51-Jährige hat früher selbst für Kurdistan gekämpft, gegen den Irak und Saddam Hussein. 1985 ist sie mit ihrem damaligen Mann und Kawa im Bauch aus dem Nordirak geflüchtet und nach einer langen Odyssee in Deutschland gelandet.
Seit zwei Wochen sind Mutter und Sohn nun in diesem Land unterwegs, das offiziell »Autonome Region Kurdistan« (KRG) heißt. Per Direktflug von München in der zweitgrößten Stadt Sulaimaniya angekommen, geht es weiter im gemieteten schwarzen Toyota Landcruiser, über schnurgerade Straßen durch die Wüste und enge Serpentinen durch die Berge. Immer auf dem Weg nach, ja, wohin eigentlich? »Zum Kämpfen an die Front«, sagt Kawa immer wieder. Tatsächlich ist tagsüber nie klar, wo das Auto am Abend halten wird. Die Route bestimmt die Mutter spontan auf dem Beifahrersitz in einer schier endlosen Folge hektischer Telefonate.
Die Fahrt endet dann meist bei einem Onkel oder einem Cousin, von denen es überall im Nordirak welche zu geben scheint. Dort wird viel auf Sofas gesessen, viel gegessen, viel Tee getrunken, viel geredet, vor allem über den Krieg. Aber den Krieg selbst verpasst Kawa Prüfer immer wieder.
Kawa Prüfer versucht es auf eigene Faust
Jetzt steckt er in der Basis von Khanakin fest, einer 170.000-Einwohner-Stadt, 500 Kilometer südlich von Sindschar. In der Küche wirkt der massige junge Mann wie ein hungriger Bär in einem Käfig. Eigentlich hat er hier eine Aufgabe: Bodyguard für Hamaraheem Jihaz, den alle nur beim Vornamen nennen; ein früherer Kamerad der Mutter im Partisanenkrieg. Im neuen kurdischen Quasistaat ist Hamaraheem ein hohes Tier bei den Peschmerga und Chef der Basis. Und nach dem Frühstück erst einmal verschwunden.
»Vermutlich bei einer Konferenz«, sagt Kawa, der den Morgen damit verbringt, Sonnenblumenkerne auszuspucken und Actionfilme aus Hollywood auf dem Flachbildfernseher im Wohnzimmer des Basischefs zu gucken. Zwischendurch geht er raus vor die Tür, eine rauchen. Unter dem rechten Ärmel seines Hemdes schimmern grünlich die dicken Buchstaben hervor, die er sich auf den Unterarm hat tätowieren lassen: KFFK – »Kurdistan Forever, Forever Kurdistan«. Die Hände steckt er in die Taschen seiner Flecktarn-Hose und schaut in die ockerfarbene Welt hinein. So steht er da, oben zivil, unten Militär. Während der Westen darüber diskutiert, ob und wie man gegen IS Krieg führen soll, versucht er es hier im Nordirak auf eigene Faust. Obwohl er nie hier gelebt hat und nur ein paar Worte Kurdisch spricht. Obwohl nicht ganz klar ist, ob die Kurden ihn überhaupt hier haben wollen. Und ob seine Mutter, die in Kurdistan eine Art Nationalheldin ist, ihm dabei hilft oder ihn eher daran hindert.
Kawa ist ihr Ältester, sie hat noch zwei Söhne und zwei Töchter. Bis auf die ältere Schwester leben alle zusammen in einer Wohnung in der Karlsruher Nordstadt. Dort treffen wir die Familie zum ersten Mal an einem sonnigen Spätsommertag im September. Vor den gepflegten Häusern stehen Mittelklasseautos und Fahrräder mit Kindersitzen. Trotzdem fühlt sich Kawa Prüfer für die Sicherheit der Besucher verantwortlich. Als wir den Wagen parken, kommt er an unser Autofenster und sagt: »Ey, den Wagen musst du nicht abschließen.« Die Leute hier im Viertel würde er alle kennen, da brauche man sich keine Sorgen machen. Hier in seinem Block ist er der Babo oder hält sich zumindest dafür. Auf jeden Fall wirkt er wie das Gegenteil der auf Bildern immer so verschüchtern und blass aussehenden Migrantensöhne aus Dinslaken, die nun irgendwo für IS kämpfen.
Die Wohnung ist großzügig und modern, fast alle Möbel sind weiß. Exotisch sind nur die zahlreichen Bilder an der Wand von Männern mit dichten, schwarzen Schnäuzern; viele von ihnen tragen Militäruniform. Kawa hat hier die längste Zeit seines Lebens verbracht. Auch geboren ist er in Karlsruhe. Dann trennten sich seine Eltern, seine Mutter zog mit ihm nach Portugal. Dort lernte seine Mutter einen Deutschen kennen, mit dem sie die anderen Kinder bekam. Es ging zurück nach Deutschland, erst nach Berlin, dann in ein Dorf in Brandenburg und 1997 schließlich in die Nordstadt. Auch die zweite Ehe der Mutter zerbrach. Beide Ex-Männer leben in derselben Stadt, seinen Vater trifft er manchmal, seinen Stiefvater gar nicht mehr. Trotzdem hat er dessen Namen angenommen. Mit dem Nachnamen Prüfer sollte die Integration einfacher gelingen als mit Rajab Wali, dem Mädchennamen der Mutter.
Es blieb schwierig. Immer wieder musste er die Schule wechseln, erzählt Kawa, während er in der geräumigen Karlsruher Küche in eine Schüssel voller Hackfleisch greift und Köfte formt. Ein Außenseiter blieb er überall. Zu den meisten Deutschen hätte es immer eine Kluft gegeben. »Ich sage dir, wie’s ist. Wir sind Ausländer mit dunkler Hautfarbe, dunklen Augen und schwarzen Haaren. Und als Kurden galten wir im deutschen Staat als Terroristen.« Wenn er in der Schule gefragt wurde, woher er komme, und er geantwortet habe‚ er sei Kurde, sagt Kawa, »dann ging’s richtig los: ›Ah, ihr habt ja gar kein Land, euch gibt es ja gar nicht.‹ Dazu kamen die assimilierten AKP-Türken. Die haben ihren Kindern sonst was über die Kurden erzählt. Und dann begrüßen dich die Kinder am nächsten Tag mit dem Graue-Wölfe-Zeichen.«
Den Realschulabschluss schaffte Kawa Prüfer mit Mühe, dann ließ er sich zum Tischler ausbilden, fühlte sich dabei aber nicht wohl. Dann erlernte er einen Beruf, der zu seiner Statur und seinem Gebaren passt: Sicherheitsdienst und Personenschutz. Die Ausbildung schloss er ab, den Beruf übte er aber hauptsächlich bei einer Kölner Motorradgang aus, die mehrheitlich aus Kurden be- steht: Median Empire. Auf seinem anderen Arm ist in fetten Lettern tätowiert "EFFE" - Empire Forever, Forever Empire. Der Name bezieht sich auf das Medische Reich, das vom 8. bis zum 6. Jahrhundert vor Christus bestand. Viele Kurden sehen sich als Nachfahren der Meder.
Mit Prostitution, Drogenhandel und anderen illegalen Aktivitäten haben die Rocker nach eigenen Angaben nichts zu tun. In Köln haben sie aber einige »Türen«, stellen also die Türsteher vor Diskotheken. Kürzlich hat er sich von der Verbindung getrennt. »Im Guten«, sagt er. Es klingt, als wäre das nicht so einfach und würde nicht jedem gelingen. Jetzt geht er seinen eigenen Geschäften nach. Wohl nicht alle davon sind kerzengerade.
Verkleidet als Schäferjunge schmuggelte sie Nachrichten und Munition
Majeda Prüfer kommt in die Küche mit einer riesigen Tüte in der Hand und ihrem iPhone ans Ohr geklemmt. Sie klärt einen Termin mit einer Mitarbeiterin der Koordinierungsstelle für Flüchtlinge. Mit ihrer Arbeit als Dolmetscherin bessert sie ihr Hartz IV auf. Außer Deutsch und Kurdisch spricht sie auch Arabisch und Farsi und hat viel zu tun in diesen Tagen. Nachdem sie das Telefonat beendet hat, grinst sie ihren Sohn breit an. »Überraschung«, sagt sie und öffnet die Tüte. Die ist voller Socken. Auch Kawa muss lachen, »Du bis völlig durchgeknallt«. Kichernd erklärt die Mutter, gestern hätten sich Kawa und sein 20-jähriger Bruder darüber gestritten, wem welche Socken gehörten.
Nachdem ihr Sohn die Küche verlassen hat, dauert es nicht lange, bis Majeda, eine gedrungene Frau mit halblangen Haaren und großen schwarzen Augen, ihre eigene Geschichte erzählt. Sie handelt von einer Welt voller Krieg, Entbehrung und Verlust. Und trotzdem spürt man, wenn sie inmitten der Karlsruher Gediegenheit und Ordnung darüber spricht, in ihrer Stimme die Sehnsucht nach genau dieser Welt.
Majeda Prüfers Familie gehört zum einflussreichen Jaf-Clan, dessen Geschichte sich bis ins frühe 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und von dem im Irak und in Iran zwischen drei und fünf Millionen Menschen abstammen. Geboren wurde sie 1964 mitten hinein in einen der vielen Unabhängigkeitskriege der Kurden im Nordirak. Ihre Eltern waren eine für Kurdistan ungewöhnliche Verbindung eingegangen: Der Vater Rajab Jaf war Teil der Elite in der Stadt Khanakin, die Familie der Mutter Badrai stammte aus einem ärmlichen Viertel der Stadt.
Rajab Jaf war zudem ein Anführer der Eliteeinheit Peschmerga Derin, »tiefe Peschmerga«, die sich permanent im Guerilla-Kampf gegen das irakische Regime befand. Und Majeda machte mit, schon als junges Mädchen. »Mein Vater hat mir immer gesagt, ich wäre seine tapferste Kriegerin.« Verkleidet als Schäferjunge durchquerte sie zu Fuß und auf dem Fahrrad die Berge, um Nachrichten, Munition und Material für Bomben zu überbringen.
Ein gefährlicher Job, erzählt sie, während sie die Preisschilder von den Socken abschneidet und diese sortiert. Einmal, da war sie 14 Jahre alt, nahmen irakische Truppen sie gefangen und hielten sie als Geisel, damit ihr Vater sich stellen und seine Kameraden verraten würde. Ihr Vater blieb hart. Mehrere Wochen lang wurde sie immer wieder misshandelt und verhungerte fast, bis die Iraker das Interesse an ihr verloren und sie aussetzten.
Etwas später wurde sie selbst Teil der Einheit, als eine von ganz wenigen Frauen, die mit den Peschmerga kämpften. Zwei Jungen verlor die 17-köpfige Familie. Der erste war ein Säugling und schlief auf der Brust der Mutter, als ein Scharfschütze ihn erschoss. Einige Jahre später sah Majeda die Leiche des anderen über einem Zaun hängen im Gebiet der irakischen Truppen. »Niemand konnte den Leichnam heimholen und ihn anständig begraben, das war für uns die schlimmste Demütigung.«
Mehrmals wird das Gespräch in der Küche vom Klingelton ihres Handys unterbrochen. Der Sohn eines Cousins ist nach Deutschland geflüchtet und heute angekommen. Nun bespricht Majeda über Viber mit den Eltern des Mannes im Nordirak und mit dem Schleuser, der ihn hierhergebracht hat, was mit ihm geschehen soll. Dann spricht sie über ihre eigene Flucht. Die begann 1985 damit, dass ein Granatsplitter sie im rechten Oberschenkel traf. In ein irakisches Krankenhaus konnte sie nicht, also wurde sie nach Iran gebracht. Das Land steckte damals mitten in seinem eigenen Krieg mit dem Irak und unterstützte die dortigen Kurden.
Für sie war es das Ticket hinaus aus dem ewigen Kampf und all dem Leid. Nach der erfolgreichen Behandlung kamen sie und ihr Mann in einem Flüchtlingslager unter. Aber die tief religiöse Gesellschaft, in der Frauen keine Aufstiegschancen hatten, war nichts für Majeda, die marxistisch-atheistisch erzogen worden war. Alle in ihrer Familie waren Mitglieder der »Patriotischen Union Kurdistans« (PUK), jener sozialistisch-säkularen Partei, die Jalal Talabani, der spätere Präsident des Irak, 1975 gegründet hatte. Majeda zog es nach Südjemen, damals das einzige Land im Nahen Osten, in dem Frauen mehr oder weniger gleichberechtigt waren.
Stattdessen aber begann eine abenteuerliche Reise in den Westen, die in Portugal zu enden schien. Dort kaufte sie ein Stück Land und baute es zu einem kleinen Landwirtschaftsbetrieb aus. Sie lernte einen Deutschen kennen, bekam eine Tochter und heiratete – »ein kleines Glück«. Doch der Familie in der Heimat, die dort in einer Art Konzentrationslager lebte, ging es unterdessen immer schlechter. Schließlich verkaufte Majeda Prüfer Haus und Hof und zog mit ihrem Mann nach Deutschland. Mit dem Geld bezahlte sie Schleuser und Anwälte. Mit deren Hilfe gelang es, ihre Eltern und ihre zwölf verbliebenen Geschwister und deren Familien in die USA zu bringen. 1997 konnte sie sich in Karlsruhe mit ihren Kindern niederlassen.
Kawa nennt seine Mutter »Frau Hitler«, sie antwortet: »Lass mich in Ruhe, Mussolini«
Dort ist es mittlerweile Abend geworden. Den Flüchtling hat sie nicht erreichen können. In der Wohnung herrscht reges Treiben, Kawa, die drei Geschwister und fünf seiner Kumpels sind da. Fürs Abendessen will Majeda noch in den Supermarkt. Vorher noch beim Bahnhof vorbeischauen, falls der Flüchtling dort auf sie wartet. Einer der Kumpels fährt sie in seinem Auto. Während der Fahrt telefoniert sie ständig mit Kawa. Am Bahnhof wartet niemand. »Kawa wird böse sein, weil alles so lange dauert«, sagt sie.
Weil er der Mann im Haus ist? Kawa hilft in der Küche, räumt die Wohnung mit auf, weckt den jüngsten Bruder, wenn der zur Schule muss. Als der ältere am Abend unwillig auf die Aufforderung reagiert, den Tisch zu decken, sagt Kawa: »Großer, wenn du das nicht machst, ramm ich dir ein Messer zwischen die Augen.«
Absurde Drohungen wie diese gehören zu seiner Art Humor. Dennoch weiß man nie so genau, ob er es nicht doch einmal ernst meinen kann. Eine Undurchsichtigkeit, die ihm offenbar gefällt. Die Fixierung von Mutter und Sohn aufeinander hat etwas von einem Ehepaar. Es gibt unzählige Insider-Witze, Kawa nennt sie »Frau Hitler«, sie antwortet mit: »Lass mich in Ruhe, Mussolini.« Fast jeder Handlung geht entweder eine lange Diskussion voraus oder folgt ihr. Meistens endet das in Gelächter, manchmal aber auch im gegenseitigen Anschreien. Das vorauszusagen ist unmöglich. Kawa beschreibt das Verhältnis so: »Die Frau ist Löwe. Ich bin Widder. Das knallt komplett. Sie ist der Meinung, sie hat immer Recht. Und ich bin ein Sturkopf, der mit dem Kopf durch die Wand geht.«
Alle am Tisch beim Abendessen haben einen Migrationshintergrund. Außer der Mutter, die hin und wieder nach Worten sucht und nicht alle Sätze korrekt bildet, sprechen alle ganz normal Deutsch. Thema ist die extrem scharfe Soße, die Majeda benutzt.
Kawa: »Das ist Misshandlung. Da sind bestimmt schon Leute dran gestorben.«
Majeda: »Ich nicht.«
»Du bist ja auch ein Zustand.«
»Wie bitte?«
»Schmeckt gut.«
»Ich habe dich ganz genau verstanden. Ich will, dass alle hören, was du gesagt hast.«
»Bitte Mama, wenn du mir eine Ohrfeige gibst, dann wasch' dir vorher die Hände, weil sonst brennt das noch die nächsten sechs Stunden.«
Großes Gelächter. Später erreicht die Majeda den Sohn ihres Cousins endlich direkt. Er ist in der Nähe von Nürnberg angekommen. Am nächsten Morgen wird sie ihn mit dem Zug abholen.
Wir besuchen die Familie erneut Ende Oktober am Abend vor dem Abflug nach Sulaimaniyya, der zweitgrößten Stadt des Nordiraks, im Osten der Republik. Majeda hat drei Koffer voll mit Kinderklamotten gepackt für die Söhne und Töchter ihrer Onkel und Tanten. Kawa sitzt auf dem Boden in seinem Kinderzimmer vor einem Regal, in dem die gleichen Bücher stehen wie in Millionen anderer deutscher Kinderzimmer auch: Astrid Lindgren, Michael Ende, Klaus Kordon. Auf dem obersten Bord hat Majeda fünf Puppen platziert, jede symbolisiert eines ihrer Kinder. Die, die für Kawa steht, trägt eine Tarnfleck-Mütze. In seine Tasche packt Kawa eine schusssichere Weste, einen Entfernungsmesser und ein Nachtsichtgerät. Die beiden Geräte will er seinen Kommandeuren als Geschenke mitbringen.
In der Sicherheitskontrolle am Münchner Flughafen kommen beide ins Gespräch mit einem älteren Kurden. Majeda fragt ihn, ob er sich freue auf Kurdistan. Das schon, sagt der Mann, aber es würde ja auch eine Menge schieflaufen dort. Er fühle sich wohler in Deutschland, wo alles funktioniere. Der Besuch eines Hallenbades koste hier 3,50 Euro, in Kurdistan hätten nur die reichen Familien ihre eigenen Pools. Sofort wird Majedas Ton scharf. »Wie kannst du es wagen, nicht stolz zu sein auf unser Land?! Ich habe mein Leben für die Freiheit riskiert, und jetzt macht mein Sohn das, obwohl er nicht einmal dort gelebt hat.«
Als Kawa Prüfers Sitznachbar im Flugzeug ihn fragt, was er beruflich mache, sagt er: »Ich bin Soldat.« Er mixt Wodka und Tomatensaft zusammen und erzählt uns von seinem Krieg, seinem ersten im vergangenen Jahr. Als die IS-Kämpfer in Syrien und im Nordirak immer mehr Kurden töteten, hätten er und seine Freunde von der Motorradgang beschlossen, dass man da nicht länger tatenlos zusehen könne. »Die töten da unsere Brüder.« Mit ein paar anderen Mitgliedern machte er sich im Frühjahr 2014 auf in die Südtürkei und die kurdischen Gebiete in Syrien. Tatsächlich gab es auch in Deutschland Schlagzeilen über die »Kölner Rocker im Kampf gegen IS«. Auf einigen der verschwommen Zeitungsbilder ist Kawa Prüfer zu sehen. Dabei sei es eher ein »humanitärer Einsatz« gewesen, sagt er. Sie gingen in die zerstörten Dörfer und die Flüchtlingslager und halfen den Menschen, wie sie konnten. »Da ist mein Hass auf diese Arschlöcher gewachsen und gewachsen.«
Als später einer seiner Onkel im Kampf gegen IS fiel, sei für ihn klar geworden, dass er jetzt selbst kämpfen müsse. »Viele meiner Freunde haben mich gefragt, warum gerade ich das machen müsse; sie wollten mich nicht verlieren. Das finde ich egoistisch. Wenn jeder so denkt, macht niemand was, dann geht niemand hin und dann sterben alle.« Außerdem kämpfe er nicht nur gegen IS, sondern auch für ein freies Kurdistan. »Ich sage dir, wie’s ist. Wir sind es gewohnt, dass die Leute uns bekämpfen. Das wird weiter so laufen, bis wir einen Staat haben. Wenn wir unser eigenes Land und unsere Grenzen haben und alles offiziell auf der Landkarte ist, dann wird es niemanden mehr geben, der uns einfach überfällt.«
Dann habe ich denen gezeigt, dass ich zwei Meter hoch kicken kann, und dann war Ruhe
Sein erster »Einsatz« begann mit einer Art Grundausbildung bei den Peschmerga im Nordirak, etwa ein Dreivierteljahr nach der Reise mit seinen Rocker-Freunden. »Es gibt da viele, die aus dem Ausland kommen und gegen den IS kämpfen wollen«, sagt Kawa. Allerdings seien viele Selbstdarsteller darunter. Die Peschmerga würden in dieser Zeit prüfen, wer wirklich infrage kommt. Ob man den Test bestanden hat, sage einem niemand. Im negativen Fall würde man einfach nie von der Basis abgeholt. »Auch bei mir hatten die Zweifel wegen meiner Körperfülle. Dann habe ich denen gezeigt, dass ich zwei Meter hoch kicken kann, und dann war Ruhe.« Bei ihm kam der Pick-up, der ihn mitnahm an die Front.
Er bekam kein Geld, schob täglich Wache, schlief auf Teppichen unter Plastikplanen, aß fast nur Reis mit Bohnen und war teilweise 14 Stunden unter Beschuss, erzählt er mit einer Gelassenheit und Ruhe, die ihn wohl als alten Kriegshasen ausweisen soll. Ausgemacht habe ihm das nichts. »Ich habe immer gesagt, ich will ganz nach vorn. Da, wo’s richtig knallt, da will ich sein.« Wirklich? Keine Angst? »Wenn’s passiert, passiert’s. Man kann auch beim Scheißen sterben.« Auch wenn der Tod ganz nah an ihn herankam. Mit einem Kameraden hatte er morgens noch gefrühstückt. Anderthalb Stunden später traf den ein Schuss im Hals und tötete ihn sofort. »Das war ein Schock, das erste Mal, dass ich das so sehe. Das ist kein Spiel oder ein Film. Du kannst nicht zurückspulen und er ist wieder da.« Und er selbst, hat er auch getötet? Darüber will Kawa Prüfer nicht sprechen.
Dabei hält er sich doch sonst nicht zurück. Auch nicht mit Anekdoten, die man nur schwer glauben kann. Etwa, dass ihn einmal der Verfassungschutz am Flughafen zur Seite nahm, ihn befragte und sich danach bei ihm meldete, um Informationen über Kurdistan zu erhalten. Unzählige Male hat Kawa die Geschichte vom Kampf seiner Mutter gehört und miterlebt, wie sie in Kurdistan verehrt wird. Bastelt Kawa Prüfer sich mit seinen Fahrten in den Nordirak seine eigene Saga zusammen? Gleich nach der Ankunft im Nordirak erleben wir, welchen Status Majeda hier hat. Bei der nächtlichen Autofahrt von Sulaimaniyya nach Khanakin müssen wir durch unzählige Checkpoints. Dann zeigt sie stets eine Karte mit ihrem Bild, die sie als Mitglied der Peschmerga Derin ausweist. Es wirkt vor jeder Schranke und jedem Tor wie ein »Sesam öffne dich«; die Augen der Wachsoldaten leuchten auf und sie stehen noch ein bisschen strammer.
So geht es die gesamte Reise über. Oft begleitet den schwarzen Toyota ein Militärfahrzeug, auf einigen Strecken der ihr persönlich zugeteilte Bodyguard. Der wirkt mit seinem beigefarbenen Anzug, dem schwarzen Hemd und den braunen, teuren Schuhen wie ein Nahost-James-Bond. Majeda genießt die Aufmerksamkeit offensichtlich. Manchmal scheint es, als würde sie ihren Ausweis auch dann zeigen, wenn es nicht unbedingt nötig wäre. »In Deutschland bin ich ein Niemand, und hier liegen mir die Leute zu Füßen«, sagt sie einmal. Ihr Sohn muss nicht ein Mal seinen Pass zücken. Weit wäre Kawa ohne sie wohl nicht gekommen. Es ist eine chaotische Reise durch einen chaotischen Staat, kreuz und quer auf staubigen Straßen, vorbei an kargen, felsigen Landschaften. Von Sulaimaniyya nach Khanakin, von Khanakin nach Kirkuk, von Kirkuk nach Erbil und immer wieder hin und zurück. Eintönig wird es dennoch fast nie, dafür sorgen Kawa und Majeda mit ihren Dialogen, die mitunter an Comedy-Sketche erinnern.
Kawa: »Der vor uns hat wohl ‘nen platten Reifen.«
Majeda: »Ach so, ich dachte unser Reifen wäre platt.«
»Ja, genau, aber wir fahren einfach immer weiter.«
»Dein Gehirn ist platt.«
»Es wurde ja auch noch nie aufgeblasen.«
Bei der Beerdigung des Peschmerga-Soldaten laufen Kawa die Tränen hinunter
Doch während wir im Auto dösen, tanken, Handykarten oder Bananen einkaufen, tun wir all das teilweise nur knapp zehn Kilometer von IS-kontrollierten Gebieten entfernt. Zehn Kilometer bis zu einer unbekannten Welt, von der wir nicht die geringste Vorstellung haben. Wir sehen aber, welches Leid der IS in den Nordirak gebracht hat. Bei der Witwe des gefallenen Onkels, die zusammen mit anderen Trauer tragenden Frauen in ihrem kleinen Häuschen sitzt und einfach nicht weiß, wie es weitergehen soll. Im Flüchtlingscamp von Khanakin, in dem 7.000 Menschen unter Zeltplanen leben und das die sintflutartigen Regenfälle der ersten Novemberwoche in eine einzige, riesige Schlammpfütze verwandelt haben. Und bei der Familie des Peschmerga-Soldaten, dessen Hinrichtung der IS am Tag zuvor als Video ins Internet gestellt hat.
Als Majeda davon erfährt, weist sie kurzerhand einen Militärlaster und zwei Soldaten an, ihr zu einem Laden zu folgen. Für 300 Euro kauft sie säckeweise Mehl, Reis und Zucker und palettenweise Bohnen, die die Soldaten aufladen. Der kleine Konvoi fährt zum Heimatdorf des Soldaten. Dort trauern die Bewohner, getrennt in Frauen- und Männerzimmern. Kawa sitzt in einem Raum mit vielen Männern, die mit leeren Blicken vor sich hinstarren. Ihm laufen die Tränen hinunter.
Auch bei den vielen Familienbesuchen wird Majeda umhegt wie ein Star; egal ob in der einfachen Hütte des Bruders ihrer Mutter oder in dem Palast des Bruders ihres Vaters. Später, in der Hauptstadt Erbil, schächtet ein weiterer Onkel ihr zu Ehren ein Schaf. Als das Tier am Morgen auf den Hof gezerrt wird und das Blut hinunter auf die Straße läuft, fragen wir uns unwillkürlich, wie fremd den beiden diese Welt, aus der sie stammen, wohl geworden sein muss. Als es einmal darum geht, wo die Männer schlafen können, damit die Frauen im Haushalt nicht denselben Raum betreten müssen, sagt Kawa: »Da muss man echt aufpassen, sonst wird man gleich verheiratet.« Seine Mutter hat sich einen Toilettenstuhl gekauft, weil die arabischen, in den Badezimmerboden eingelassenen Plumpsklos sie anekeln.
Während Majeda auf den stets als offenes Rechteck angelegten Sofas oder Matten ständig redet, sagt Kawa nicht viel. Sein Kurdisch reicht gerade mal für etwas Smalltalk. Immer, wenn Kinder da sind, hellt sich seine Miene auf, und er spielt liebevoll und ausdauernd mit ihnen. Einmal macht ihm eine vierjährige Cousine ein Armband aus Gummiringen. Kawa legt es nicht wieder ab. Oft schaut er auf das Display seines Handys und checkt, wie seine Statusmeldungen auf Facebook ankommen. Seit seinem ersten Einsatz in Kurdistan hat er so viele Freundschaftsanfragen bekommen, dass er jetzt eine eigene Fanseite hat. Mehr als 5.000 Freunde erlaubt Facebook nicht. Fans kann man unendlich viele haben.
Immer wieder ruft Kawa Zahlen aus. »Krass, das Video hat 480 Views, obwohl es doch nur den Wagen zeigt!« Auch von der Front im vergangenen Jahr hat er zahlreiche Videos auf Facebook eingestellt. Sie zeigen Kawa, wie er in ein zurückerobertes Dorf kommt und die IS-Fahne aus dem Boden herausreißt, wie er auf der Ladefläche eines Pick-up sitzt und wie er vom kurdischen Fernsehen interviewt wird. Nur tatsächliche Kampfhandlungen zeigen sie nicht. Dann, plötzlich, als wir in Khanakin Tee trinken, im herrschaftlichen Haus von Salar Nosieb Ali, dem Cousin der Mutter, spricht dieser Kawa direkt an. Sie seien alle stolz auf ihn, aber wäre er sich eigentlich bewusst, was er tue? Er riskiere hier sein Leben, aber was könne er damit schon bewirken? »Nicht einmal Geld bekommst du dafür. Aber die Generäle, für die du kämpfst, würden nicht einen Finger rühren, wenn sie nicht bezahlt würden. Und die kommen auch nicht auf die Idee, ihre eigenen Kinder in den Krieg zu schicken.«
Er selbst, sagt Salar, habe früher auch gekämpft. Dann sei ihm aber klar geworden, dass nur die Politiker davon profitierten. Sein Haus und sein Ölgeschäft habe er ohne Hilfe aufgebaut. Er öffnet seine Weste und zeigt eine Pistole, die in einem Halfter steckt. »Die muss ich tragen, obwohl ich Zivilist bin. Wir wollen hier im Frieden leben, wie du es in Deutschland kannst. Wenn du dort Leuten mit Einfluss erklärst, was hier passiert, kannst du auf friedliche Weise viel mehr für die kurdische Sache erreichen.« Kawa Prüfer hört sich die Rede stumm an. Dann geht er eine rauchen. »Die müssen doch wissen, dass mich das nur noch mehr antreibt, wenn sie mich davon abhalten wollen«, sagt er. Als Mutter und Sohn wieder im Auto sitzen, ist die Stimmung angespannt.
Kawa: »Mama, ich bin hier, um zu kämpfen, das weißt du, das haben wir abgemacht. Aber was wir machen, ist Familienurlaub.«
Majeda: »Was meinst du denn, was ich die ganze Zeit organisiere? Ich will dich nicht beleidigen oder so, aber du musst das Vertrauen der Peschmerga gewinnen. Dass du überhaupt bei denen sein kannst, hat nicht damit zu tun, dass sie dir vertrauen, sondern nur wegen mir.«
»Okay, wenn du organisierst, dass ich an die Front kann, dann ist das in Ordnung.«
»Genau das mache ich.«
Tatsächlich fahren wir in den nächsten Tagen um Khanakin herum und zwischen Khanakin und Kirkuk von einem Militärlager zum nächsten. Im ersten empfängt uns Hamaraheem Jihaz, der Kampfgefährte aus der Jugend der Mutter. Kawa ergreift die Gelegenheit, ihm hier vor Ort den Entfernungsmesser zu erklären. Hamaraheem schaut zu, sein Blick schweift zwischendurch jedoch immer wieder zu Majeda. Tut er ihr einen Gefallen? Die Soldaten, auffallend wenige von ihnen sind jung, hausen in Gebäuden mit Wänden aus Stein und einer Zeltplane als Dach. Die meisten Häuser sind leer und stehen nach den heftigen Regenfällen unter Wasser. Als wir schon wieder fahren wollen, klopft einer der Wachhabenden ans Fenster. Als wir es herunterlassen, redet er laut auf uns ein. Offenbar hat er mitbekommen, dass hier Journalisten im Auto sitzen.
»Seit Monaten haben wir kein Gehalt bekommen, wir verhungern hier. Wir geben unser Leben für das Land, erst vor einer Woche hat der IS auf mich geschossen. Und was machen Präsident Masoud Barzani und seine Leute von der korrupten Regierung? Die sitzen da auf ihrem Geld und ihrem Öl und tun nichts.«
»Die bedanken sich immer kräftig, wir trinken eine Menge Tee, aber an die Front lassen Sie uns nicht«
Tatsächlich ist das Land bei allem patriotischen Pathos, das fast jeder Kurde, den wir treffen, anstimmt, höchstens im Kampf gegen den Terror vereint, und auch diese Union ist äußerst fragil. Ansonsten ist der Nordirak ziemlich genau in zwei Fraktionen gespalten. Die »Demokratische Partei Kurdistans« (PDK) beherrscht den Nordwesten, die PUK den Südosten. Dabei geht es nicht um Ideologien, sondern vor allem um Macht und Geld. In den 1990er Jahren kämpften die Parteien offen im Bürgerkrieg gegeneinander, immerhin greifen sie jetzt zu zivilen Mitteln. Doch bis heute befehligt jede Fraktion ihre eigenen Peschmerga-Truppen.
Trotzdem, was die Befehlshaber aller Fraktionen über den Stand des Krieges zu sagen haben, ähnelt sich überall stark. In Dakuk treffen wir General Tarik A. Ali, den stellvertretenden Kommandeur der dortigen Basis, ein Anhänger der PDK. Die Fronten im Nordirak hätten sich verfestigt, nachdem man im vergangenen Jahr viele Gebiete hatte zurückerobern können, sagt er. Um weiter vorzustoßen oder gar die vom IS besetzte Millionenstadt Mossul anzugreifen, fehle es vor allem an Waffen. Zwar sei man dem Ausland und vor allem Deutschland sehr dankbar für die bisherigen Lieferungen. Aber noch immer habe der IS das weitaus größere und bessere Arsenal.
Wir verlassen die Prüfers und den General und spazieren über den Hinterhof der Kaserne. Dort sitzt ein westlich anmutender, etwa 25-jähriger Mann, der mit einem Hund spielt. Als wir uns vorstellen und fragen, wer er sei, sagt er, dass er eigentlich nicht mit Journalisten sprechen wolle. Und wenn er seinen Namen nicht zu nennen braucht? »Also gut.« Er sei Franzose und sei Mitglied einer Eliteeinheit gewesen. Mit einigen anderen Kameraden habe er beschlossen, auf eigene Faust gegen den »Islamischen Staat« zu kämpfen. Sie seien in Syrien gewesen, nun sei er hier gelandet. Und ist frustriert. »Von den fehlenden Waffen sprechen immer alle. Aber die sind nicht das Problem.« Viel problematischer seien die mangelnde Struktur und die Rivalität der Truppen untereinander. »Bevor hier irgendetwas geschieht, geht es immer darum, wer jetzt zur PUK oder zur PDK gehört.« Zusammen gehe fast nichts, manchmal habe er das Gefühl, die Gruppen würden mehr gegen- als miteinander kämpfen.
Auch mit der legendären Kampfkraft der Peschmerga sei es nicht so weit her. »Die sind einfach schlecht und oft eher gar nicht ausgebildet. Von allen Soldaten, schätze ich, könnte man etwa zehn Prozent als gute Kämpfer bezeichnen.« Und von den anderen Ausländern, die sich hier als Unterstützer andienen, hält er ebenfalls wenig. »Die Mehrheit davon sind Leute, die in ihrer Heimat nichts auf die Reihe kriegen und hier den Helden spielen wollen. Öfter sei er zusammen mit anderen Elitekräften an Peschmerga-Führungsleute herangetreten: »Schaut her, wir wissen, was wir tun, lasst uns das machen. Dann bedanken die sich immer kräftig, wir trinken eine Menge Tee, aber an die Front lassen sie uns nicht.«
Sandsäcke, eine Flak, ein Schützengraben
Mit Kawa und Majeda fahren wir am nächsten Tag an die Front. Von der Hauptstraße biegen wir auf einen schlammigen Feldweg ein. Wir fahren vorbei an völlig zerstörten Dörfern. Von einem Haus steht nur noch die blaue Eingangstür, als ob es dort ins Nichts gehe. Bald sehen wir den Hügel mit der Peschmerga-Stellung. Etwa 200 Meter davor kommt der Wagen nicht mehr weiter, wir gehen das letzte Stück zu Fuß. Oben begrüßt uns Oberst Fakrahden Hawramy. Der Herr mit dem schütteren weißen Haar ist der Chef des Grenzschutzes und kommandiert die Einheit, in der Kawa seinen ersten Einsatz verbrachte.
Die Stellung erinnert an Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg. Geschützt wird sie von einer Brustwehr aus Sandsäcken, darauf befindet sich ein Maschinengewehr auf einer Lafette. Aus Sandsäcken und blauer Plastikplane sind die engen Unterkünfte für die Soldaten gemacht. Als Feldgeschütz dient eine umfunktionierte Flak. Daneben steht ein Käfig mit einem Huhn darin: Mittagessen. Schaut man von der Erhebung nach links und recht, sieht man die lange Linie des Schützengrabens. Schaut man nach vorn, kann man schemenhaft die IS-Stellungen erkennen. Zwei Kilometer sind die entfernt. Trotzdem sitzen die Soldaten ungeschützt auf dem Sandsackwall und baumeln mit den Beinen.
Oberst Fakrahden sammelt die Mannschaft zusammen und hält eine Rede: »Kawa, es ist uns eine Ehre, dass du hier bei uns bist. Du hast ein glückliches Leben in Deutschland, deine Familie und deine Freunde, und trotzdem bist du hergekommen, um mit uns zu kämpfen. Wir führen hier den Krieg für die ganze Welt gegen einen Gegner, der besser ausgestattet ist. Aber wir haben die Menschen mit dem größeren Herz, Menschen wie du, und deswegen werden wir gewinnen.« Während er spricht, schaut der Oberst immer wieder zu Majeda. Als wolle er fragen, »habe ich das so richtig gemacht?« Ihr Gesicht ist rot angelaufen. »Ich habe am ganzen Körper Gänsehaut«, sagt sie.
Auf dem Rückweg sagt Kawa, dass er froh sei, dass die Kameraden die Stellung gehalten haben. »Aber ich will dabei sein, und nicht nur als Besucher.« Dafür werde er sich jetzt eine Waffe besorgen. Als wir ein paar Tage später in Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Teilrepublik, ankommen, kontaktiert Kawa Prüfer einen deutschen Bekannten, Heiko Seybold. Nach eigenen Angaben berät Seybold die kurdische Regierung »in Sicherheitsfragen«. Das Treffen findet in einem etwas heruntergekommen Hotel statt. Ja, sagt Seybold, er kenne da jemanden, bei dem Kawa noch heute eine Kalaschnikow kaufen könne, selbstverständlich ganz offiziell, mit Registrierung und allem. 600 US-Dollar würde die kosten. »Super«, sagt Kawa und ruft seine Mutter an. Etwas später kommt sie ins Hotel und stellt Seybold ziemlich professionelle Fragen. Woher die Waffe stamme und welcher Typ es sei. Als Seybold alles zufriedenstellend beantwortet, sagt sie, dass das wohl ein gutes Geschäft sei.
Im Auto auf dem Weg zum Waffenhändler sagt Majeda zu Kawa, sie habe es sich anders überlegt. »Ich kann dir eine viel bessere Waffe beschaffen.« Kawa willigt ein; das Treffen wird abgesagt. Der anstehende Kalaschnikow-Kauf bestimmt die nächsten Tage. Doch immer wieder sind Leute nicht erreichbar oder doch nicht in der Stadt oder der Preis der Waffe ist zu hoch, sodass die Termine, die Majeda am Telefon vereinbart hat, platzen. Die Stimmung während der langen Autofahrten sinkt rapide. Kawa schweigt meist und beantwortet Fragen unwirsch.
Als wir wieder bei Cousin Salar in Khanakin angekommen sind, eskaliert der Streit der beiden in dessen Wohnzimmer. Minutenlang schreien Mutter und Sohn sich an. Dann steht Salar, der beim letzten Besuch Kawa den Krieg ausreden wollte, vom Sofa auf, verlässt das Zimmer und kommt mit seiner Kalaschnikow in der Hand zurück. Die könne Kawa ausleihen, sagt er. In wenigen Sekunden hat er den dreitätigen Streit zwischen Kawa und Majeda beendet. Kawa bedankt sich unzählige Male. Und auch bei seiner Mutter, als die ihm mitteilt, dass sie ihm einen Leibwächter-Job bei Hamaraheem organisiert hat. Als Vorbereitung darauf baut er die Waffe mehrmals auseinander und wieder zusammen.
Der Job beginnt gleich am nächsten Tag, ungefähr zur gleichen Zeit, als sich im Norden des Landes die Truppen für die Eroberung von Sindschar bereit machen. Als einer von 20 Bodyguards begleitet Kawa Hamaraheem, der mit einer UN-Delegation Jalaula besucht, eine Stadt, die zurückerobert wurde und in der jetzt niemand mehr lebt. Auf der Fahrt dorthin entsichert Kawa die Kalaschnikow.
Ich kenne das Gelände hier nicht und weiß nicht, was gerade abgeht. Daher will ich immer bereit sein. In Jaluala macht die Delegation einen hochgesicherten Spaziergang durch die Ruinen. Kawa läuft neben Hamaraheem her, die Waffe hält er die ganze Zeit betont lässig in der rechten Hand am Schaft. Die Führer präsentieren eine Sprengfalle. Sie haben eine kontrollierte Explosion vorbereitet. Ein ohrenbetäubender Knall. Kawa freut sich wie ein kleines Kind. Vom Einsatz in Sindschar erfährt er erst am Tag darauf. Allein in der Basis, wird er immer unruhiger. Schließlich bittet er uns, seine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass er jetzt nach Sindschar fahren werde. »Bei euch dreht die nicht gleich durch«, sagt er. Oder traut er sich nur nicht? Eine Stunde später kommt Majeda in die Basis, sofort schreien die beiden sich an.
Majeda: »Das macht überhaupt keinen Sinn. Niemand wird uns da reinlassen.«
Kawa: »Das sagst du, aber auch ich habe Verbindungen, ich werde das schon schaffen. Und ob du mitkommst, ist mir scheißegal.«
Majeda: »Gut, fahr' da hin, wenn du sterben möchtest. Aber bevor du das macht, geben wir die Waffe zurück.«
Wir fahren zu Salar. Kawa bleibt beim Wagen, während Majeda mit der Kalaschnikow in dessen Haus verschwindet. Dafür kommen kurze Zeit später der Leibwächter des Cousins und der von Majeda hinaus. Auf Kurdisch und mit Händen und Füßen reden sie auf Kawa ein. Der Leibwächter der Mutter scheint einmal zu versuchen, ihm seinen Ausweis abzunehmen. Kawa reißt sich los, daraufhin gehen die beiden wieder ins Haus. Eine halbe Stunde vergeht. Kawa reißt seine Tasche aus dem Auto. Er will sich jetzt ein Taxi besorgen. Ein Taxi in den Krieg. Er beginnt, hektisch zu telefonieren. Er erreicht keins. Er geht hin und her. Er raucht viele Zigaretten. Eine Stunde vergeht. »Gleich geh' ich an die Straße und halte ein Auto an«, sagt er. Ein paar Minuten später kommt Majeda mit ihrem Leibwächter aus dem Haus. »Fahren wir los.«
Die Stimmung im Auto ist gelöst. Kawa und Majeda machen wieder ihre Hitler-Mussolini-Witze. Nach zwei Stunden Fahrt kehren wir in ein Restaurant zum Abendessen ein. Als wir am Tisch sitzen, sickert durch, dass der Kampf um Sindschar entschieden ist. Kawas Miene ist ein Wechselspiel aus Freude über den Sieg seiner Kameraden und Ärger darüber, dass er wieder nicht dabei war. »Na ja. Da hinzufahren, macht jetzt keinen Sinn mehr«, sagt er. Majeda und ihr Leibwächter schauen sich erleichtert an.
Auf der Rückfahrt nach Khanakin sagt Kawa Prüfer, dass er sich nun vielleicht erst einmal auf sein Leben in Karlsruhe konzentrieren werde. »Ich muss auch irgendwann anfangen, mir eine Zukunft aufbauen.« Seine Mutter ist da schon eingeschlafen. Drei Tage später fliegen Majeda und Kawa Prüfer zurück nach Deutschland. Kawa hat auf Facebook ein neues Profilbild eingestellt. Es ist eines der alten Bilder aus dem Winter 2014/15, das ihn in Uniform im kurdischen Fernsehen zeigt. 146 Leuten gefällt das.