Lesezeit: 8 Minuten
Interview zur Pressefreiheit im Libanon

»Selbstzensur ist an der Tagesordnung«

Interview
Interview zur Pressefreiheit im Libanon
Das Team des libanesischen Nachrichtenportals Megaphone News Megaphone News

Der Libanon eine Oase der Pressefreiheit? Journalisten geraten immer öfter ins Visier von Politikern und Facebook-Mobs, sagt Medienaktivist Jonathan Dagher. Ein Gespräch über gekränkte Minister und Medien als Familienbetriebe.

zenith: Eine Gruppe christlicher Fundamentalisten sowie Würdenträger der Maronitischen Kirche verhinderten im August den Auftritt der Band Mashrou‘ Leila beim Byblos International Festival. Die Band und ihr offen homosexueller Sänger würden religiöse Gefühle verletzen, so der Vorwurf.

Jonathan Dagher: Das Byblos International Festival galt immer als sicherer Hafen für die libanesische Künstlerszene. Mashrou‘ Leila ist dort schon öfters aufgetreten. Die Politik schwieg, so fühlten sich religiöse Instanzen in ihrem Handeln bestätigt.

 

Wie fielen Reaktionen in der Künstlerszene aus?

Aktivisten, Journalisten und Künstler stellten nur wenige Tage später in Beirut ein Solidaritätskonzert auf die Beine. 4.000 Besucher kamen. Die Menschen schwenkten Regenbogenfahnen und Schilder. All diese Menschen waren im Namen der künstlerischen Freiheit vereint. Auch das ist der Libanon: Es gibt immer noch einen robusten Teil der Bevölkerung, der gegen Zensur und Unterdrückung ankämpft.

 

Zusammen mit Tunesien führt der Libanon das Ranking der Pressefreiheit in der arabischen Welt an.

Beim Thema Pressefreiheit wird der Libanon stets mit seinen Nachbarstaaten verglichen. Zum Beispiel mit Syrien, wo Journalist sein bedeutet, eine riesige Zielscheibe auf der Brust zu tragen. Im Vergleich dazu ist der Libanon nach wie vor eine Oase der Pressefreiheit. Dennoch werden Journalisten immer öfter verhört und eingeschüchtert. Die libanesische NGO Social Media Exchange berichtete, dass 2018 38 Journalisten zu Vernehmungen vorgeladen wurden, weil sie im Internet eine unbequeme Meinung äußerten. Im Vorjahr waren es noch elf, 2016 fünf. Man weiß nie, ob ein Witz, eine Meinung, oder ein Meme das man teilt, einen ins Gefängnis bringen wird, oder ob die Behörden es ignorieren werden. Das ist reine Willkür.

 

Welche Auswirkungen hat diese Unsicherheit auf die Berichterstattung der Journalisten?

Solche Maßnahmen führen zu Selbstzensur. Im Libanon ist das durchaus an der Tagesordnung. Viele Journalisten merken das nicht einmal. Erst als ich für mein Stipendium von Reporter ohne Grenzen nach Berlin kam, wurde mir klar, was es bedeutet, ohne Beschränkungen schreiben zu können. Es muss zum Beispiel möglich sein, den libanesischen Außenminister Gebran Bassil zu kritisieren, wenn er faschistische Ansichten vertritt. Vor kurzem sprach er von der »genetischen Überlegenheit« der Libanesen. Journalisten sollten in der Lage sein, sich gegen diese Aussagen auszusprechen, ohne eingesperrt, verhört oder eingeschüchtert zu werden.

 

Ist diese Form der Kritik denn nicht von der Verfassung geschützt?

Die Verfassung schützt die Meinungs- und Pressefreiheit innerhalb der gesetzlich festgelegten Grenzen. Aber Gesetze können geändert werden. Das Strafgesetzbuch verbietet Blasphemie sowie Verleumdung des libanesischen Präsidenten und öffentlicher Angestellter. Diese vagen Definitionen sind dehnbar und schränken letztlich die Meinungsfreiheit ein. Wenn ein Journalist eine Geschichte über einen Minister schreibt, der öffentliche Gelder unterschlägt, dann könnte er vor Gericht landen, weil er den Ruf des Ministers schädigt. Freie Meinungsäußerung bedeutet, zur Not auch respektlos zu sein. Die Meinungsfreiheit muss geschützt werden, indem sie über den Ruf eines Ministers oder des Präsidenten gestellt wird.

 

Der Staat hat also kein Interesse am Schutz von Journalisten?

Nein, das Ziel ist eher, Journalisten in ihrer Arbeit einzuschränken. Es gibt eigentlich keine Gesetze, die Journalisten, Blogger und Menschen schützen, die ihre Meinung online äußern. Wenn Journalisten einen umstrittenen Meinungsartikel veröffentlichen, können schlimmstenfalls zwei Dinge passieren: Entweder werden sie strafrechtlich verfolgt, für ein paar Tage inhaftiert, verhört oder sogar eingesperrt. Oder sie werden dem Mob ausgesetzt, was einen größeren Schaden anrichten kann. Etwa, wenn die Namen deiner Angehörigen plötzlich im Netz stehen.

 

Medienunternehmen im Libanon sind vor allem Familiendynastien. Außerdem pflegen viele Medien Verbindungen in Politik und Wirtschaft. Wie politisiert sind Libanons Medien?

Viele Medien sind entweder im Besitz von Politikern oder erhalten Mittel von politischen Akteuren. Dabei vermeiden sie Themen, die ihre Geldgeber verärgern könnten. Außerdem lassen sich dieselben Meldungen auf zig verschiedene Arten lesen. Ein Beispiel ist die Müllkrise im Jahr 2015. Ein Medium sagt: »Weil Partei X den Müll auf der Straße gelassen hat, demonstrieren die Leute.« Ein anderer Fernsehsender sagt: »Der Müll war auf der Straße und Partei Y griff die Demonstranten an.« Jedes Medium hat einen eigenen Blickwinkel.

 

Spricht das nicht für die Diversität der libanesischen Medienlandschaft?

Es geht hier um die Integrität der Berichterstattung. Vor allem im Fernsehen, wo sich alles um Exklusivmeldungen dreht. Die Fernsehsender bemühen sich nicht einmal um Objektivität.

 

Sie selbst sind Journalist und Medienaktivist. Seit wann engagieren Sie sich für das Thema Pressefreiheit?

Ich komme aus einer sehr politischen Familie. Mein Vater diente in der Armee, meine Mutter war Chefredakteurin der Zeitschrift Al-Massira. Sie übte heftige Kritik an der syrischen Besatzung des Libanon. Ich habe miterlebt, wie sie zum Verhör zitiert wurde, weil sie die Unabhängigkeit des Libanon vom Assad-Regime gefordert hatte. Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit ist fest in mir verankert. Der Wendepunkt für mich war die Müllkrise 2015. Die Menschen gingen vereint gegen das Establishment auf die Straße. Hier habe ich die meisten meiner heutigen Kollegen bei Megaphone News kennengelernt. Während der Proteste erkannten wir, dass es Potenzial für ein neues Medium gibt. Es bedurfte Mut, dieses Projekt zu starten, ohne zu wissen, wo es enden wird.

 

Was unterscheidet Megaphone News von herkömmlichen libanesischen Medien?

Wir sind Freiwillige. Nur gelegentlich bezahlen wir Freelancer für Animationen oder Grafiken. Nicht alle Kollegen sind von Beruf Journalist. Bei uns arbeiten unter anderem Wirtschaftsexperten, Menschenrechtsaktivisten und Programmierer. Außerdem sind wir in sozialen Netzwerken heimisch. Wir wurden als Facebook-Seite geboren und entwickeln jetzt eine Website. Wir sind die Stimme der jüngeren Generation und sind dort, wo das Publikum heute ist. Darüber hinaus sind wir unabhängig, im Gegensatz zu anderen Medien im Libanon. Bei den Zuschüssen, die wir erhalten, sind wir transparent. Es geht uns darum, unsere Integrität zu wahren, indem wir kostenlos arbeiten, anstatt das Geld von Geschäftsleuten oder Politikern zu nehmen, die diese Plattform für ihre politische Agenda nutzen wollen. Jeder von uns glaubt an die Kraft des Journalismus.

 

Gibt es konkrete Projekte an denen Megaphone News arbeitet?

Wir haben ein Videoprojekt gestartet, um den Leuten die Wirtschaft zu erklären. Der Libanon steckt in einer wirtschaftlichen Krise. Es besteht die Gefahr, dass das Libanesische Pfund noch mehr an Wert verliert. In dem Projekt beleuchten wir unter anderem die Geschichte der Währung und die wirtschaftliche Struktur des Libanon. Außerdem haben wir eine Kampagne gegen Fehlinformationen gestartet. Im Libanon werden marginalisierte Gruppen von Medien und Politikern oft als Sündenböcke für die schlechte Wirtschaftslage dargestellt. Wir fordern unsere Leser dazu auf, diese Fälle zu melden. Megaphone News möchte in diesen Fällen Korrektiv sein und Ressentiments entkräften.

 

Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?

Wir wollen denjenigen eine Stimme geben, die in der Medienlandschaft des Libanon normalerweise nicht zu Wort kommen. Wir sprechen über Frauen, Flüchtlinge, Arbeitsmigranten sowie die LGBTQ-Community. Das zweite Ziel ist die Fähigkeit, ein eigenes Narrativ zu schaffen, mit dem wir uns von konventionellen Medien abheben. Und schließlich wollen wir eine Kultur des kritischen Denkens schaffen. Wir wollen nicht wörtlich Pressemitteilungen übernehmen, in der Politiker zitiert werden, sie auf unsere Website stellen und sagen: Das ist passiert. Stattdessen wollen wir die Meldung einordnen und analysieren. Wir wollen durch unseren Journalismus einen besseren Libanon aufbauen.

 

Ist denn sowas in den Sozialen Medien möglich?

Wir erleben viel Feindseligkeit, zumindest in den Kommentaren. Gelegentlich landen Drohungen in unserem Posteingang. Kritiker fragen uns: Warum wollt Ihr dieses Land zerstören? Warum zieht Ihr den Ruf des Libanon in den Dreck? Doch noch öfter erhalten wir Nachrichten von Menschen, die uns unterstützen. Das motiviert uns, weiterzumachen.


Jonathan Dagher ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Synchronsprecher. Er hat einen Abschluss in Maschinenbau, arbeitete als Content Manager beim Radiosender Light FM Libanon und machte ein Diplom in Digital Marketing. Dagher arbeitet für die unabhängige libanesische Online-Plattform Megaphone News, die ein junges Publikum für das politische Geschehen im Land und für Menschenrechtsthemen interessieren will.

Von: 
Fabio Kalla

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.