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Junge Männer in Syrien und Irak nach dem Islamischen Staat

Die neue Generation X

Essay
Kolumne Daniel Gerlach

Gut vernetzt, gewalterfahren, integrationsgestört: Junge Männer wurden im Krieg in Syrien und in Teilen des Iraks zu Opfern. Oder Tätern. Was soll jetzt aus ihnen werden?

Neulich habe ich mich gefragt, wie es dem Islamischen Staat (IS) wohl geht. Man mag das aus zwei Gründen kritikwürdig finden: Erstens erweckt es den Eindruck, diese Terrororganisation rufe nostalgische Gefühlsregungen hervor. Wie eine Verflossene, von der man lange nichts gehört hat. Und außerdem sollte jemand, der dafür bezahlt wird, sich mit dem Nahen Osten auszukennen, ja immer wissen, wie es dem Islamischen Staat gerade »geht«. Das zählt schließlich zu den drängendsten politischen Themen unserer Zeit.

 

Nun, es ist schlechterdings so, dass man sich in der Branche hin und wieder aus den Augen verliert. Und ich habe eine Entschuldigung: Ich war weit weg, im Westens Mexikos, und hatte mein Smartphone für einige Tage mutwillig deaktiviert. Aber der IS holt einen bekanntlich immer wieder ein, und das ist überhaupt nicht ironisch gemeint.

 

Anlass meiner Frage nach dem Wohlergehen des Restkalifats war das Gespräch mit einem aufgeweckten, 22-jährigen Mexikaner aus La Paz, der Hauptstadt des Bundesstaates Baja California Sur, der mich gute zwei Stunden über Land fuhr und in der Konsole seines Wagens eine auffällige kleine Heiligenstatue liegen hatte. In der Levante sieht man den Heiligen Scharbel Makhlouf, einen Patron der Maroniten, häufig, in Lateinamerika aber nicht. Gedanklich ganz im Nahen Osten angelangt war ich aber spätestens, als mein Fahrer mir ohne Umschweife erzählte, dass man ihm neulich ein Job-Angebot unterbreitet habe: Er könne Sicario werden – Auftragskiller für das in der Region vorherrschende Kartell von Sinaloa.

 

Jemand aus der Szene habe sein Facebook-Profil gesehen, das den Studenten, nennen wir ihn Juan, bei verschiedenen sportlichen Aktivitäten zeigt. Daraufhin ließ man ihm über einen bereits für das Kartell tätigen Kommilitonen eine Nachricht übermitteln: Wer so fit und ehrgeizig wie er sei, dazu noch vertrauenswürdig, könne pro »Einsatz« 5000 Pesos verdienen, umgerechnet etwa 210 Euro. Einen Ehrenkodex gebe es auch: Das Kartell lege Wert auf Regeln, getötet würden nur feindliche Kombattanten. Unschuldige würden verschont.

 

Juan hatte nach eigenen Angaben abgelehnt. Er will sich sein Geld fürs Studium lieber als Chauffeur verdienen. Denn bei einer Karriere als Sicario gebe es nur zwei Gewissheiten: das Gefängnis und den Tod. Einige seiner Bekannten hingegen haben das Angebot angenommen. Ihr Schicksal ist, wie das vieler junger Männer in Mexiko und anderswo auf der Welt, von Juan treffend beschrieben. Hoffen wir, dass er es sich nicht noch anders überlegt.

 

Was ist mit den lokalen, ausführenden Organen, den Handlangern, dem Fußvolk, den Tätern?

 

Wenn man sich hauptberuflich mit dem Nahen Osten beschäftigt, liegt es nahe, dass man Phänomene, die man anderswo beobachtet, auf den vertrauten Kontext bezieht. Manchmal ist es aber auch umgekehrt. Als der sogenannte IS eine Serie obszöner Propaganda-Videos im Internet verbreitete, auf denen Enthauptungen, Massenhinrichtungen und später sogar die Verbrennung eines jordanischen Gefangenen zu sehen waren, wurde viel darüber diskutiert, ob es sich hierbei um »typisch« dschihadistische Praktiken handelt; und inwiefern sich der IS sogar auf Vorbilder aus der Geschichte der islamischen Eroberungen bezog. Mir drängten sich unwillkürlich Beispiele aus Mexiko oder Kolumbien auf. Kartelle hatten dort Jahre zuvor Enthauptungsvideos verbreitet, in denen der Henker allerdings nicht zum Schwert, sondern zur Kettensäge griff. Guerilla-Gruppen und Milizen in Kolumbien und Peru hatten in den 1980er Jahren Verräter sogar öffentlich gekreuzigt oder von »Volksgerichten« aburteilen und steinigen lassen.

 

Es bedarf offensichtlich nicht immer einer großen dschihadistischen Ideologie, eines IS-Medienapparates zur Gehirnwäsche, einer planmäßigen, von außen induzierten Radikalisierung, um junge Männer zur Ausübung exzessiver Gewalt zu animieren, oder dazu, ihr Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Diese Erkenntnis kann man getrost als Binsenweisheit ansehen. Sie stellt auch nicht in Abrede, dass die Arbeit von Psychologen, Radikalisierungs- oder Präventionsforschern zu diesem Phänomen von Nutzen ist oder es zumindest sein kann.

 

Was aber tut man nun mit den jungen Männern?

 

Wenn wir über die Opfer von Terror und Krieg berichten, stehen oft zu Recht die völlig Unschuldigen im Mittelpunkt: die zur hilflosen Dispositionsmasse kriegführender Parteien degradierten Kinder, Frauen und andere Zivilisten. Zuletzt wurde auch viel über die potenziellen »Rückkehrer« berichtet – europäische Dschihadisten, die nach dem gescheiterten Kalifatsprojekt in der Türkei, Syrien oder dem Irak umherirren, die teils verhaftet und verurteilt oder – nicht immer ohne das Wissen westlicher Geheimdienste – nach ihrer Befragung im Feldlager an Ort und Stelle liquidiert wurden.

 

Man wird allerdings nicht umhinkommen, sich mit einer zahlenmäßig sehr bedeutenden Gruppe zu befassen: den lokalen, ausführenden Organen, den Handlangern, dem Fußvolk, den Tätern. Junge Männer in Syrien oder im Irak, die als Kanonenfutter rekrutiert wurden und auf die sich aufgrund ihres Alters und den damit verbundenen Einsatzqualitäten das Augenmerk eines jeden Gewaltakteurs als erstes richtet. Sie mussten und müssen kämpfen, für die eine oder andere Seite. Einige taten es begeistert, andere eher freiwillig, wieder andere wurden gezwungen. Und weil sie als stark und waffenfähig gelten und damit immer potenzielle Kombattanten sind, haben sie auch von der Gegenseite keine Gnade zu erwarten.

 

In der vergangenen Woche jährte sich das Massaker von »Camp Speicher« erst zum vierten Mal. Im Juni 2014 hatten die Dschihadisten bei Tikrit vermutlich bis zu 1000 junge irakische Soldaten, großenteils Kadetten der Luftwaffe, massakriert – selbst für IS-Maßstäbe eine Bluttat, die ihresgleichen sucht. Einige der Täter wurden inzwischen verhaftet und hingerichtet. Die politische Verantwortung dafür, dass diese jungen Männer ohne Schutz und Mittel, sich zu wehren, abgeschlachtet werden konnten, hat bis heute niemand übernommen.

 

Massaker gab es viele in den vergangenen vier Jahren. Und die Opfer von Tikrit waren Militärs, was vielleicht erklärt, weshalb sich das internationale Gedenken an das Ereignis eher in Grenzen hielt. Nicht anders steht es um die jungen Soldaten, die im August 2014 nach der Eroberung der syrischen Luftwaffenbasis von Tabqa durch IS-Truppen buchstäblich in Unterhosen in die Wüste getrieben und dort exekutiert wurden. Oder die jungen Männer des Beduinenstamms der Shuaitat, die der IS im selben Jahr bei Deir ez-Zor abschlachtete. Auch diese Ereignisse wurden von den Dschihadisten dokumentiert und, ausgeschmückt mit Video-Effekten und Gesängen, ins Internet gestellt.

 

Das Gedenken daran mag uns nicht nur an die Verbrechen des IS erinnern, sondern auch an die Fahrlässigkeit oder gar Willkür, mit der die Kriegsparteien, allen voran das Assad-Regime, eine ganze Generation junger Männer für ihre Macht geopfert haben. Syrien ist in manchen Gegenden entvölkert. Im Regime-Gebiet, in den alawitischen Dörfern an der Küste, aber auch im Christental Wadi Nasara etwa, sind dahingegen nur die jungen Männer rar geworden.

 

Die Generation der Anfang 20-Jährigen ist entweder tot, versehrt oder zu Tätern geworden. Und wer in den Milizen des Regimes oder bei anderen bewaffneten Gruppen kämpft, verdient – etwaige Einnahmen aus Plünderungen abgezogen – im Monat rund zweihundert Dollar. Das ist, zum Vergleich, weniger als ein mexikanischer Sicario für einen einzigen Auftragsmord bekommt.

 

Ein paar tapfere Traumatherapeuten werden das Problem nicht lösen können. Schon gar keine Islamwissenschaftler

 

Der Begriff »traumatisiert« wird ziemlich häufig und meist nicht sachkundig verwendet. Aber wir wissen, was damit gemeint ist, und können davon ausgehen, dass auch diejenigen Kämpfer, die den Krieg bisher überlebt haben, nicht gerade unbeschwert durchs Leben gehen werden. Sie sind gewalterfahren, womöglich abgestumpft und werden es nicht leicht haben mit dem Wechsel von der Kriegswirtschaft in ein ziviles Arbeitsleben – sofern sich ihnen diese Option überhaupt bietet. Und das Problem greift aus: Da sind die vielen ausländischen Kontingente, die insbesondere die iranischen Revolutionsgarden in Syrien aufgebaut haben und die oft als »schiitische Milizen« subsummiert werden. Junge, männliche Freiwillige aus Pakistan, Afghanistan oder dem Irak mit ähnlichen Erfahrungen.

 

Unter ihnen droht eine neue Generation von »Afghanen« heranzuwachsen, vergleichbar mit den arabischen Al-Qaida-Kämpfern, die nach dem Kampf gegen die Sowjets aus Afghanistan in ihre Heimatländer zurückkehrten und – kampferprobt, ideologisch gefestigt, gut vernetzt aber integrationsgestört – neue Unruhe stifteten. Nicht unwahrscheinlich, dass diese jungen schiitischen Männer nach ihrem Abzug aus Syrien in ihrer Heimat neue Kampfgruppen aufbauen und in den Untergrund gehen, um sich für die Gewalt zu rächen, die dort ihren Volksgruppen, den schiitische Minderheiten, widerfahren ist.

 

Darüber hinaus tut es Not, daran zu erinnern, dass der Krieg gegen den IS nicht einmal vorüber ist, auch wenn die Gruppe nicht mehr so oft in den Nachrichten vorkommt. Und wenn man es bei einem militärischen Sieg allein belässt, könnte es sein, dass er bald wieder an unsere Türen klopf – oder eher eintritt, ohne uns zu fragen.

 

Die internationale Gemeinschaft, vor allem aber die an den Kriegen in Syrien und im Irak beteiligten Mächte, werden sich in der nächsten Zeit nicht nur mit der Frage auseinandersetzen müssen, was junge Männer in die Arme des IS und anderer krimineller oder dschihadistischer Gruppen treibt. Sondern auch damit, was nun aus der Generation X dieses großen, verheerenden Kriegs wird.

 

Ein paar tapfere Traumatherapeuten werden das Problem nicht lösen können. Schon gar keine Islamwissenschaftler. Vielleicht sollte Juan, der junge Mann aus La Paz, mal mit ihnen reden.

 

PS: Ich pflichte meinem Kollegen Christoph Ehrhardt von der FAZ bei und werde mich fortan nicht mehr geringschätzig über den Taxifahrer als Quelle und Gesprächspartner auslassen.

Von: 
Daniel Gerlach

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