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»Schwarzbuch Migration« von Karl-Heinz Meier-Braun

Abrechnung mit der »Flüchtlingsabwehrpolitik«

Kommentar
Geöffnettes Buch
Buchrezension »Schwarzbuch Migration – Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik« von Karl-Heinz Meier-Braun Creative Commons

Bis in den frühen Morgen debattierten die Teilnehmer des EU-Flüchtlingsgipfels über Asylpolitik. »Flüchtlingsabwehrpolitik« sei laut Karl-Heinz Meier-Braun der treffendere Begriff. In seinem Buch rechnet er mit der europäischen Abschottung ab.

Land in Sicht: Nach sechstägiger Irrfahrt auf dem Mittelmeer, erreichten die Insassen des Rettungsschiffes »Lifeline« am Mittwochabend den Hafen von Valletta. Wie zwei Wochen zuvor bei dem Schiff »Aquarius«, hatte sich Italiens Innenminister Matteo Salvini geweigert, die in Seenot geratenen Geflüchteten aufzunehmen. Auch Malta wiegelte in beiden Fällen ab, ließ das Schiff Dresdner NGO »Mission Lifeline« nun aber doch anlegen. Die 234 Menschen an Bord wurden so zu Komparsen im gegenwärtigen Trauerspiel europäischer Asylpolitik. Wobei »Flüchtlingsabwehrpolitik« laut Karl-Heinz Meier-Braun der treffendere Begriff sei. Denn der langjährige Journalist des SWR und Honorarprofessor der Universität Tübingen geht in seinem im März bei H.C. Beck erschienen Buch »Schwarzbuch Migration – Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik« mit eben jener »Abschottung« hart ins Gericht.

 

Auf einem historischen Streifzug durch die westdeutsche Asylpolitik zeigt Meier-Braun, wie die Angst vor Masseneinwanderung aus parteipolitischen und wahlkampfstrategischen Überlegungen seit den 1970er Jahren immer wieder angefacht wurde. »Flüchtlingspolitik und Zuwanderungspolitik« würden dabei stets miteinander vermischt, wie sich auch heute bei der Diskussion um die Anwerbung »qualifizierter Fachkräfte« aus Afrika zeige. Dabei sei Deutschland, so eine zentrale These des knapp 200-seitigen Buches, längst Einwanderungsland und müsse aus den Erfahrungen mit Gastarbeitern und Spätaussiedlern lernen. Der Sommer 2015 hätte laut dem Autor einen Neuanfang darstellen können. Stattdessen falle es der Gesellschaft noch immer schwer, Geflüchtete aufzunehmen. Denn als »Überbringer von schlechten Botschaften« wie Krieg und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, hielten sie der Gesellschaft einen Spiegel vor.

 

Angela Merkel auf der Anklagebank des Autors Folglich sitzt auch Angela Merkel auf der Anklagebank des Autors – wenn auch aus anderen Gründen, als jene, die ihr vom Langzeitkontrahenten und heutigen Innenminister Horst Seehofer vorgeworfen werden. Laut Meier-Braun habe die Kanzlerin 2015 nämlich die deutsche »Willkommenskultur« vor den Kameras der Weltöffentlichkeit gepriesen, obwohl die nur wenige Wochen anhaltende Grenzöffnung allenfalls eine »humanitäre Maßnahme« gewesen sei; nicht mehr als eine Reaktion auf das Scheitern internationaler Politik in Ländern wie Syrien und dem Irak. Kurz darauf habe Merkel im Hinterzimmer durch das Vorantreiben des EU-Deals mit der Türkei Fluchtwege abgeschnitten. Während die Bundesregierung die AfD als ausländerfeindlich kritisiert, arbeite sie somit an der Umsetzung des Wahlprogrammes der Partei und der darin geforderten Schließung der Mittelmeerroute »fleißig mit«.

 

Mit vielen Zahlen und Beispielen aus Ländern wie Libyen oder Niger, versucht der Autor zudem zu belegen, wie Europa seit Jahren versucht seine Außengrenzen in Afrika zu errichten, oft unter dem Deckmantel der Entwicklungszusammenarbeit. Rücksichtslos werde dabei auch mit Diktatoren kooperiert, die selbst dafür verantwortlich sind, dass sich ihre Bürger auf den Weg machen. Im August 2017 hatte die Bundesregierung beispielweise ein entsprechendes Abkommen mit der ägyptischen Sisi-Regierung geschlossen, die für ihre Menschenrechtsverletzungen bekannt ist. Auf Augenhöhe begegne man den afrikanischen Gesprächspartnern nicht, eigene Ideen für wirtschaftlichen Aufsprung würden ignoriert. Stattdessen brüste man sich mit Vorstößen wie dem »Marshallplan für Afrika« vom Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, und entscheidet so über die Köpfe und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung hinweg.

 

 Ein Wirrwarr aus nationalen und europäischen Verträgen Ausführungen wie die von Meier-Braun sind nicht neu. Bereits 2017 erschien etwa das Buch »Diktatoren als Türsteher Europas« von Christian Jakob und Simone Schlindwein auf Grundlage des Projektes »Migration Control« der taz Tageszeitung. Dadurch, dass das jetzt von Maier-Braun vorgelegte Schwarzbuch im renommierten Verlag H.C. Beck erschien, wird die darin formulierte Anklage aber womöglich ein breiteres Publikum erreichen. Dazu könnte auch der Titel und das bedrohlich gestaltete Cover des Buches beitragen, die je nach Lesart in der polarisierten Asyldebatte unterschiedlich verstanden werden könnten.

 

Die Stärken des Buches liegen vor allem in den eindringlichen Formulierungen des Autors, die zum Nachdenken anregen. Dabei hat Meier-Braun relevante Informationen zusammengetragen. Leider ist es ihm aber nicht gelungen, das Wirrwarr aus nationalen und europäischen Verträge zu entzerren. Einzelne Themenkomplexe wirken sprunghaft bearbeitet. So entsteht der Eindruck, der Autor habe beim Verfassen seiner Thesen unter Zeitdruck gestanden.

 

„Die Politiker in Deutschland und Europa werden sich der Illusion hingeben, man könne sich durch alle nur erdenklichen Abschreckungsmaßnahmen die Flüchtlinge vom Halse halten,“ resümiert der Autor gegen Ende des Buches. Wie recht Meier-Braun mit seiner Prognose hat, zeigen die Ergebnisse des EU-Flüchtlingsgipfel von dieser Woche. Der Autor macht deutlich, dass es eine Alternative zur Abschottungspolitik geben muss. An dieser Stelle wäre es dann aber auch hilfreich gewesen, alternativen Lösungen aus Zivilgesellschaft und internationaler Politik mehr Stimmgewicht zu verleihen. Stattdessen führt Meier-Braun mehrfach Ansprachen des Papstes ins Feld, die an unsere moralische Verantwortung für Geflüchtete appellieren. Himmlische Ermahnungen werden dem menschlichen Politikversagen im Mittelmeer und anderswo aber wohl kaum etwas entgegensetzen können.

Von: 
Anna-Theresa Bachmann

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