Rund um Israel kämpfen Sunniten und Schiiten um die regionale Vorherrschaft. Für den jüdischen Staat birgt das existenzielle Gefahren und weitreichende Chancen. Ein Blick auf den Nahen Osten aus israelischer Perspektive.
Es sind neue Töne, die aus Jerusalem kommen. Von regionaler Integration ist die Rede, von Frieden mit der arabischen Welt. Der Nahe Osten steht in Flammen, und während sich der Westen aus der Region verabschiedet, sieht Israel seine historische Chance gekommen. Plötzlich scheint der ungelöste israelisch-palästinensische Konflikt nicht mehr die Türen zur Nachbarschaft zu verschließen – vielmehr sei es umgekehrt: »Erst über Kooperation mit der arabischen Welt würde ein Frieden mit den Palästinensern möglich. Wer danach strebe, möge nach Kairo, Amman, Abu Dhabi und Riad blicken.« Nun stammen diese Worte von keinem Veteranen des Oslo-Friedensprozesses der 1990er Jahre, im Zuge dessen ein Ausgleich Israels mit der arabischen Welt möglich schien. Sie kommen vielmehr von dem Mann, dessen politischer Aufstieg maßgeblich mit dem Scheitern des Friedensprozesses in Verbindung stand: Benjamin Netanyahu, Israels Premierminister, rührt die Werbetrommel für eine Annäherung Israels an die »moderate sunnitische Staatenwelt« am Persischen Golf.
Offene Feindschaft scheint auch dort Pragmatismus zu weichen. Zwar erlaubt die öffentliche Meinung kein offenes Bekenntnis zum Jüdischen Staat – schließlich galt Israel über Jahrzehnte als Grund allen Übels in der muslimischen Welt. Glaubt man jedoch israelischen Sicherheitskreisen, so scheint das israelische Interesse dort hinter verschlossenen Türen durchaus erwidert zu werden: Was demnach als wirtschaftliche Tuchfühlung begann, wurde auf nachrichtendienstliche Zusammenarbeit ausgeweitet. Details bleiben im Dunkeln, doch Sicherheitskooperationen, dies gilt als offenes Geheimnis, sind an die Stelle jahrzehntelanger Eskalation getreten. Doch was steckt hinter dieser Annäherung des sunnitisch-arabischen Staatenblocks an Israel? Ein kurzer Blick zurück auf die Entwicklungen einer Region, in der sich innerhalb weniger Jahre die sicherheitspolitischen Prioritäten verschoben haben und Israel im Begriff ist, seine strategischen Interessen entlang des sunnitisch-schiitischen Konflikts neu zu ordnen.
Bis zum Beginn des Bürgerkrieges in Syrien galt die Hizbullah-Miliz im Südlibanon als abgeschreckt, und das Assad-Regime als berechenbarer Akteur, der die Übermacht der israelischen Streitkräfte anerkennt und das Risiko einer Auseinandersetzung nicht einzugehen bereit ist. Seit dem Zerfall Syriens und des Iraks hat sich diese Konstellation verändert: Der Halbmond zwischen Mittelmeer und Persischem Golf wurde zum Spielfeld von Irans hegemonialen Interessen und das Überleben des Assad-Regimes zur Machtprobe für Teheran. Schließlich waren es zuallererst die iranischen Quds-Brigaden, die der Regierung in Damaskus zu Hilfe eilten und schiitische Milizen, die sich für Assad in die Schlacht warfen.
Der Krieg in Syrien hat die geostrategische Konstellation an der Nordgrenze massiv verändert – und Israel bringt sich gegen die Bedrohung in Stellung
Iran streckte seine Fühler aus, und füllte eine strategische Leere, von der Israels Sicherheit einst profitierte. Nun aber stehen in unmittelbarer Nachbarschaft die militärischen Einheiten jenes Regimes, das wiederholt die Vernichtung des jüdischen Staates forderte. 1979 hatte die Islamische Revolution im Iran die Feindschaft gegenüber Israel institutionalisiert.
Seitdem dient der jüdische Staat als Treibstoff, um die Flamme der schiitischen Revolution am Brennen zu halten. So zählen nicht nur die Hizbullah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen zu Irans größten Klienten, gleichzeitig sind sie auch Israels häufigste Kriegsgegner. Kein Wunder, dass der Applaus des Westens für das Atom-Abkommen mit dem Iran in Israel selbstgefällig und zynisch aufgenommen wurde. Für die kommenden 10 bis 15 Jahre scheint zwar die Gefahr einer nuklearen Konfrontation gebannt. In der Zwischenzeit aber würden die freigewordenen Finanzressourcen, die sich durch den Wegfall der Sanktionen ergeben, aus Sicht Israels jedoch Irans konventionelle Aufrüstung beschleunigen und dessen regionale Ambitionen verstärken. Ein schlechter Deal, daran zweifelt in Jerusalem kaum einer.
So zuckte es letzthin immer öfter am Himmel über dem Süden Syriens. Zumeist nachts schlugen Raketen in Gegenden ein, die fernab der innersyrischen Frontlinien liegen. Es sind präzise Schläge, die wenige Kilometer weiter südlich, in Tel Aviv angeordnet wurden. Dort amtiert mit Avigdor Lieberman ein Verteidigungsminister, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Über Jahre hat sich Israel aus den inneren Angelegenheiten arabischer Staaten herausgehalten, die Umstürze von außen beobachtet – auch wenn berechenbaren Autokraten deutlich der Vorzug vor Muslimbrüdern galt, die ihre Politik auf Befindlichkeiten der Bevölkerung ausrichten.
Nun aber bedrohen Waffen aus iranischer Manufaktur Israels Bevölkerungszentren und können auf Anordnung Teherans aktiviert werden. Über Syrien gelangen sie in die Hände der Hizbullah im Libanon. Gegen solche Transporte, die den taktischen Vorteil Israels gegenüber den schiitischen Milizen an seinen Grenzen gefährden, interveniert Israel – die hellen Blitze am syrischen Nachthimmel künden davon.
»Wenn der saudische Verteidigungsminister morgens aufwacht und die Bedrohungslage analysiert«, so Amos Yadlin, der ehemalige Chef des israelischen Militärgeheimdienstes, »sieht er Iran und dessen Ambitionen im Nahen Osten. Er erkennt Irans destruktive Interventionen in Syrien, Irak, Jemen und Libanon.« Am Frühstückstisch, so ist man in Israel überzeugt, teilt man die Sorgen mit der sunnitischen Staatenwelt, die sich derzeit selbst in der Defensive gegenüber den schiitischen Mullahs wähnt. In Syrien und Jemen bleiben Erfolge aus, Russlands imposante Rückkehr in die Region hat das iranische Lager gestärkt und die USA, der traditionelle Verbündete am Golf, hat Teheran durch das Atomabkommen zu mehr Legitimität verholfen. Es liegt eine Konvergenz von Interessen vor, in Jerusalem, Kairo, Amman, Abu Dhabi und Riad – basierend auf der gemeinsamen Furcht vor Teheran.
Israels Avancen werden von der Dynamik der innermuslimischen Konfrontation abhängen – und der Nahost-Konflikt im Kontext regionaler Veränderungen neu diskutiert werden
Ein Jahrhundert hatte die gemeinsame Feindschaft gegenüber dem zionistischen Projekt und später dem Staat Israel die muslimische Welt geeint. Sie war der gemeinsame Nenner, auf den sich Sunna und Schia von Rabat bis Islamabad verständigen konnten. Doch nun rangiert nicht mehr Israel ganz oben auf der Feindesliste eines Teils der muslimischen Welt. Nicht mehr Palästina beschäftigt die sunnitische Staatenwelt. In Gefahr sieht Saudi-Arabien plötzlich seine Führungsrolle in der islamischen Welt, die vom Aufstieg Irans gespalten wird. Dass dabei ausgerechnet Israel zum Partner wird und vom sunnitisch-schiitischen Konflikt profitiert, mag eine Ironie der Geschichte sein, die jedoch striktem strategischem Kalkül folgt.
Ob der Logik zufolge aus dem ehemaligen Feind tatsächlich ein neuer Freund wird oder doch nur ein Partner auf Zeit, dürfte auch von der weiteren Dynamik der innermuslimischen Auseinandersetzung abhängen. Ausschlaggebend wird letzten Endes doch auch weiterhin die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes sein. Dass diese, wie Netanyahu derzeit verkündet, einzig im regionalen Dialog und durch Verhandlung mit den arabischen Nachbarstaaten gelingen wird, ist höchst umstritten. Zu groß gilt im arabischen Raum das Risiko einer Totgeburt, die intern mit Gesichtsverlust bezahlt werden würde.
Unwahrscheinlich gilt auch, dass die rechte Regierungskoalition in Jerusalem tatsächlich zu weitreichenden Konzessionen bereit ist, die mit den Verhandlungen einhergehen würden. Wie kürzlich bekannt wurde, war es bereits 2016 im jordanischen Aqaba zu geheimen Gesprächen zwischen Benjamin Netanyahu, Ägyptens Präsidenten Sisi und dem jordanischen König Abdullah gekommen. Gegenstand der Diskussion war eine regionale Friedensinitiative, die um weitere sunnitische Staaten, allen voran Saudi-Arabien, erweitert werden sollte. Es schien, als würde die Region an jenem Abend im Februar 2016 tatsächlich zusammenzurücken und der regionale Dialog seinen Anfang zu nehmen. Letztlich ließen jedoch innenpolitische Erwägungen den israelischen Premierminister vor weiterführenden Gesprächen zurückschrecken. Es sollte das vorerst letzte Aufeinandertreffen der drei Parteien sein.
Die geopolitische Dynamik des sunnitisch-schiitischen Konflikts hat mit dem Iran Israels größten Feind gestärkt und gleichzeitig die Tür zur regionalen Integration geöffnet. Vor allem in Israels Sicherheitskreisen werden derzeit die Möglichkeiten gepriesen, die sich für den jüdischen Staat in der arabischen Welt bieten. Unter veränderten Vorzeichnen zeigt man sich auch dort bereit, den Dialog mit Israel zu intensivieren und einen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern mitzugestalten. Es bleibt zu sehen, ob letzten Endes die politischen Hürden überwunden werden und aus den sich überschneidenden strategischen Interessen eine weitgehende regionale Kooperation und ein israelisch-palästinensischer Friedensprozess hervorgehen können.