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Tunesiens neue Regierung unter Youssef Chahed

Der Nächste darf sich versuchen

Analyse
Tunesisches Parlament
Foto: Yamen CC 3.0

Nach nur 18 Monaten Amtszeit macht das tunesische Kabinett Platz für eine Regierung der »nationalen Einheit«. Die Reaktionen sind gespalten. Sie offenbaren den schwierigen Spagat, den die politische Führung um Neu-Premier Youssef Chahed meistern muss.

Während sich anderswo das politische Sommerloch breitmacht, herrscht Aufruhr im Regierungsviertel der Hauptstadt Tunis. Am Wochenende wurde nach drei Wochen zäher Verhandlungen die neue tunesische Regierung vereidigt. Mit 168 von 217 Stimmen hatten die Abgeordneten dem designierten Ministerpräsidenten Youssef Chahed und seiner Regierungsmannschaft kurz zuvor das Vertrauen ausgesprochen. Die Kabinettsumbildung ist das Ergebnis einer Initiative zur Wiederherstellung der nationalen Einheit, die der tunesische Präsident Béji Caid Essebsi Anfang Juni eingeleitet hatte. Im Kontext andauernder terroristischer Bedrohungen, wirtschaftlicher Probleme und sozialer Depression verkündete er, der politisch festgefahrenen Situation im Land ein Ende bereiten zu wollen. Eine Umbildung des Kabinetts solle den Weg für eine nachhaltige Lösung der Probleme ebnen.

Die darauffolgenden Verhandlungen wurden zwischen neun Parteien verschiedener politischer Couleur geführt. Außerdem wurden Gewerkschaften, Arbeitgeber und der tunesische Bauernverband einbezogen und davon überzeugt, das Abkommen von Karthago, zu unterzeichnen. Eine breite Allianz brachte in diesem Dokument die Unterstützung für die Pläne und politischen Prioritäten des Präsidenten zum Ausdruck.

 

Youssef Chahed, Mann der Stunde?

 

Youssef Chahed, Agraringenieur und mit 40 Jahren jüngster Premierminister in der modernen Geschichte des Landes, wurde auserkoren das Projekt der nationalen Einheit in Angriff zu nehmen. Die Nominierung des ehemaligen Ministers für lokale Angelegenheiten Anfang August erfolgte überraschend. Chahed, Mitglied der konservativ-säkularen Partei Nidaa Tounes, gilt trotz seiner Erfahrung als Minister als Neuling in der noch immer von alten Männern beherrschten tunesischen Polit-Szene. Er setzte den Erwartungshorizont für die Zusammensetzung der Regierung hoch. Neben möglichst allen Parteien versprach er bessere Vertretung von Frauen und junger Politikern im Kabinett.

 

Zumindest dieses Versprechen konnte er einlösen. Der 40-köpfigen Einheitsregierung, die nun ihre Arbeit aufnimmt, gehören sechs politischen Parteien und einer diverse parteilose Technokraten an. Außerdem ist mit dem mächtigen Gewerkschaftsverband UGTT erstmals seit den 1960er Jahren wieder eine einflussreiche Massenorganisation durch zwei ehemalige Mitglieder auf Ministerialebene vertreten. Positiv aufgenommen werden darüber hinaus die Verjüngung des Kabinetts sowie die Bemühung, den Charakter der Regierung als exklusive Vertretung der Elite der wohlhabenden Küstenregionen zu ändern. 

 

Ist die Regierung der nationalen Einheit also ein weiteres Beispiel für die tunesische Kompromisskultur, die noch im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde?

 

Ganz so einfach ist es nicht. Trotz der Demonstrierung politischer Einheit stellt sich die Frage, wer als Gewinner aus der Regierungsumbildung hervorgeht. Es scheint, als sei es allen voran Präsident Essebsi, der seine Position in den vergangenen Wochen stärken konnte. Von verschiedenen Seiten wird ihm gar vorgeworfen, mit seiner Initiative das alte Kabinett samt dem ehemaligen Premierminister Essid in Überschreitung seiner Kompetenzen aus dem Amt manövriert zu haben. Umso interessanter ist daher die zukünftige Rolle Chaheds. Laut Verfassung kann der Premierminister eine beträchtliche Machtfülle auf sich vereinen. Chahed wird nun beweisen müssen, dass er mehr ist als der Handlanger des Präsidenten.

 

Die tunesische Zivilgesellschaft bleibt skeptisch

 

Trotz des Versuches, auf Regierungsebene politische Einheit und Entschlossenheit zu demonstrieren, blicken viele Tunesier misstrauisch in Richtung Kasbah. Neben der unklaren Rollenverteilung in der Regierungsspitze sind die die politischen Machtkämpfe zwischen den Parteien verworren. Das Gerangel um Posten und Positionen der vergangenen Wochen war geprägt von Grabenkämpfen zwischen den zwei stärksten Parteien im Land, der islamischen Ennahda und der säkular-konservativen Nidaa Tounes, die sich beide angemessen im neuen Kabinett repräsentiert sehen wollten. Einige Personalien werden in der Öffentlichkeit wegen Verbindungen zum Regime Ben Ali kritisch gesehen.

 

Auch der politische Diskurs scheint den Hang zu alten Mustern zu bestätigen. Jedenfalls hebt sich die neue Regierung bislang nicht durch ausgearbeitete, durchdachte Politikkonzepte von ihren Vorgängern ab. Die Prioritäten sind immer noch die gleichen: Der Kampf gegen Terrorismus, Korruption und Arbeitslosigkeit, das Ankurbeln der Wirtschaft sowie die Verbesserung der Staatsfinanzen. Youssef Chahed versucht, Zuversicht zu verbreiten. Das Motto: Jetzt wird alles anders. In seiner ersten Rede vor dem Parlament verspricht er »außerordentliche Lösungen in einer außerordentlichen Situation«. In drei Jahren, so sagt er, werde es dem Land besser gehen.

 

Für manche Tunesier klingt dies bedrohlich, für die meisten ist es aber nicht mehr als ein Déjà-Vu. Schon oft wurde ihnen der Neuanfang Versprochen, noch öfter ihre Erwartungen von den mittlerweile sechs Vorgängerregierungen seit 2011 enttäuscht. Die Arbeitslosenzahlen sind hoch, die soziale Situation vieler Menschen ist prekär. Die mit Spannung erwarteten ersten Kommunalwahlen wurden immer wieder verschoben, zuletzt auf Frühjahr 2017. Politikverdrossenheit greift weiter um sich, keine Spur mehr vom einstmaligen Revolutionseifer.

 

Ist die neue Regierung also von vorneherein zum Scheitern verurteilt? Der Druck jedenfalls ist gewaltig.

 

Es müssen Lösungen gefunden werden, und dies möglichst zügig. Die Legislaturperiode endet Anfang 2020 – bis dahin muss die Regierung liefern. Für Chaheds heterogenes Kabinett wird es entscheidend sein, ob es mit dem angestrebten Kurs der Kompromissfindung dauerhaft handlungsfähig sein wird. Die Gefahr ist groß, dass sich die verschiedenen Gruppierungen in der Regierung gegenseitig blockieren. Gleichzeitig gerät die Idee des Kompromisses schon im Vorfeld durch parteipolitisch motivierte Initiativen der wichtigsten Koalitionspartner unter Beschuss. Ein Scheitern kann sich aber zum jetzigen Zeitpunkt keine der beteiligten Parteien erlauben. Nicht nur sie müssten sich nämlich dann die Frage stellen: Wenn nicht einmal eine Regierung der nationalen Einheit das Land voranbringen kann – wer denn dann?

Von: 
Simone Limburg
Fotografien von: 
Yamen

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