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Immunitätsgesetz in Ägypten

»Die Weihe der ewiglichen Militärherrschaft«

Analyse
Presseschau

Ägyptens Parlament verabschiedet ein Gesetz, das ranghohen Offizieren rückwirkend Immunität garantiert. In den betreffenden Zeitraum fällt auch das Rabaa-Massaker von 2013. Ägyptische und internationale Stimmen zum neuen Gesetz und den Folgen.

Am 3. Juli verabschiedete das ägyptische Parlament ein Gesetz, das ranghohen Offizieren Immunität für den Zeitraum vom Militärputsch am 3. Juli 2013 bis zur ersten Parlamentssitzung unter Abdulfattah Al-Sisi am 10. Januar 2016 gewährleistet. Somit ist allein der Oberste Rat der Streitkräfte befähigt, gerichtliche Schritte gegen ägyptische Offizieren – im In- als auch im Ausland – einzuleiten. Die Offiziere erhalten gleichzeitig alle Privilegien und finanzielle Vorzüge ägyptischer Minister.

 

Das Gesetz, das im Eiltempo vorgeschlagen und verabschiedet wurde, sah ursprünglich eine Immunitätsfrist bis zum 8. Juni 2014 vor. In den besagten Zeitraum fällt das Rabaa-Massaker vom 14. August 2013, als ägyptische Sicherheitskräfte mehr als 1.000 Demonstranten töteten. Apathie und Angst vor Repressionen machen sich bemerkbar: Stimmen in der ägyptischen Presse schwiegen bisher größtenteils zum neuen Immunitätsgesetz.

 

Mada Masr
Auf dem Onlineportal Mada Masr, eines der wenigen unabhängigen Medien Ägyptens, prophezeit Ezzedine C. Fishere das baldige Ende der Militärherrschaft. Die einzige Frage, die er sich dabei stellt: Wird eine demokratische Regierung bald kommen oder bedarf es erst einer »neuen Runde an Konflikten, bevor alle den Bedarf an wahrer Demokratie« erkennen?

 

Das Regime gebe sich größte Mühe, durch ihren Despotismus der Nasser-Herrschaft in Nichts nachzustehen. Viele Ägypter hätten scheinbar die Hoffnung auf einen Wandel aufgegeben. Doch der Schein trügt, behauptet Fishere. In Wahrheit werde das Militär früher oder später die Herrschaft abgeben. Auch wenn es weiterhin Stimmgewicht für strategische Entscheidungen behalten wird, so werde es sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und den Weg für eine wahrhaft demokratische Transition freimachen.

 

Fishere stützt seine Analyse auf vier Annahmen: Zum einen versinke Ägypten »in Elend, während die herrschende Elite ihre Ämter zur Selbstbereicherung ausnutzt«. Dabei versage der Staat bei seiner Grundaufgabe, Sicherheit und Rechtstaatlichkeit zu schaffen. Zum anderen können diese Missstände nur durch einen Wechsel des »Betriebssystems« behoben werden. Ein derartiger Wandel bedürfe allerdings der »vollen Kooperation zwischen sozialen und politischen Gruppen«, um Ägyptens Missstände zu beheben: die Sanierung der Wirtschaft und Bekämpfung des Terrorismus, einerseits, und der Kampf mit dem eigenen politischen System, auf der anderen Seite. Drittens, so Fishere, habe sich die politische Kultur vieler Ägypter gewandelt; groß sei der Wunsch nach Rechenschaft und Verantwortungsbereitschaft der Amtsträger. Die militärische Führung habe schließlich den Wandel in der ägyptischen Gesellschaft noch immer nicht begriffen und glaubt, die Probleme ließen sich durch Sparmaßnahmen und Repressionen aus der Welt schaffen.

 

Fishere schlussfolgert: Sisis Tage sind gezählt. Seine Strategie, sich auf post-revolutionärer Apathie und Repressionen auszuruhen, wird nicht mehr lange aufgehen. Auch wenn die Regierung alles tun sollte, um die Opposition zu drangsalieren: »Die klügeren Köpfe werden sich durchsetzen.«

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Arabi21
Jamal Sultan, Kolumnist für das libanesische Nachrichtenportal Arabi21, reagiert mit Verwunderung auf das neue Immunitätsgesetz. Einerseits, argumentiert Sultan, widerspreche die Gehaltserhöhung für Militäroffiziere der Behauptung, Ägypten sei pleite. Wenn der Staat Geld hat, um es für Einzelpersonen auszugeben – warum wird es der Öffentlichkeit verwehrt? In den letzten Jahren hätte Ägypten ein »miserables Gesicht und eine geschlossene Hand« gegenüber der Gesellschaft gezeigt, weil das Geld angeblich knapp sei.

 

Andererseits überrascht Sultan die Eile, mit der das Gesetz verabschiedet wurde. Selbst ohne das Gesetz habe die Regierung »mehr als genug« Möglichkeiten, diese Offiziere zu bevorzugen. Sultan resümiert: Derartige Gesetze »kommen und gehen mit der politischen Situation«. Anstatt nach solch kurzfristigen Lösungen zu suchen, wäre es sinnvoller, mithilfe von langfristigen Plänen, »basierend auf Liebe, Respekt und Wertschätzung« ein Vertrauensverhältnis zwischen »den Massen und dem Militärestablishment aufzubauen«.

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Al Jazeera
Ayman Sadek, ehemaliger Abgeordneter des ägyptischen Parlaments, nennt das neue Immunitätsgesetz in seinem Kommentar für den Nachrichtensender Al Jazeera ein »neues Desaster.« Die Grundidee, argumentiert Sadek, sei es, die korrupten und mordenden Offiziere vor der Bestrafung ihrer Verbrechen zwischen 2013 und 2016 zu bewahren. »Diese Katastrophe,« so Sadek, suche in zivilisierten Ländern ihresgleichen und symbolisiere »die Weihe der ewiglichen Militärherrschaft« in Ägypten.

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TRT World

Kritische Stimmen zum Immunitätsgesetz kommen auch aus der Türkei. Die AKP pflegte eine enge Bande zu den Muslimbrüdern und dem gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi, verfolgt unter Erdogan zwar einen ähnlichen Weg zur Machtkonsolidierung, wird aber nicht müde, den Putsch und die Militärherrschaft in Ägypten zu geißeln. »Wie lange wird Sisi über Ägypten herrschen?«, fragt Mohamed El-Meshad im türkischen regierungsnahen Nachrichtensender TRT World.

 

Sisi sei es gelungen, »mächtige Freunde« zu gewinnen: Trotz regelmäßiger Berichte über Menschenrechtsverletzungen unterstützten die USA, Frankreich und Deutschland das ägyptische Militärregime und ignorierten dabei »den Elefanten im Raum.« Selbst Russland, Saudi-Arabien und China sehen Ägypten als wichtigen Partner in geopolitischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Anliegen.

 

Im Kontext der harschen Wirtschaftslage – besonders der hohen Inflationsrate und der immensen finanziellen Last für einkommensschwache Familien – müsse Sisi endlich wirtschaftliche Reformen einführen und die stetige Verschlechterung des Lebensstandards vieler Ägypter aufhalten. Ansonsten drohen, argumentiert El-Meshad, neue »Brotaufstände,« wie sie das Land bereits in den späten 1970er Jahren erlebt hatte. El-Meshad resümiert: Sisi wird seine Macht nicht langfristig sichern können, solange er nicht innenpolitische ökonomische und politische Missstände angeht.

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Al-Modon
Die »Zeit spielt gegen Sisi«, behauptet Ahmed Abdeen in der libanesischen Online-Zeitung Al-Modon. Die Abkehr Ägyptens von der Militärherrschaft sei eine »historische Notwendigkeit«, die Transformation zur Demokratie nur eine Frage der Zeit. Sisi werde zweifellos versuchen, »bis zum letzten Atemzug« an der Macht zu bleiben und für sein Militärregime internationale Unterstützung sicherzustellen.

 

Gleichzeitig wachse der Volkszorn, so Abdeen. Sisis Mangel an strategischer Vision, sein gescheitertes Staatsmanagement, Korruption und die schlechte Wirtschaftslage würden früher oder später zu einer »gesellschaftlichen Explosion« führen. Gefördert werde dies, so Abdeen, durch ein post-revolutionäres Bewusstsein der ägyptischen Bevölkerung und den damit verbundenen Wunsch nach politischer Teilhabe. Sollten sich die Anzeichen ziviler Proteste häufen, so Abdeen, werden sich die Führungskreise im Militär aus der Öffentlichkeit zurückziehen, um im Hintergrund weiterhin Profite einstreichen und strategische Entscheidungen für das Land treffen zu können.

 

Wenigstens die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sei Sisi sicher: Zum einen möchte sie weiterhin Profite durch die Kooperation mit Sisis Militärregime generieren. Zum anderen habe sie – besonders durch die Größe Ägyptens und seiner geografischen Nähe zu Europa und Israel – große Angst vor einem neuen Aufstand mit unsicherem Ausgang.

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Ikhwanweb
Talaat Fahmy, Autor auf der Internetseite Ikhwanweb, dem Sprachrohr der Muslimbruderschaft, nennt das Immunitätsgesetz ein »neues Verbrechen« der Regierung. Das Gesetz vollende den Prozess, das Land in einen Militärstaat umzuwandeln, der Militäroffiziere privilegiere und gleichzeitig die Bevölkerung unter hohen Nahrungsmittelpreisen und Existenzängsten leiden lasse. Der Rachefeldzug der regierenden »kriminelle Bande« werde, glaubt Fahmy, erst durch einen landesweiten Volksaufstand ein Ende nehmen. Die Muslimbruderschaft ist seit dem 23. September 2013 in Ägypten verboten.

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Von: 
zenith-Redaktion

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