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Presseschau zum Tod des tunesischen Präsidenten Béji Caïd Essebsi

»Frauen trauerten in der ersten Reihe«

Analyse
Presseschau

Für die einen galt er als Anker in unruhigen Zeiten, andere sahen ihn als Vertreter eines korrupten Systems. Im Maghreb bewertet man die Präsidentschaft des Tunesiers Béji Caïd Essebsi vor allem im Lichte der eigenen Erfahrungen. Eine Presseschau.

Am 25. Juli starb der tunesische Präsident Béji Caïd Essebsi im Alter von 92 Jahren. Nach Tunesiens Unabhängigkeit 1956 diente er über Jahrzehnte in verschiedenen Regierungsämtern. Nach seinem Rückzug aus der Politik in den 1990er Jahren, kehrte der Jurist nach der Revolution noch einmal im hohen Alter auf die politische Bühne zurück, erst als Interimspremier 2011, dann, im Dezember 2014, wurde der damals 88-Jährige zum Präsidenten gewählt. Nach seinem Tod übernimmt Parlamentspräsident Mohamed Ennaceur die Amtsgeschäfte für bis zu 90 Tage. Ob die für den 16. November angesetzten Wahlen vorgezogen werden, ist derzeit offen. Doch schon jetzt werden Premierminister Youssef Chahed gute Chancen ausgerechnet.

 

La Presse

In der Berichterstattung der regierungsnahen La Presse wird der verstorbene Präsident als »Legende« glorifiziert. Kaouther Labi hebt vor allem seinen Einsatz für die Gleichstellung von Frauen und Männern hervor. »Die Frauen trauerten bei seinem Begräbnis in der ersten Reihe«, titelt er. Als Essebsi 2011 Premierminister wurde, ratifizierte er die UN-Frauenrechtskonvention – laut Labi ein Fanal für zahlreiche legislative Vorstöße, einschließlich eines Gesetzes, das die Gewalt an Frauen unter Strafe stellt. Seit 2017 gelten Mädchen erst ab 16 Jahren als sexuell mündig. Gerade in den konservativen Teilen der Bevölkerung sei Essebsi mit solchen Gesetzesvorstößen auf Widerstand gestoßen.
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Le Temps

Dennoch versuchte Essebsi, den Islamisten auf politischer Ebene entgegenzukommen. Was die eine Seite schlicht als politischen Pragmatismus bezeichnen, wertet die andere Seite als Verrat an den Wählern. Faozi Snoussi kritisiert in seinem Kommentar für Le Temps das Bündnis des Präsidenten mit der islamistischen Ennadha als »unnatürlich«. Im Wahlkampf hätte er sich stets als Verfechter eines säkularen Staates inszeniert. Der Journalist sieht die Ära von Essebsi auch als Fortsetzung eines korrupten politischen Systems und der Vetternwirtschaft der Elite. So habe Essebsis Sohn Hafedh etwa bereits eine führende Position in der vom Präsidenten gegründeten Partei Nidaa Tounes inne. »Eine weitere Enttäuschung kann das Land zur Katastrophe führen«, warnt Snoussi.

 

Hoffnung macht Snoussi allerdings der Aufstieg von Tahya Tounes, der Partei von Premierminister Youssef Chahed. Sie »nimmt die Demokratie und den Dialog als Grundprinzipien an«. Dabei greife die Partei zwar den Ansatz von Nidaa Tounes auf und ziele auf die politische Mitte der Gesellschaft, versuche aber gleichzeitig »mit dem Autoritarismus zu brechen«. Eben dieser Spagat sei Essebsi nicht gelungen.
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Tunis Afrique Presse (TAP)

Die staatliche Nachrichtenagentur Tunis Afrique Presse sieht die langjährige politische Erfahrung Essebsis nicht als Zeichen der Alternativlosigkeit, sondern als Vorteil. Ahlam Gabri verfasst eine Lobeshymne auf den »weisen« tunesischen Präsidenten, das »Gleichgewicht der politischen Szene«. Das Staatsbegräbnis des Präsidenten empfand Gabri als »majestätische Beisetzung« und lobt außerdem die besonnenen Reaktionen der Tunesier auf den Tod des Staatsoberhaupts. Weder das Militär, noch andere gesellschaftliche oder politische Kräfte zeigten bisher Ambitionen, das Vakuum zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen und die Macht an sich zu reißen.
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L’Economiste 

Für die frankophone marokkanische Zeitung ist Essebsi ein »Paradoxon«: »Die weitverbreitete Annahme war, dass Béji Essebsi angesichts der Fehler, die er nach seiner Wahl im Jahr 2014 begangen hatte, durch die Hintertür aus der Geschichte verschwinden würde.« Die versprochenen wirtschaftlichen Entwicklungen und der große Umschwung blieben auch unter Essebsi aus. Kommentator Hmida Ben Romdhane deutet die Trauer als Ventil für Frustration, die sich über Jahre aufgestaut hat. Trauer vereint bekanntlich, aber in diesem Fall scheine sie die Spaltung des Landes geradezu auszumerzen. »Béji Caïd Essebsi hatte Glück, dass er während der Ausübung seiner Pflichten gestorben ist.« Ansonsten wären die Nachrufe vermutlich weniger blumig ausgefallen.
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El Watan

Die Zeitung El Watan betrachtet Essebsis politische Karriere durch das Prisma der eigenen Erfahrungen in Algerien – ein Bezug auf dessen alternde Führungsschicht findet sich in seinem Nachruf ebenso wenig wie in den meisten Meinungsbeiträgen zum Tod Essebsis in der algerischen Presse. Beiden Ländern sei es trotz Turbulenzen im Innern gelungen, die Islamisten im Parlament einzuhegen. Kommentator Mourad Sellami beschreibt das Vermächtnis des Präsidenten als »Tradition des Dialogs und der Versöhnung«.
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Von: 
Katharina Maria Kersten

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