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Wahlsieg Erdoğans bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei

»Zerknirschte Kurden, enttäuschte EU, frohlockende Kataris«

Analyse
Presseschau

Am 24. Juni fanden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Im neu eingeführten Präsidialsystem ist Wahlsieger Erdoğan zugleich Staats- und Regierungschef. Eine Presseschau.

Am Sonntagabend erklärte die türkische Wahlkommission Recep Tayyip Erdoğan zum Sieger der Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang. Das islamisch-konservative Bündnis aus der »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) und der »Partei der Nationalistischen Bewebung« (MHP) gewann 347 der 600 Mandate – und erhält so die absolute Mehrheit im Parlament. Der zweite Platz ging an die »Republikanische Volkspartei« (CHP) mit Präsidentschaftskandidaten Muharram İnce. Auch die »Demokratische Partei der Völker« (HDP) mit Selahattin Demirtaş und die »Gute Partei« (İYİ) unter Meral Akşener zogen ins Parlament ein.

 

Hürriyet Daily News
Erdoğan werde sämtliche gesetzgebende, richterliche und ausführende Macht auf sich vereinen, meint Yusuf Kanlı in der zweitgrößten englischsprachigen Tageszeitung Hürriyet Daily News. Bis zur Übernahme durch die Erdoğan-nahe Demirören Holding galt die Zeitung als eines der letzten unabhängigen türkischen Medien. Die MHP verlor zwar einige ihrer Mitglieder und Stimmen an die neu gegründete İYİ-Partei. Dennoch sei es der Partei gelungen, ihren politischen Einfluss auszuweiten: ohne die Stimmen der MHP hätte sich Erdoğan keine Mehrheit im Parlament sichern können. Erdoğan ist auf die MHP angewiesen, ja sogar »in Geiselhaft« dieser, bis er einen anderen Koalitionspartner findet. Der Gedanke, die Regierung betreibe nach der Wahl eine kurdenfreundlichere Politik, sollte beiseitegelegt werden. Vielmehr werde die AKP unter Erdoğan eine weitaus nationalistischere Politik als die MHP betreiben, glaubt Kanlı. Politischen Wandel könnten die Oppositionsparteien CHP und HDP bringen. Sollte es beiden Parteien gelingen, ihre Differenzen zu überwinden und die die türkische Linke zu vereinen, könnte dies eine »neue vielversprechende Ära« für die Türkei bedeuten.

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Daily Sabah
Die Wahlen in der Türkei seien ein »Triumph der Demokratie«, an dem sich andere Länder ein Beispiel nehmen sollten, meint Ozan Ceyhun in der Daily Sabah, Türkeis größte englischsprachige Tageszeitung, die der AKP nahesteht. Zum einen seien keine gravierenden Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess beobachtet worden, behauptet Ceyhun; zum anderen liegt die Wahlbeteiligung mit 87,5 Prozent so hoch, wie es sich andere Länder - insbesondere in Europa - nur erträumen könnten. Da die Allianz aus AKP und MHP die Mehrheit im Parlament besitzt, werde die Türkei bis zu den nächsten Wahl kein Stabilitätsproblem haben. Auch die Investoren werden dies zu schätzen wissen. Europäische Politiker und AKP-kritische Medien täten gut daran, einen Neuanfang im Umgang mit der Türkei zu suchen. Denn dank bevorstehender Reformen werde das Land an Stabilität und Stärke gewinnen und seine Position als einer der wichtigsten Partner Europas ausbauen. Ceyhun ist sicher: Europa muss um die Gunst der Türkei buhlen. Im Gegenzug erwarte die Türkei von den europäischen Staaten Aufrichtigkeit und Kompromissbereitschaft, insbesondere im Kontext von Visumfreiheit und Europas Finanzierung terroristischer Organisationen, wie der PKK und der Gülen-Bewegung.

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Al-Sharq Al-Awsat
Die arabischsprachige, saudische Onlinezeitung Al-Sharq Al-Awsat mit Sitz in London lässt den türkischen Analysten Mohammed Zahid Gül zu Wort kommen. Er untersucht in seinem Artikel die Bedeutung der Wahl für das Verhältnis zwischen der Türkei, Iran, Russland und den USA. Bis 2015, so Gül, habe die Türkei versucht, Russland für ein Bündnis mit den USA zu gewinnen, um eine gemeinsame politische Lösung für den Krieg zu finden, der die Interessen des Irans beschneide. Dazu kam es aber nach dem Abschuss des russischen Flugzeuges Sukhoi Su-24 nicht. Seitdem verharre die Türkei zwischen zweit Fronten. Zum Ärger der USA habe die Türkei stillschweigend toleriert, dass der Iran seine Macht in Syrien ausbauen konnte. Noch mehr Reibungsfläche bilden die konträren Positionen beider Länder in Nordsyrien. Jedoch könne es sich die USA mit Erdoğan nicht komplett verscherzen, besonders da er dank des Referendums 2017 die Macht des türkischen Militärs einschränken konnte. In diesem Zusammenhang sei auch der Verkauf von F-36 Kampfjets an die Türkei Anfang Juni zu verstehen. Jedoch hätten die Unstimmigkeiten mit dem Westen die Türkei immer weiter in Richtung Osten gerückt, wie der Kauf des Luftabwehr-Raketensystemen S-400 von Russland belegt. Durch diese Zweigleisigkeit, so Gül, konnte die Türkei unter Erdoğan ihren politischen Einfluss in Syrien erhöhen.

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Middle East Eye
Ein Autorenkollektiv des Nahost-Portals Middle East Eye registriert Erleichterung in der syrischen Diaspora des Landes. Die beinahe vier Millionen Flüchtlinge, darunter nicht nur Syrer, hätten im Wahlkampf zwar keine übergeordnete Rolle gespielt, doch Wahlsieger Erdoğan gilt vielen Geflüchteten als Garant ihres weiteren Aufenthalts im Land. Insbesondere die Popularität des Sozialdemokraten Muharrem İnce von der oppositionellen CHP, so Middle East Eye, habe viele Syrer nervös gemacht. İnce hatte im Wahlkampf damit geworben, die zerrütteten Beziehungen zum Assad-Regime verbessern zu wollen. Doch die Solidarität vieler Flüchtlinge habe Grenzen, würden viele doch sehen, wie hart der Präsident mit der Opposition umspringt. »Er ist die am wenigsten schlechte Wahl für uns, wenn wir wenigstens ein bisschen Würde bewahren wollen. Ist er der Beste? Sicher nicht, und er wird es auch niemals sein«, zitiert Middle East Eye einen jungen syrischen Flüchtling aus Aleppo.

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Aron Lund
Wie viele Worte braucht es, um die Auswirkungen der Türkei-Wahl für den Nahen Osten zu beleuchten? Der schwedische Analyst und Syrien-Experte Aron Lund kommt mit 18 Worten und der gleichen Zahl an Emojis aus. Zerknirschte Kurden, eine bodenlos enttäuschte Europäische Union und frohlockende Kataris: Lund verdichtet die Informationen unterhaltsam und stößt dabei eine kleinere ethnologische Debatte an, wenn er den Iranern eine lange Nase bescheinige. Nein, er wolle Teheran keinerlei Lügen unterstellen – im Schwedischen attestiere man auf diese Weise vielmehr jemandem, übers Ohr gehauen worden zu sein.

 

Von: 
zenith-Redaktion

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