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Bildung unter Taliban in Afghanistan

»Die Vorwürfe der Taliban sind haltlos«

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Bildung unter Taliban in Afghanistan

Matiullah und Attaullah Wesa setzen sich für das Recht auf Bildung in Afghanistan ein und reisen dafür quer durchs Land. Dann greifen die Taliban durch: Einer der Brüder wird festgenommen, der andere lebt seitdem im Untergrund.

1994 taucht in Kandahar zum ersten Mal eine Gruppe auf, die sich »Taliban« nennt. Sie erobern Kabul und errichten ein sogenanntes Islamisches Emirat, bis die Amerikaner sie 2001 in den Untergrund treiben. Acht Jahre später brennen sie eine Schule im Dorf Maruf nieder. Mattiullah wird Zeuge, wie die Flammen das Gebäude verschlingen. Sein Vater hatte die Schule gebaut. Damit endet für ihn und seine Mitschüler die Chance auf Bildung.

 

Die Familie flieht aus ihrem Dorf nach Kandahar, wo Matiullah immerhin wieder den Unterricht besuchen kann. Doch die Bilder der brennenden Schule wird er nicht vergessen. Zusammen mit seinem Bruder Attaullah beginnt er, Unterstützung zu sammeln – für die geschlossenen und niedergebrannten Schulen, vor allem im Süden des Landes.

 

Viele Menschen im Süden trauen den Schulen nicht. Das fanden die Wesa-Brüder schnell heraus. Ein Weg jedoch führt über die Stammesältesten. Die Brüder versuchen, sie zu überzeugen, die Schulen wieder zu öffnen. So können immerhin 10 Schulen in Khost und anderen Provinzen wieder geöffnet werden. Doch das reicht nicht. Zu viele Schulen waren geschlossen und niedergebrannt worden.

 

Seit 2013 ist es ihrem Team gelungen, mehr als hundert Schulen wiederzueröffnen oder neu zu bauen

 

Deshalb gründen die Brüder die Freiwilligenorganisation »PenPath«. Seit 2013 ist es ihnen und ihrem Team gelungen, mehr als hundert Schulen wiederzueröffnen oder neu zu bauen. PenPath wächst auf mittlerweile 2.400 Freiwillige aus ganz Afghanistan an.

 

Im Sommer 2021 ergreifen die Taliban erneut die Macht im Land. Sofort beginnen sie, Mädchen und Frauen den Zugang zu Bildung zu verwehren. Matiullah lässt sich davon nicht beirren: »Bildung ist ein Grundrecht des afghanischen Volkes«, erzählt er der Autorin damals. »Regime kommen und gehen, aber die Kinder müssen lernen und sich fortbilden können!« Er erzählt von Dörfern, die während der Zeit der Republik im Kampfgebiet lagen, so dass die Kinder keine Chance hatten, zur Schule zu gehen. Sie wurden geschlossen oder gleich niedergebrannt. Nur zwei Tage, nachdem die Taliban Kabul erobern, beginnt er wieder mit seiner Bildungskampagne.

 

Matiullah reist in Regionen wie Zabul, Wardak, Ghazni, Kandahar und Kabul. »Ich sagte den Menschen: Ihr müsst den Taliban klarmachen, dass es euer Recht ist, zu entscheiden, ob ihr die Schulen für Mädchen öffnet oder nicht.« Vier Monate nach dem Fall Kabuls startet Matiullah eine Social-Media-Kampagne. Auf seinem Twitter-Account machen sich Unterstützer dafür stark, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen.

 

Seit Matiullah verhaftet wurde, ist der Kontakt zu ihm abgerissen

 

Ende März 2023 veröffentlicht Matiullah auf seinem Twitter-Account ein Video. Darin fordert eine PenPath-Aktivistin die Wiedereröffnung der Schulen und Universitäten für Mädchen. Am nächsten Tag wird er von den Taliban verhaftet. »Ich war nicht zu Hause, als ich zurückkam, hatten sie meinen Bruder festgenommen«, erzählt Attaullah Wesa. Er selbst lebt seitdem im Untergrund.

 

Die Taliban durchsuchen das Haus der Brüder und bedrohen die Mutter sowie weitere Familienmitglieder. In einem Interview mit dem Fernsehsender VOA behauptet Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid, Mattiullah Wesa hätte auf »Anweisung von Fremden« gehandelt und würde gegen das Regime arbeiten. Attaullah weist diese Vorwürfe zurück: »Es ist unser Recht, den Menschen Bildung zu ermöglichen, und es ist das Recht der Menschen, Bildung zu verlangen. Die Vorwürfe der Taliban gegen meinen Bruder sind haltlos.«

 

Matiullahs Schicksal teilen auch andere, die es wagen, sich im neuen Afghanistan der Taliban für Bildungsgerechtigkeit einzusetzen. International für Aufsehen sorgt etwa Ende 2022 der Fall Esmail Marshal. Der Dozent, der in Kabul eine Privatuniversität leitete, zerreißt während eines Live-Interviews im afghanischen Fernsehen seine Abschluss-Urkunden. »Bildung hat in diesem Land keinen Wert«, ruft er dabei. »Wenn meine Schwester, meine Mutter hier nicht studieren können, ist das inakzeptabel!« Marshal gründet daraufhin eine mobile Bücherei und verschenkt Bücher an Passanten, wird aber im Februar 2023 von den Taliban festgenommen. Ein Monat später kommt er wieder auf freien Fuß.

 

Seit Matiullah verhaftet wurde, ist der Kontakt zu ihm abgerissen. Keiner seiner Angehörigen weiß, ob er überhaupt noch am Leben ist und falls ja, wo er festgehalten wird. »Wir versuchen, mit den Taliban in Dialog zu treten, damit sie meinen Bruder freilassen. Aber bisher erfolglos«, erzählt Attaullah.

Von: 
Zainab Fahramand

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