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Interview zu Krieg und Trauma in Palästina

»Im Krieg fragt niemand danach, wie es einem geht«

Interview
von Lara Farag
Interview zu Krieg und Trauma in Palästina

Seit Monaten erleben die Menschen in Gaza Leid und Zerstörung. Es fehlt an allem, besonders an psychischer Unterstützung. Welche Rolle kollektive Traumata in der palästinensischen Gesellschaft spielen, erklärt der Neurowissenschaftler Dr. Ahmad Abu-Akel.

zenith: Seit Monaten wird Gaza bombardiert und ein physischer Wiederaufbau ist noch lange nicht in Sicht. Wie sieht es mit den psychischen Schäden aus?

Ahmad Abu Akel: Wir hoffen tatsächlich, in Zukunft Projekte in die Wege leiten zu können, in denen es um die psychische Unterstützung der Bevölkerung in Gaza geht. Selbstverständlich erfordert so etwas viel Zeit. Die Menschen haben durch die anhaltende Bombardierung schwere Traumata erlitten. Ich versuche hierbei meinen Teil durch meine wissenschaftliche Arbeit beizutragen: Als Neurologe habe ich mich im Kontext von Palästina und Israel lange Zeit mit der Frage auseinandergesetzt, ob das Hormon Oxytocin zu einem stärkerer Empathie bei Menschen führt und wie Empathie als Ressource für Friedensbildung genutzt werden kann.

 

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Ihrer Arbeit als Neurologe und ihrem Friedensaktivismus?

Als Wissenschaftler versuche ich, mit fundiertem Wissen Grundlagen für konkrete Maßnahmen zu schaffen. Ich bin auch Mitglied der Organisation »Empathy for Peace«, die genau diesen Ansatz verfolgt. In unserem derzeitigen Projekt untersuchen wir konkret, ob gesellschaftliche Spaltungen die Wahrscheinlichkeit, Frieden durch Empathie zu fördern, verringert. Daran forschen wir derzeit an der Universität von Haifa.

 

Im Kontext von Palästina ist in der Forschung oftmals von transgenerationalem oder vererbtem Trauma die Rede.

Tatsächlich zieht sich dieses Phänomen durch die palästinensische Gesellschaft. Einschneidende Erlebnisse wie die Nakba 1948 oder die Naksa 1967 sind in das Kollektivgedächtnis der Palästinenser eingebrannt und Teil ihrer Identität. Das bestimmt natürlich das alltägliche Leben der Menschen und auch aus neurologischer Perspektive kann ich sagen, dass das Gehirn sehr schnell darin ist, den Gegenüber als »das Andere« oder etwas Fremdes wahrzunehmen. Doch genauso schnell kann das Gehirn sich auch davon lösen. Das erfordert jedoch Zeit und Anstrengung sowie die Bereitschaft, auf den Gegenüber zuzugehen und sich auf Basis von Gemeinsamkeiten auszutauschen. Auch geteiltes Leid kann auf diese Weise verbinden, wenn es bewusst genutzt wird, um Brücken zu bauen und nicht um es gegeneinander auszuspielen.

 

Viele Friedensinitiativen arbeiten auf lokaler Ebene seit Jahren unter dieser Prämisse. Inwiefern lässt sich solch ein Ansatz nach dem 7. Oktober und neun Monaten Krieg überhaupt noch verfolgen?

Natürlich hat sich vieles verändert. In Gaza kämpfen die Menschen um ihr Überleben und erleben tagtäglich Verlust und Zerstörung. Was sich besonders nach dem 7. Oktober verändert hat: Extremistische Bewegungen und Kräfte konnten mehr Einfluss gewinnen, und das auf Kosten lokaler Friedensinitiativen. Die Lage ist sehr schwierig und die Menschen sind wütend und verzweifelt. Sie erhalten zudem nicht die Hilfe, die sie eigentlich benötigen. Dennoch sollte man das Potenzial solcher Initiativen keinesfalls unterschätzen.

 

»Diese Trennung und Unterscheidung ist nicht natürlich, sondern Teil eines Systems«

 

Warum engagieren Sie sich für Frieden?

Ich wollte die Dinge einfach begreifen: Warum diese Trennung? Warum haben wir Palästinenser nicht die gleichen Rechte? Für mich stand dann fest: Wenn ich etwas bewegen will und die Ursachen verstehen möchte, muss ich selbst aktiv werden. Der erste Schritt für mich war dann, den Gegenüber erst einmal besser zu verstehen, denn genau diese Kontakte fehlten. Sämtliche Interaktionen fanden nur auf transaktionaler Ebene statt, beispielsweise im Gesundheitswesen oder überhaupt im Rahmen von Behördengängen. Sowohl der Drang die Realität zu verstehen, in der ich aufgewachsen bin, als auch der Wunsch nach besserer Bildung waren dann letztlich ausschlaggebend, einen Schritt raus aus meiner gewohnten Umgebung zu wagen.

 

Sie sind in dem früheren palästinensischen Dorf Wadi Ara, südlich von Haifa aufgewachsen. Wie haben Sie die Unterschiede und Ungleichheiten zwischen Israelis und Palästinensern wahrgenommen?

Ich habe bereits sehr früh erkannt, dass ich in einem Land lebe, in dem von Grund auf zwischen Israelis und Palästinensern unterschieden wird, und zwar in allen Bereichen. Beispielsweise bestehen sehr große Diskrepanzen in den jeweiligen Bildungssystemen. Ich bin mit dieser Trennung bereits im jungen Alter direkt konfrontiert worden. In meinem Heimatdorf Wadi Ara hatten wir zudem praktisch keinen Kontakt zu Juden. Mir ist dann im Laufe der Zeit erst wirklich bewusst geworden, dass diese Trennung und Unterscheidung nicht natürlich, sondern Teil eines Systems ist. Denn als Bürger eines Staates sollten wir Palästinenser eigentlich dieselben Rechte haben. Jedoch trifft der Begriff »israelisch« auf uns nicht zu. Die Frage nach der Identität und was es bedeutet, Palästinenser im Staat Israel zu sein, war somit immer präsent, nicht zuletzt auch, weil der Oberste Gerichtshof im Jahre 2014 entschieden hat, dass der Begriff »Israeli« nicht gleichbedeutend mit vollen Bürgerrechten unabhängig der ethnischen Zugehörigkeit ist. Man war dann entweder jüdisch oder nicht.

 

Haben Sie auch Phasen mit mehr Interaktion zwischen Israelis und Palästinensern erlebt?

Es gab tatsächlich eine Zeit, in der sich vieles verbessert hat, in der sogar Ehen zwischen Israelis und Palästinensern geschlossen wurden. Ich persönlich erinnere mich noch gut daran, dass wir manchmal beispielsweise nach Tulkarem im Westjordanland gefahren sind, weil die Waren auf dem Markt dort viel billiger waren. Dort habe ich dann manchmal ältere jüdische Frauen gesehen, die ihre Waren verkauft haben, oder auch Juden, die dorthin reisten, um Falafel oder Hummus zu essen. Dort ist mir dann auch bewusst geworden, dass die Situation in anderen Städten anders war als beispielsweise in unserem Dorf.

 

Wie wurde der Konflikte innerhalb Ihrer Familie thematisiert?

Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Eltern uns immer erzählt haben, wie ungewohnt und schwierig es für sie war, sich an die neue Lebensrealität anzupassen. Meine Eltern sind in den 1920er- und 1930er-Jahren geboren und fanden sich als Palästinenser nach 1948 auf einmal in einer Situation wieder, in der sie nun Bürger des Staates Israel waren. Hinzu kam noch die Militärbesatzung, die vieles erschwert hat. Meine Brüder wurden fast alle während dieser Zeit geboren und erst nach 1966 wurden die Restriktionen ein wenig gelockert. Doch diese Zeit hat bis heute eine Lücke hinterlassen, die wir nun versuchen zu schließen, um unsere Rechte als vollwertige Staatsbürger einzufordern.

 

»Was ist wichtiger, der Sieg über den Feind oder ein lang anhaltender Frieden?«

 

Sie haben lange Zeit im Ausland gelebt. Was hat Sie dazu bewegt, in Ihre Heimat zurückzukehren?

Der Wunsch, etwas zu bewegen und verändern zu können. Ich arbeite nun seit zwei Jahren an der Universität Haifa. Davor habe ich in den USA, in Großbritannien und auch in der Schweiz gelebt und gearbeitet, bis ich mich für die Rückkehr entschied. Ich wollte direkt involviert sein und mir war bewusst: Wenn ich wirklich etwas verändern möchte, reicht es nicht aus, nur in Büchern darüber zu lesen. Man muss die Realität und die Dynamiken vor Ort miterleben.

 

Wie haben Sie die Situation nach Ihrer Rückkehr und im Zuge Ihrer Tätigkeit an der Universität von Haifa erlebt?

Eine Begegnung ist mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, als ich gerade anfing, an der Universität zu unterrichten. In Haifa sind circa 40 Prozent der Studierenden arabisch. Die Situation ist vor allem hier anders als in anderen Teilen des Landes. Bevor ich mit meiner Vorlesung startete, begrüßte ich die Studierenden zuerst mit den Worten »Boker Tov« und dann mit Worten »Sabah Al-Khair«. Beides bedeutet Guten Morgen, jeweils auf Hebräisch und auf Arabisch. Am Ende der Vorlesung kam dann eine arabische Studentin auf mich zu und erzählte mir, dass sie wirklich das Gefühl hatte dazuzugehören, nachdem ich die Studierenden in beiden Sprachen begrüßt hatte. Auf Andere mag das zunächst einmal unverständlich wirken, wie so eine simple Geste jemandem so nahe gehen kann, aber für die Palästinenser ist so etwas nicht selbstverständlich. Sie wachsen in einer Realität auf, in der sie nicht als gleich- und vollwertige Bürger behandelt werden und dies tagtäglich auf verschiedene Arten erleben müssen.

 

Hegen Sie noch Hoffnung auf Frieden und was benötigen die Menschen in Gaza aus Ihrer Sicht?

An diesem Punkt muss man sich fragen: Was ist wichtiger, der Sieg über den Feind oder ein lang anhaltender Frieden? Es geht hierbei in erster Linie um die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen, um ihr Wohlbefinden. In Zeiten des Krieges fragt niemand danach, wie es einem geht, und so ergeht es auch den Menschen in Gaza. Um ihre psychische Gesundheit kümmert sich niemand. Umso wichtiger ist es, dass sie die psychologische Unterstützung erhalten, die sie brauchen.


Ahmad Abu-Akel ist Sozial- und kognitiver Neurowissenschaftler und derzeit als Lehrbeauftragter an der Fakultät für Sozialwissenschaften in der Abteilung für Psychologie an der Universität von Haifa tätig. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Lausanne. Abu-Akel forscht zur Rolle von kognitiven und psychologischen Prozessen im Kontext des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Daneben ist er Vorstandsmitglied der Organisation »Empathy for Peace«, die wissenschaftliche Studien im Bereich Empathie und ihre Anwendung in konfliktbehafteten Gesellschaften fördert sowie von »B8 of Hope«, die aktiv im Bereich Friedensförderung in Israel und Palästina ist.

Von: 
Lara Farag

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