Für das arabische TV-Publikum ist er ein Fels im Trümmermeer: Wie Al-Jazeera-Korrespondent Wael Dahdouh zum Gesicht der Gaza-Berichterstattung wurde und warum die Arbeit palästinensischer Journalisten in diesem Krieg so schwierig wie wichtig ist.
Live-Schalte: Wael Dahdouh trauert um seinen Sohn, seine Hände umschließen den Leichensack: Hamza Dahdouh, der wie sein Vater für den Sender Al-Jazeera aus Gaza berichtete, war am Sonntag, dem 7. Januar, zusammen mit den Journalisten Mustafa Thuraya und Hazem Rajab in Rafah in den Süden des Gaza-Streifens zurückgekehrt – und inmitten der Omar-Al-Khattab-Straße von israelischen Raketen getötet worden.
Die Grenzstadt Rafah ist zurzeit der sicherste Ort im ganzen Gaza-Streifen – die Umgebung wirkt auf Videoaufnahmen zum Zeitpunkt des Raketeneinschlags verhältnismäßig ruhig. Damit ist klar: Die beiden Journalisten wurden Opfer einer gezielten Operation. In einer ersten Stellungnahme rechtfertigen sich die israelischen Streitkräfte (IDF) mit dem Verweis, dass beim Angriff auch »ein Terrorist getötet wurde, der mit einem Luftfahrzeug operierte und damit die Arbeit der IDF gefährdete«. Al-Jazeera wehrt sich gegen diese Darstellung: Die Drohne, eingesetzt für Luftaufnahmen, hätte der Videofotograf Mustafa Thuraya zum Zeit des Angriffs längst nicht mehr genutzt.
Eylon Levy ist sich seiner Sache sicher: In einem Tweet kommentiert der Sprecher der israelischen Regierung: »Experten-Tipp: Mit Terroristen in einem aktiven Kriegsgebiet mitzufahren, ist eine schlechte Idee – man könnte dabei verletzt werden.« Schließlich rudert Armeesprecher Daniel Hagari zurück: Man führe zwar noch Untersuchungen durch, aber der Verlust eines jeden Journalisten sei bedauerlich. »Wir haben erfahren, dass sie eine Drohne eingesetzt haben. Und eine Drohne in einem Kriegsgebiet einzusetzen, ist ein Problem. Das lässt sie wie Terroristen aussehen.«
Über Hundert Journalisten haben seit Beginn des Gaza-Kriegs ihr Leben verloren
Für bare Münze sind Statements israelischer Regierungsvertreter- und Armeesprecher dabei kaum zu nehmen: Schon der Fall Shirin Abu Akleh hat gezeigt, wie die IDF die Öffentlichkeit über ihren Umgang mit Journalisten in die Irre geführt hat. Die palästinensische Al-Jazeera-Reporterin war im Mai 2022 während eines IDF-Einsatzes von israelischen Scharfschützen getötet worden. Während die IDF nach einigen Monaten angesichts hohem, internationalen Druck schließlich einräumte, es könnte sich um einen Versehen gehandelt haben, der vor allem dem palästinensischem Beschuss geschuldet war, berichteten etliche Zeugen, dass niemand im direkten Umfeld von Abu Akleh in ein Gefecht verwickelt war. Bis heute hat die Tötung der Journalistin keine strafrechtlichen Konsequenzen.
Ähnlich verläuft im aktuellen Krieg ein Fall im Südlibanon: Am 13. Oktober wird der Reuters-Reporter Issam Abdallah von israelischer Panzermunition unweit der israelisch-libanesischen Grenze getötet. Issam Abdallah und sechs weitere Journalisten, die verletzt wurden, waren mehr als eine Stunde im Feld und zudem über die Pressewesten klar zu identifizieren. Einen Warnschuss gab es nicht – und trotzdem meinte Eylon Levy, bei einer Pressekonferenz auf die Tötung der Journalisten angesprochen: »Die IDF unternahm alles, um Zivilisten aus der Gefahrenzone zu bringen.« Mitte Dezember bekräftigte Oberstleutnant Richard Hecht die offizielle Position: »Wir zielen nicht auf Journalisten«, so der internationale Sprecher der IDF. Damit bleibt Issam Abdallahs Tod, wie auch der von Hamza Najl und Mustafa Thuraya, das, was Hagari als »unfortunate« kommentierte, was sich als »unglücklich« oder »bedauerlich« verstehen lässt.
Antworten im Fall Issam Abdallah blieb die IDF der Nachrichtenagentur Reuters auf Nachfrage schuldig: Wussten die Soldaten der israelischen Streitkräfte, dass sie auf Journalisten schießen?
»Es ist nicht auszuschließen, dass die IDF gezielt auf Journalisten schießt«, antwortet Wael Dahdouh in einem der Interviews mit einem arabischen Sender auf die Frage, die sich immer dringlicher stellt angesichts der Tatsache, dass bereits über Hundert Journalisten seit Beginn des Gaza-Kriegs ihr Leben verloren haben. Der 53-Jährige ist vielleicht der berühmteste Kriegsreporter, der zurzeit aus dem Gaza-Streifen berichtet. Nicht nur, weil er als Büroleiter und Chefkorrespondent von Al-Jazeeras Geschäftsstelle eine Reichweite wie kein anderer arabischer Journalist erzielt. Auch, weil sein Gesicht in der Region seit mehr als zwanzig Jahren auf den TV-Bildschirmen präsent ist: Die Freiheit, sich dem Krieg zu enthalten, ihm zu entziehen, wurde ihm – wie auch der restlichen Bevölkerung im Gaza-Streifen – nicht gegeben.
Dahdouhs journalistischer Aufstieg ist eng verbunden mit der Berichterstattung über die Zweite Intifada
Geboren wurde Wael Dahdouh im Jahr 1970 in eine Bauernfamilie nahe Gaza-Stadt. Sein Oberstufenzeugnis hat er im israelischen Gefängnis erhalten, sieben Jahre lang sitzt er hinter Gittern, verurteilt wegen Teilnahme an der Ersten Intifada 1987. Wie er in einem Interview gegenüber dem Portal Al-Monitor im Jahr 2021 berichtet, habe ihn die Zeit im Gefängnis verändert: »Aus einem leichtsinnigen Kind wurde ein ernsthafter Mann.« Nach der Haft, erzählt er in einem Porträt auf Al-Jazeera, hatte er eigentlich im Irak Medizin studieren wollen. Doch die dafür notwendige Ausreisegenehmigung verwehrten ihm die israelischen Behörden, ein Medizinstudiengang im Gaza-Streifen gab es damals nicht. Wael Dahdouh schrieb sich daraufhin für das Fach Journalismus an der Islamischen Universität Gaza ein.
Sein journalistischer Aufstieg ist eng verbunden mit der Berichterstattung über die Zweite Intifada: Als Korrespondent berichtet Dahdouh seit den frühen 2000er Jahren unter anderem für die Zeitung Al-Quds, den Radiosender Sawt Filastin (»Stimme Palästinas«) und den TV-Kanal Al-Arabiya. Spätestens mit dem Wechsel zu Al-Jazeera im Jahr 2004 ist Wael Dahdouh Fernsehzuschauern in der gesamten arabischen Welt ein Begriff: Für eine ganze Generation – von Ägypten über Palästina und Jordanien bis hin zum Golf – ist sein Gesicht mit dem Schicksal des Gaza-Streifens verbunden. So auch im Frühjahr 2021, als das Al-Jalaa-Gebäude, welches neben dem Al-Jazeera-Büro auch die lokale Repräsentanz der Nachrichtenagentur Associated Press beherbergt, von israelischen Geschossen dem Erdboden gleichgemacht wird. Die Journalisten werden vorgewarnt, fünf Minuten später fällt »Al-Burj – die Burg«, wie das Hochhaus auch genannt wurde, in sich zusammen.
Seit Ausbruch des Gaza-Kriegs im Oktober kommen die Einschläge nicht nur näher, treffen sie seine engsten Angehörigen: Im Oktober verliert Dahdouh auf einen Schlag seine Frau, einen Sohn, eine Tochter sowie ein Enkelkind. Ein Monat später erleidet er bei einem Raketenangriff Verletzungen, ein Kollege wird getötet. Nun traf es am 7. Januar seinen ältesten Sohn, den er noch am selben Tag zu Grabe trägt. »Hamza war alles, was mir geblieben war«, sagt der Journalist bei der Beerdigung.
»Kein Flecken im Gaza-Streifen ist sicher«, ergänzt Dahdouh noch und spielt damit auf die Tatsache an, dass die IDF in diesem Krieg bereits mehrfach vermeintlich sichere Evakuierungskorridore für Zivilisten unter Feuer genommen hat. Laut Angaben des »Komitees zum Schutz von Journalisten« (CPJ) kamen bei keinem anderen Konflikt seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 1992 so viele Journalisten ums Leben wie im Gaza-Krieg.
Seit dem 7. Oktober gewinnt in Israel ein Diskurs über Journalisten an Konjunktur, der systematisch Grauzonen schafft. Dieses Framing begann, als die israelische Organisation »HonestReporting« in einem Bericht Journalisten und Fotografen auflistete, die am 7. Oktober von Beginn an vorderster Front mit dabei waren. Auch wenn der Bericht erstmal nur Aufklärung forderte und wichtige Fragen aufwarf, zeichnet er doch ein Bild, demnach palästinensische Journalisten mehr mediale Komplizen der Hamas, denn professionelle Reporter sind.
Die Berichterstattung in Gaza ist Limitationen und Konventionen unterworfen
Trotzdem genießen gemäß der Genfer Konvention sämtliche Journalisten den gleichen Schutz wie alle Zivilisten. Die israelischen Streitkräfte sehen das offensichtlich anders: Denn im Fall Hamza Dahdouh präsentierte die IDF am 10. Januar der Öffentlichkeit ein Dokument, das beweisen soll, dass der Journalist als »Ingenieur« bei den »Saraya Al-Quds« Teil der gewesen sein soll, dem militärischen Flügel der Organisation »Islamische Dschihad«. Die Authentizität des Dokument lässt sich bislang nicht unabhängig und zweifelsfrei überprüfen, ebenso wenig, was die vermeintliche Tätigkeitsbeschreibung eigentlich genau meint.
Die Berichterstattung in Gaza ist Limitationen und Konventionen unterworfen: Vollständige Meinungsfreiheit und freien Journalismus gibt es nicht in der Hamas-Diktatur. Zugang zu Quellen, aber auch alltägliche journalistische Vorgänge wie Drehgenehmigungen machen eine Kooperation mit den lokalen Behörden unausweichlich.
Auch greift Israel aktiv in den Krieg der Bilder ein und definiert die Grenzen des journalistisch Möglichen. Nicht nur durch die umfassenden Kompetenzen der israelische Militärzensur, die sowohl für internationale wie landesweite Medien gilt. Sondern auch durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der vergangene Woche, Journalisten den Zugang ohne Beaufsichtigung durch die IDF zum Gaza-Streifen zu verwehren.
Es bleibt damit an den palästinensischen Journalisten, weiter aus Gaza zu berichten. Die journalistische Arbeit, die Dahdouh und seine Kollegen trotz persönlicher Verluste und der ständigen Gefahr für Leib und Leben fortführen, bleibt als eines der wenigen Instrumente, die die Palästinenser in der Hand haben, um die rücksichtslose Kriegsführung der IDF in diesem Gaza-Krieg zu dokumentieren. So kündigt auch Dahdouh nach dem Tod seines Sohnes an: »Wir machen weiter – Tod und Trauer zum Trotz. Denn wir haben diesen Weg freiwillig eingeschlagen«.