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Völkerrecht, Außenpolitik und der Gaza-Krieg

Der selektive Multilateralismus der Bundesregierung

Kommentar
Völkerrecht, Außenpolitik und der Gaza-Krieg

Die Positionierung der Bundesregierung zum Gaza-Krieg steckt voller Widersprüche. Denn die Kluft zwischen außenpolitischer Linie und völkerrechtlicher Entwicklung wird immer größer, beschreibt Völkerrechtlerin Silvia Steininger.

Die Bundesrepublik rühmt sich für ihren Einsatz für das Völkerrecht. Neben der »Völkerrechtsfreundlichkeit« des Grundgesetzes ist das Engagement für Menschenrechte und internationale Institutionen auch in außenpolitischen Leitlinien verankert, beispielsweise im »Weißbuch Multilateralismus« (2021) oder den »Leitlinien für eine feministische Außenpolitik« (2024). Internationale Gerichte spielen dabei eine zentrale Rolle. Wie Annalena Baerbock in ihrer Rede 2023 vor der Haager Akademie für Völkerrecht appellierte, wird durch internationale Gerichtsverfahren Gerechtigkeit geschaffen, welche nachhaltigen Frieden ermöglicht.

 

Der Gaza-Krieg und die resultierenden Gerichtsverfahren zeigen jedoch Bruchstellen zwischen diesen starken Bekenntnissen zum Völkerrecht und der deutschen Praxis. Die öffentlichen Positionen zu den Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und dem Internationalen Gerichtshof (IGH) offenbaren den Spagat zwischen Völkerrecht und politisierter Staatsräson-Rhetorik, in welchem sich die Bundesregierung befindet. Sie zeichnen ein Bild eines selektiven Multilateralismus, der hochproblematisch für die Glaubwürdigkeit der deutschen Völkerrechtspolitik ist.

 

Doppelstandards vor dem Internationalen Strafgerichtshof

 

Seit 2021 untersucht der IStGH die Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten inklusive Ostjerusalem, auf mögliche Verbrechen gegen das Römische Statut. Zuerst auf Wunsch des Staates Palästina haben seit Oktober 2023 auch Südafrika, Bangladesch, Bolivien, die Komoren, Dschibuti, Chile, und Mexiko eine Untersuchung beantragt.

 

Am 20. Mai 2024 gab der Chefankläger Karim Khan bekannt, dass er hinreichende Belege für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit den Angriffen der Hamas am 7. Oktober und der resultierenden israelischen Invasion des Gazastreifens gesammelt habe. Er beantragte Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant, sowie Yahya Sinwar, Führer der Hamas in Gaza, Mohammed Diab Ibrahim al-Masri, den Anführer der Kassam-Brigaden, sowie Ismail Haniyeh, den politischen Führer der Hamas, der inzwischen bei einem israelischen Angriff vor wenigen Wochen in Teheran getötet wurde. Außergewöhnlich ist, dass schon in diesem frühen Stadium des Verfahrens mehr als 70 Staaten, NGOs, wissenschaftliche Institutionen und Experten Stellungnahmen an den IStGH verfassten.

 

Die deutsche Stellungnahme sticht unter den Mitgliedsstaaten des Römischen Statuts aus zweierlei Sicht heraus. Erstens ist Deutschland der einzige Mitgliedsstaat, der nicht den offiziellen Titel Staat Palästina (»The State of Palestine«) in seiner Stellungnahme nutzt. Zweitens argumentiert das Auswärtige Amt, dass das Komplementaritätsprinzip, demnach Verfahren primär von nationalen Gerichten verfolgt werden sollen und die internationale Gerichtsbarkeit erst aktiv wird, wenn staatliche Behörden nicht fähig oder willens sind, völkerstrafrechtliche Verbrechen effektiv zu verfolgen, dem aktuellen Verfahren vor dem IStGH im Weg steht. Insbesondere da Israel einem andauernden bewaffneten Angriff ausgesetzt wäre, appelliert Deutschland an den IStGH, den nationalen Behörden mehr Zeit zu gewähren.

 

Dieses Verständnis des Komplementaritätsprinzip widerspricht nicht nur dem herrschenden Verständnis des IStGH, welcher erst im April 2024 ein 85-seitige Positionspapier dazu verabschiedet hat, sondern auch der Praxis des Völkerstrafrechts. Völkerstrafrechtliche Verbrechen müssen gerade auch in Situationen andauernder bewaffneter Konflikte adressiert werden. Denn die Bundesregierung hat sich beispielsweise in der Vergangenheit besonders intensiv für die völkerstrafrechtliche Aufarbeitung von Verbrechen im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine vor dem IStGH eingesetzt

 

Deutschland auf der Anklagebank vor dem Internationalen Gerichtshof

 

Auch vor dem Internationalen Gerichtshof sind verschiedene Verfahren anhängig, die die Situation im Gazastreifen betreffen. Etwa die Klage Südafrikas gegen Israel vom Dezember 2023, basierend auf einer möglichen Verletzung der Genozidkonvention. Außerdem die Klage Nicaraguas gegen Deutschland vom März 2024, ebenso basierend auf der Genozidkonvention und der deutschen Unterstützung des israelischen Militärs durch Waffenlieferung, sowie das Gutachten zu den rechtlichen Konsequenzen der israelischen Besatzung der palästinensischen Territorien inklusive Ostjerusalem vom Juli 2024. In allen drei Verfahren positionierte sich die Bundesregierung öffentlich, oft prominent auf Seiten der israelischen Regierung.

 

Schon vor den ersten öffentlichen Anhörungen im Verfahren von Südafrika gegen Israel äußerte sich die Bundesregierung, darunter auch Annalena Baerbock und Robert Habeck, abweisend gegenüber dem Vorwurf der Genozidkonvention. Schon zwei Stunden nach der öffentlichen Anhörung Israels am 12. Januar im Rahmen eines Antrags auf einstweilige Maßnahmen des IGH aufgrund der Dringlichkeit, ein äußerst gestrafftes Verfahren um einstweiligen Rechtsschutz zu gewährleisten, veröffentlichte die Bundesregierung ein Statement, demnach sie eine Stellungnahme zur Unterstützung von Israel im Hauptsacheverfahren abgeben wollte.

 

Es zeigt sich jedoch zunehmend, dass diese Position im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verpflichtungen liegen könnte. So twitterte das Auswärtige Amt am 8. April in Reaktion auf die Klage Nicaraguas: »Wir setzen uns für das Völkerrecht ein & unterstützen den IGH. Auch deswegen weisen wir Vorwürfe zurück, Deutschland könnte gegen die Völkermordkonvention oder humanitäres Völkerrecht verstoßen.« Noch lavierender wurde die deutsche Position nach der Veröffentlichung des Gutachtens, in welchem der IGH unter anderem eine völkerrechtswidrige Besatzung Israels der palästinensischen Gebiete identifiziert und alle Staaten dazu aufrief, zur Beendigung dieses rechtswidrigen Zustands beizutragen.

 

Das Gutachten wurde 2022 von der UN-Generalversammlung beantragt, Deutschland sprach sich damals dagegen aus. Obwohl das Auswärtige Amt im August 2023 einen Experten für eine Stellungnahme im Rahmen des Verfahrens beauftragte, blockte das Bundeskanzleramt ab. Deutschland war somit nicht unter den 54 Staaten, welche ihre Position zur Frage dem Gericht unterbreiten. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Gutachtens am 19. Juli 2024 unterstreicht diese Diskrepanz.

 

Das Auswärtige Amt erklärte in der Regierungspressekonferenz vom 22. Juli 2024: »Es gibt kein Völkerrecht à la carte – Völkerrecht gilt. Jetzt gibt es ein nicht bindendes Gutachten des höchsten Gerichtshofs der Vereinten Nationen, das genau das sagt. Insofern ist da letztlich wenig Interpretationsspielraum.«

 

Dennoch beruft sich das Auswärtige Amt darauf, dass die deutsche Position zu einer Zwei-Staaten-Lösung vom IGH grundsätzlich bestätigt worden ist und sich somit eigentlich keine außenpolitischen Kurskorrekturen ergeben. Noch radikaler äußerte sich der Kanzler Olaf Scholz in Bezug auf mögliche politische Konsequenzen aus dem Gutachten ablehnend gegenüber einem Stopp von Waffenlieferungen nach Israel und bezeichnete Forderungen nach einem Boykott von israelischen Gütern als »eklig«. Die Kluft zwischen außenpolitischer Linie und völkerrechtlicher Entwicklung wird somit immer größer.


Silvia Steininger ist Postdoctoral Researcher an der Hertie School, Centre for Fundamental Rights und wissenschaftliche Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Von: 
Silvia Steininger

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