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Deutschland und die Peschmerga

Wie weit man gegen den IS gehen kann

Analyse

Die Deutschen liefern Waffen an kurdische Peschmerga im Irak. zenith-Autorin Julia Joerin, selbst Schweizerin, meint: Wollte Berlin seiner eigenen Logik folgen, müsste es wohl eine andere Kraft als die Autonomieregierung in Erbil ausrüsten.

Die Sicherheitsinteressen Deutschlands seien betroffen, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergangenen Woche, als es darum ging, die kurdischen Peschmerga mit deutschen Rüstungsgütern zu beliefern, damit diese gegen die Milizen des Islamischen Staats zu Felde ziehen können. Ein militärischer Erfolg gegen den »Islamischen Staat« (IS) – wie immer man diesen definiert – soll nun auch durch eine »internationale Koalition« möglich werden, zu der die US-Regierung aufgerufen hat. Wie die New York Times berichtete, soll der Einsatz des US-Militärs in drei Stufen erfolgen und bis zu drei Jahre dauern.

 

Die erste Phase habe mit Luftangriffen bereits begonnen. Danach sollen das irakische Militär sowie »kurdische Kämpfer« und möglicherweise Angehörige sunnitischer Stämme beraten, ausgebildet oder mit Waffen unterstützt werden. In der dritten Phase soll es dem IS innerhalb Syriens an den Kragen gehen. Und wollten die Deutschen in ihrer bisherigen Haltung und Analyse der Lage konsequent sein, so müssten sie nicht Gewehre schicken, sondern Kampfflugzeuge mit eigenen Piloten. Wie ihre amerikanischen Verbündeten.

 

Dass der IS allein militärisch aber nicht besiegt werden kann, geben auch Merkel und andere Verfechter von Waffenexporten nach Kurdistan zu – ob implizit oder explizit. Alle wissen sie: Es sind weder amerikanische Luftschläge noch deutsche Sturmgewehre, die den IS-Fanatikern den Hass, der in ihnen steckt, austreiben werden. Sie begehren den Krieg, ohne ihn ginge die IS-Welt unter. Man kann versuchen, die Dschihadisten samt und sonders mit Waffen auszurotten. Das aber wird – abgesehen von moralischen Bedenken – sicher nicht gelingen. 

 

Und doch existiert keine Strategie, die über die militärische hinausgeht. Auch die Barbareien des IS müssen in ihrem Kontext betrachtet werden, denn das »Phänomen« ist nicht über Nacht entstanden. Es ist kein Zufall, dass der IS gerade in Syrien und im von Krieg, Sanktionen und Despotismus zerrütteten Irak heranwachsen konnte – auch als indirekte Folge des Einmarsches der Amerikaner im Jahr 2003. Damals verschaffte sich »Al-Qaida im Irak« einen gewissen Rückhalt in Teilen der sunnitischen Bevölkerung, indem sie sich als Widerstandsgruppe gegen die ausländische Besatzungsmacht beweisen konnte.

 

Kritiker der jüngsten amerikanischen Luftschläge befürchten deshalb, der IS könnte sich das militärische Eingreifen der USA auch dieses Mal zunutze machen. Dies umso mehr, als dass im Irak auch iranische Revolutionsgarden und Milizen an der Bodenoffensive gegen den IS beteiligt sind. Tatsächlich ist für die IS-Propaganda die »Verschwörung« einer »westlich-iranischen Allianz« gegen die Sunniten eine glückliche Fügung.

 

Gründe, militärische Interventionen und Waffenexporte in den Kriegsherd des Nahen Ostens pauschal abzulehnen, gibt es genug. Nicht von der Hand zu weisen ist in diesem Zusammenhang auch die Gefahr, dass weitere Waffen in falsche Hände geraten könnten.

 

Eine geschlossene Kurden-Armee gibt es nicht

 

Wer sich dennoch für Waffenlieferungen an eine Konfliktpartei entscheidet, muss sich gut überlegen, wem er sie anvertraut – vorausgesetzt, dass er das Ziel verfolgt, den Kampf gegen den IS effizient zu unterstützen und dafür notfalls Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. Dass Bagdad bisher kein guter Partner war, zeigte sich im Juni, als die irakischen Truppen bei der Einnahme von Mossul Posten und Waffen den einfallenden Dschihadisten praktisch kampflos überließen. Ob die kurdische Regionalregierung in Erbil ein besserer Partner ist? Deutsche Politiker sprechen ihr immer wieder das Vertrauen aus.

 

Der außenpolitische CDU-Sprecher Philipp Mißfelder sagte neulich in der ARD-Talkshow »Beckmann«, »die Kurden« hätten gezeigt, dass sie das Vertrauen, das Berlin in sie setzt, verdienen. Zunächst muss in Betracht gezogen werden, dass die Kurden nicht über eine geschlossene Armee verfügen, sondern in Milizen aufgeteilt sind: Zu den Peschmerga gehören einerseits die Miliz der Kurdisch-Demokratischen Partei (KDP) unter Massud Barzani, die Erbil und Dohuk kontrolliert, andererseits diejenige der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) des siechenden Ex-Präsidenten Dschalal Talabani, die Suleimaniya und Germiyan beherrscht.

 

Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) kontrolliert das Qandil-Gebirge entlang der Grenzen des Iraks mit der Türkei und Iran. In Kirkuk sind Milizen von KDP, PUK sowie, seit einiger Zeit, auch der PKK vertreten. Die PKK steht sowohl den syrischen Volksverteidigungseinheiten YPG als auch der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) in Syrien nahe, die im Zuge des syrischen Bürgerkrieges im Norden des Landes – kurdisch Rojava genannt – eine Selbstverwaltung aufgebaut hat. Zwar haben die jüngsten Feldzüge des IS im Nordirak die kurdischen Fraktionen etwas zusammenrücken lassen.

 

Doch ihre Beziehungen sind geprägt durch Rivalitäten, die in den 1990er Jahren in einen innerkurdischen Krieg mündeten. Seitdem von Waffenlieferungen an »die Kurden« die Rede ist, liefern sich die KDP und die PUK denn auch einen intensiven Medienkrieg. Jeder will derjenige sein, der den IS am erfolgreichsten bekämpft, aber keiner will Niederlagen preisgeben. PUK-Vertreter beschuldigen die KDP, die Mehrheit der von anderen Staaten erhaltenen Waffen für sich zu beanspruchen. KDP-Mitglieder sagen, ihre Gebiete seien stärker bedroht vom IS als diejenigen des PUK. Und auch die irakische Regierung in Bagdad hat geholfen, die Zwietracht zwischen den kurdischen Gruppen anzuheizen.

 

Warum wurde Sindschar von den Peschmerga aufgegeben?

 

Die Bilder von Tausenden Jesiden, die ohne Wasser und Brot das Sindschar-Gebirge hochliefen, um sich vor der Gewalt des IS in Sicherheit zu bringen, erinnerten an die Massenflucht der Kurden unter Saddams Regime Anfangs der 1990er Jahre. Man braucht kein Militärexperte zu sein, um zu verstehen, dass die geografische Lage Sindschars – zwischen der syrischen Grenze und der IS-Hochburg Tel Afar – für den IS durchaus strategisch Bedeutung hat. Auch wusste jeder, allen voran die Kurden, dass die dort angesiedelte religiöse Minderheit in besonderer Gefahr schwebte.

 

So ist der Zorn der Jesiden leicht nachzuvollziehen: Sie fühlen sich von der kurdischen Autonomieregierung verraten. Die Frage, warum die Barzani unterstellten Peschmerga dort vor den IS-Kämpfern widerstandslos flohen, bleibt bis heute unbeantwortet. Der weitere Verlauf der Geschichte stellt sich wie folgt dar: Als die Jesiden hilflos eingekesselt waren, kamen ihnen die der PKK nahestehenden Volksverteidigungseinheiten YPG von Syrien her zur Rettung. Gleichermaßen sind diese offenbar die einzigen, die sich ernsthaft darum bemühen, IS-Milizen aus Sindschar zu vertreiben.

 

Auch anderswo in Irakisch-Kurdistan – wie in Makhmur westlich von Erbil – leisteten die PKK und die mit ihr verbündeten Milizen einen entscheidenden Beitrag zur Abwehr von IS-Offensiven. Trotzdem sind es die Peschmerga – und nicht die PKK oder die YPG – die von der deutschen Regierung mit Waffen ausgestattet werden. Das ist unbequem, aber nicht von der Hand zu weisen.

 

Im Kampf gegen den IS erweist sich die PKK als effiziente Kraft

 

Die Leistung der PKK-Kämpfer kommt nicht von ungefähr. Sie zehren von ihrer jahrzehntelangen Erfahrung im Guerillakampf gegen die türkische Armee und kennen sich wohl auch mit einigen terroristischen Methoden ihrer Gegner des IS gut aus. Zudem verteidigen sich die Volksbefreiungseinheiten YPG seit zwei Jahren gegen die Angriffe der Dschihadisten in Nordsyrien – und haben sich dabei anscheinend auch mit dem Assad-Regime in einem brüchigen Burgfrieden arrangiert.

 

Stünde bei der Bundesregierung das Bestreben im Mittelpunkt, den Kampf gegen den IS bestmöglich zu unterstützen und religiöse Minderheiten zu schützen, so müsste sie sich – ihrer eigenen Logik folgend – in erster Linie um eine Zusammenarbeit mit der PKK bemühen. Dies würde auch eine Aufhebung des seit 1993 andauernden PKK-Verbots mit sich ziehen und mag als Idee zunächst absurd erscheinen. Es wäre aber folgerichtig. Die Bundesregierung will die Waffenlieferungen ja nicht nur als politisches Signal oder moralischen Beistand verstanden wissen, sondern militärische Nothilfe leisten. 

 

Natürlich möchte die Bundesregierung die Nato, insbesondere den Nato-Partner Türkei, nicht gegen sich aufbringen. Im Gegenteil, sie tut Ankara einen Gefallen, indem sie die von Barzani dominierte Regionalregierung mit Waffenlieferungen politisch stärkt. Denn diese konkurriert mit der PKK und der PYD seit Jahren um die Vormachtstellung in den kurdischen Gebieten. Kanzlerin Merkel will sich anscheinend den Ausspruch des einstigen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu Herzen nehmen, der über einen lateinamerikanischen Diktator sagte: »Er mag ein Dreckskerl sein, aber er ist unser Dreckskerl«. Wenn man sich schon hinter Dreckskerle stellt, würde die PKK den Job, den man erledigt sehen will, nicht besser machen?

Von: 
Julia Joerin

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