Die Kommunalwahlen am 31. März dienen nicht nur in den Großstädten als Test: Denn Wahlbündnisse sind zerfallen und die Wählerschaft in der Türkei muss zwischen ideologischen Werten und wirtschaftlichen Sorgen abwägen. Die Partei des Sohnes von Erdoğans politischem Ziehvater könnte für die größten Überraschungen sorgen.
Die Aussicht auf eine Veränderung der verhärteten politischen Machtverhältnisse hatte besonders in weiten Teilen der jungen Bevölkerung im vergangenen Jahr den Wunsch und die Hoffnung auf Wandel mobilisiert. Jedoch scheint die Enttäuschung über die Niederlage von Kemal Kılıçdaroğlu gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen 2023 noch nachzuwirken.
Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar letzten Jahres, das krisenreiche geopolitische Umfeld und die hohe Inflation haben die türkische Gesellschaft in einen dauerhaften Frustrationszustand manövriert. Das »Millet İttifakı«, das Wahlbündnis der Opposition, ist aufgelöst worden, wodurch die Oppositionsparteien von unterschiedlichen Kandidaten vertreten werden. In Istanbul wird deutlich, dass Kandidat Murat Kurum, der frühere Minister für Umwelt und Stadtplanung, nur als Stellvertreter Erdoğans agiert. Ihm gegenüber steht der amtierende Oberbürgermeister Ekrem İmmamoğlu.
Das Ringen um politischen Einfluss zwischen der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und der stärksten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) erreichte zwei signifikante Höhepunkte in den vergangenen fünf Jahren: Die Präsidentschaftswahl 2023 und die Kommunalwahlen 2019. Beide Male folgen ein Kopf-an-Kopf-Rennen, Fälschungsvorwürfe und Neuwahlen aufeinander. Gegen Kemal Kılıçdaroğlu gewann Erdoğan erst in der Stichwahl. Bei den letzten Kommunalwahlen 2019 konnte jedoch die CHP einen historischen Sieg davontragen. Nach 25 Jahren AKP-Dominanz wurde Ekrem Imamoğlu zum Oberbürgermeister Istanbuls gewählt. Auch bei dieser Wahl hatte es zwei Durchläufe gebraucht, da die AKP der CHP Regelwidrigkeiten vorgeworfen hatte. Wie so oft in der politischen Landschaft der Türkei, wurde der Wahlprozesses hinterfragt und heftig diskutiert. Ein Thema, das vermutlich auch in den Tagen nach diesem Wahlgang wieder aufkommen wird.
Die AKP verfügt über einen unverhältnismäßig hohen Zugang zu öffentlichen Ressourcen
Nach 30 Jahren politischem Einfluss und zehnjähriger Präsidentschaft ist klar: Erdoğan weiß ,wie man gewinnt, auch wenn er dafür hier und da mal ein paar Änderungen vornehmen muss. Ein Narrativ, welches Erdoğan gerne nutzt, ist das seiner »letzten Wahl«. Auch jetzt bei den Kommunalwahlen möchte der Präsident die Wähler dazu motivieren, ein letztes Mal für seine Partei die AKP zu stimmen, denn, so sagt er, noch einmal wird er nicht in einen Urnengang involviert sein. Unabhängig davon, wie ernst er es mit dieser Ankündigung meint: Es ist schwer vorstellbar, dass Erdoğan eine Niederlage hinnehmen würde. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung Istanbuls ist kaum zu überschätzen, was sich allein aus der Größe der Stadt und der damit einhergehenden Wirtschaftskraft und Wählerschaft ergibt.
Die Stärke der Opposition bei den Wahlen 2019 und 2023 war auch Resultat der Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher Parteien, die den Erfolg der CHP erst ermöglichte. In der Türkei verfügt die AKP über einen unverhältnismäßig hohen Zugang zu öffentlichen Ressourcen und landesweiten Medien, außerdem kontrolliert sie weite Teile der staatlichen Bürokratie. Dadurch hat sie die besten Startvoraussetzungen und kann eine effektive Wahlkampagne führen. Diese strukturellen Vorteile bedingen ein Wahlbündnis der Herausforderer, um den Oppositionsparteien einen Zugang zu effektiver politischer Teilhabe zu gewähren. Warum also haben sich die Oppositionsparteien für die bevorstehenden Kommunalwahlen dazu entschieden, gegeneinander zu arbeiten?
Ein gemeinsames Wahlbündnis bedeutet auch, dass die Parteien eine Agenda formulieren, die sich in der Mitte des politischen Spektrums trifft, also ideologische Aspekte in den Hintergrund gerückt werden müssen. Diese Mäßigung politischer Agenden geht einher mit dem großen Risiko, die ideologische Wählerschaft zu verlieren. Aus diesem Grund haben sich kleine Oppositionsparteien, die an der Seite der CHP verloren haben, entschieden, sich von der führenden Oppositionspartei zu distanzieren und eigene Kandidaten aufzustellen. Ziel hierbei ist es, diese ideologisch orientierten Wähler zurückzugewinnen und damit ihre Wählerbasis zu festigen.
Warum die CHP trotz wahrscheinlicher Stimmenverluste gute Gewinnchancen hat
Keine überraschende Entwicklung, erklärt Berk Esen. »Wenn ein Oppositionsbündnis besiegt wird, löst es sich in der Regel auf und die Parteien beschuldigen sich gegenseitig«, sagt der Professor für Politikwissenschaft an der Sabancı-Universität in Istanbul. »Mit Sicherheit wird die zersplitterte Opposition die CHP-Kandidaten beeinträchtigen, vor allem in den großen Ballungsgebieten.« Dieser Schaden könnte jedoch viel geringer ausfallen, als gemeinhin zu erwarten wäre.
Die Tatsache, dass die CHP trotz struktureller Vorteile der amtierenden Regierungspartei und der Spaltung der Oppositionsparteien hohe Gewinnchancen hat, ist ungewöhnlich, betont Esen. Die Niederlage einer Vielzahl der CHP-Kandidaten sei unter normalen Umständen unumgänglich, insbesondere in den Großstädten, wo die Regierungspartei auf eine große Wählerbasis zählen kann. Der ausschlaggebende Faktor: Regierungsfreundliche Wähler sind unzufrieden und enttäuscht. Die Lebensbedingungen verschlechtern sich stetig, hohe Mieten, steigende Lebensmittelpreise und Inflation plagen die Türkei seit Jahren.
Zwar wird der Stimmenanteil der CHP-Kandidaten sicherlich sinken, aber aufgrund der wirtschaftlichen Probleme und Unzufriedenheiten, die das Regierungsbündnis beeinträchtigen, werden die AKP-Kandidaten nicht unbedingt besser abschneiden, und es ist wahrscheinlich, dass sowohl die AKP als auch die CHP bei diesen Kommunalwahlen Stimmen einbüßen. Der beidseitige Stimmenverlust könnte so den Erfolg der CHP-Kandidaten trotz eines geringeren Wähleranteils begründen.
2023 hatte Fatih Erbakan bei den Präsidentschaftswahlen noch auf die eigene Kandidatur verzichtet
Eine Partei, die von der fragmentierten politischen Landschaft, der wirtschaftlichen Misere und den neuen Dynamiken besonders profitiert, ist die »Yeniden Refah Partisi« (YRP), zu Deutsch die »Neue Wohlfahrtspartei«. Die wohl interessanteste Neugründung auf nationaler Ebene und eine ernstzunehmende Konkurrenz für Erdoğan, weil sie dem eigenen politischen Lager entstammt. Die YRP fischt am äußeren rechten Rand der AKP und das mit Erfolg. Bei den Präsidentschaftswahlen 2023 unterstützte der Gründer und Parteivorsitzender Fatih Erbakan, der Sohn von Erdoğans politischen Ziehvater Necmettin Erbakan, die AKP-Regierung, indem er von einer Kandidatur absah. Jetzt hat die YRP in über 900 Bezirken und Provinzen eigene Kandidaten nominiert und ist die am stärksten wachsende Partei in der Türkei.
Die extrem religiös-konservative Agenda und große wirtschaftliche Versprechen der YRP ziehen vor allem unzufriedene AKP-Wähler an. Bei dieser Wählerschaft handelt es sich um überzeugte Erdoğan-Anhänger, denen aber die wirtschaftliche Situation große Sorgen bereitet. Die Regierungswähler verstehen die YRP nicht als einen Herausforderer Erdoğans und seiner Koalition, sondern vielmehr als eine alternative religiös-konservative Partei, die sie wählen können, ohne die Absicht, das Regierungsbündnis zu beseitigen. Auf diesem Weg wollen sie der Regierung signalisieren, dass die wirtschaftliche Situation für sie nicht mehr tragbar ist und sie Veränderung brauchen, denn der säkularen Opposition ihre Stimme zu geben, ist für diese Wählerschaft keine Option.
Diesen Trend hat die YRP geschickt ausgenutzt, indem sie eine konservative kulturelle Agenda mit wirtschaftspopulistischen Elementen verschmolzen hat und sich in vielen ideologischen Themen rechts von der AKP positioniert, glaubt auch Experte Berk Esen. Es sei davon auszugehen, dass die YRP besonders gut in den dünn besiedelten, konservativen anatolischen Provinzen im Osten des Landes abschneiden wird, wo sie die sehr frommen Wähler mehr anspricht als die AKP. Auch auf nationaler Ebene wäre es keine Überraschung, wenn sie in Zukunft über fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann.