Die Regierungsallianz aus AKP und MHP versucht, die türkische Politik neu zu ordnen. Zum einen durch die Annäherung an die pro-kurdische DEM-Partei im Zuge des Friedensprozesses, zum anderen durch die Schwächung und Kaltstellung der CHP.
Zwei Prozesse prägen die politische Arena in der Türkei seit Oktober 2024. Auf der einen Seite der Dialog mit PKK-Führer Abdullah Öcalan – initiiert ausgerechnet von Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der nationalistischen MHP und Erdoğans wichtigster Verbündeter. Auf der anderen Seite wiederum das harte Vorgehen gegen die größte Oppositionspartei CHP und ihren Präsidentschaftskandidaten Ekrem İmamoğlu. Während der »terrorfreie Türkei«-Prozess (terrörsüz Türkiye) zwar viel Symbolträchtiges, aber noch wenig Konkretes herbeigeführt hat, nehmen die Repressionen gegen die von Staatsgründer Atatürk gegründete Partei stetig an Fahrt auf.
Nach der Absetzung und Verhaftung der Bürgermeister verschiedener Istanbuler Stadtbezirke stehen seit März Oberbürgermeister İmamoğlu sowie hunderte weitere Lokalpolitiker und Beamte der Stadtverwaltung im Visier der Justiz. Im Sommer folgten die Verhaftungen weiterer Bezirksbürgermeister sowie CHP-Lokalpolitiker im ganzen Land, darunter unter anderem die Oberbürgermeister von Adana und Antalya sowie ihr ehemaliger Amtskollege in Izmir.
Am 3. September ordnete ein Istanbuler Gericht schließlich an, den lokalen CHP-Verband in die Obhut eines Treuhänderkomitees zu überführen. Grund hierfür ist der Vorwurf der Manipulation des Istanbuler Kongresses im Oktober 2023, bei dem sich der İmamoğlu-Verbündete Özgür Çelik durchgesetzt hatte. Der vom Gericht ernannte Verwalter Gürsel Tekin hatte letztes Jahr zwar öffentlich seinen Austritt aus der Partei erklärt, diesen aber formal nie durchgeführt. Als Parteimitglied ist der ehemalige Parlamentsabgeordnete und Generalsekretär daher berechtigt, die Treuhänderschaft zu übernehmen. Aufgrund von Protesten konnte Tekin sein neues Büro fünf Tage später erst unter Polizeieskorte und begleitet von Tränengas und Schlagstöcken betreten.
Zahlreiche Experten und die Partei selbst sehen die Annullierung des Istanbuler Parteikongresses und die Einsetzung eines Verwalters als Generalprobe für die Reinstallation des ehemaligen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Der 76-Jährige könnte aufgrund ähnlicher Vorwürfe hinsichtlich des landesweiten Parteitages im November 2023 bereits am 15. September erneut die Parteiführung übernehmen. Die CHP zeigt sich jedoch auch kreativ und handlungsschnell. Mehr als 900 Delegierte von damals beriefen einen außerordentlichen Parteitag für den 21. September ein. Ein Urteil des Hohen Wahlausschusses bestätigte die Rechtmäßigkeit. Das bedeutet, dass laut Gesetz auch im Falle der Einsetzung eines Verwalters die Parteiführung um Özgür Özel nur sechs Tage später wiedergewählt werden könnte.
Kılıçdaroğlu wird sich wohl nicht die Blöße geben, lediglich für sechs Tage zurückzukehren
Im Fall Istanbul erzielte die CHP ebenfalls einen juristischen Erfolg. Ein Gericht in Ankara wies die Klage zur Annullierung des Istanbul-Kongresses ab. Die Parteiführung und einige Rechtsexperten interpretieren das Urteil als Ende der Treuhänderschaft, da das Gericht in Ankara ein endgültiges Sachurteil gefällt habe. Verwalter Tekin und andere Experten wiederum argumentieren, dass nur ein höheres Gericht die Treuhänderschaft beenden könne.
Kılıçdaroğlu wird sich wohl nicht die Blöße geben, lediglich für sechs Tage zurückzukehren. Denkbar ist, dass er nach Einsetzung als Verwalter den Parteitag verschieben lässt. Möglich ist aber auch, dass der Urteilsspruch verschoben und der Zustand der Unklarheit fortgeführt wird. Denn auch ohne die Absetzung der CHP-Führung gelingt es der Regierung bereits, die CHP vorläufig zu schwächen. Zahlreiche Gerichtsverfahren zwingen die Partei in die Defensive und kosten Ressourcen. Regierungsnahe Medien stellen die Ereignisse als Intrigen zwischen den CHP-Flügeln dar, vor allem als Rivalität zwischen İmamoğlu und Kılıçdaroğlu. Der populäre Istanbuler Oberbürgermeister und CHP-Präsidentschaftskandidat ist zudem seit Monaten von der Bildfläche verschwunden, während er und seine Amtskollegen als höchst korrupt dargestellt werden.
Darüber hinaus schafft die Regierung es auch, durch Kooptation zahlreicher Rivalen die enttäuschenden Wahlergebnisse nichtig zu machen. Bereits seit 2023 sind zahlreiche Parlamentsabgeordnete der oppositionellen İYİ-Partei, der über die CHP-Liste eingezogenen Kleinstpartei GP sowie der islamistischen YRP der AKP beigetreten. Die Regierungspartei gewann bei den Kommunalwahlen 2024 überraschend viele Bürgermeisterämter, da sie vor allem in der Provinz und unter Arbeitern eine populäre Alternative zur AKP darstellt. Zahlreiche ihrer Wahlsieger haben sich seitdem jedoch der Partei des Präsidenten angeschlossen.
Für die AKP ist es einfacher, Vertrauen in die anderen Parteien zu untergraben, als Vertrauen in die eigene Partei zurückzugewinnen
Seit einigen Tagen erlebt auch die CHP eine erste Rücktrittswelle. So erklärte Özlem Çerçioğlu, bekannt als besonders überzeugte Nationalistin und Anhängerin Atatürks, nach zwölf Jahren als Abgeordnete und elf Jahren als Oberbürgermeisterin von Aydın ihren Austritt aus der Partei und den Eintritt in die AKP. Im Istanbuler Bezirk Beykoz wechselte Özlem Vural Gürsel ebenfalls die Partei – nur wenige Wochen nach ihrer Wahl als Vertreterin des verhafteten Bürgermeisters Alaattin Köseler durch das Bezirksparlament. Besonders pikant: Die CHP verlor auch dort die Mehrheit, nachdem drei Abgeordnete ebenfalls die Partei verließen – einer davon ist im Prozess gegen den Istanbuler Parteikongress angeklagt. Der vom Volk gewählte Bürgermeister wiederum wurde nur 30 Stunden nach seiner gerichtlich verordneten Freilassung erneut verhaftet.
Angesichts der starken Repressionen gegen Lokalpolitiker ist davon auszugehen, dass weitere Austritte und Parteiwechsel folgen werden. Die AKP selbst wurde bei den letzten Parlamentswahlen und insbesondere bei den Kommunalwahlen abgestraft. Es ist jedoch einfacher, Vertrauen in die anderen Parteien zu untergraben, als Vertrauen in die eigene Partei zurückzugewinnen.
»Die CHP ist nicht die Opposition der Majestäten und wird es auch nicht sein«, verkündete der Vorsitzende Özgür Özel im Zuge der jüngsten Proteste. Inwiefern er dieses Versprechen halten und die CHP weiterhin ihre neue Rolle als aktive und effektive Oppositionspartei ausführen kann, wird die Zukunft der Demokratie in der Türkei entscheidend mitbestimmen.