Die ersten Wahlen in Syrien nach dem Sturz von Baschar Al-Assad sollten einen Neuanfang markieren. Stattdessen fehlt es dem neuen Parlament sowohl an Vielfalt als auch an Opposition. Kann das Land seinen politischen Neustart auf einem so wackligen Fundament aufbauen?
Anfang Oktober haben in Syrien die ersten Wahlen seit dem Sturz des Assad-Regimes stattgefunden. In den Provinzen Suweida, Raqqa und Hassakah, in denen zusammengenommen mehr als ein Drittel der Bevölkerung des Landes lebt, wurden jedoch keine Stimmen abgegeben. Wahllokale und Kandidatenlisten? Fehlanzeige. Repräsentanten aus diesen Regionen sucht man im neuen Parlament dementsprechend vergeblich. Die offizielle Begründung der neuen syrischen Regierung für diese Entscheidung lautet: »Sicherheitsprobleme«. Die Wahrheit? Die Provinzen haben die neue Regierung in Damaskus bis heute nicht anerkannt – und der fehlen die Fähigkeit und der Wille, etwas dagegen zu unternehmen.
In diesem Sinne waren die Wahlen vom 5. Oktober keine Volksabstimmung, sondern ein geschlossenes, hierarchisches Verfahren. Im Juni erließ Interimspräsident Ahmad Al-Scharaa das Präsidialdekret Nr. 66, mit dem er einen Hohen Ausschuss unter der Leitung von Muhammad Taha Al-Ahmad beauftragte, ein »Wählergremien« zu bilden. Das Volk war schlicht und einfach nicht in diesen Prozess involviert. Die Macht des Staates war hingegen allgegenwärtig.
Von den 140 zur Wahl stehenden Mandaten im neuen syrischen Parlament wurden bislang nur 122 besetzt. Die übrigen Sitze, die eigentlich für die drei genannten Provinzen gedacht waren, bleiben bis heute leer. Bis dort endlich Wahlen abgehalten werden können, wird das so bleiben. Die übrigen 70 der insgesamt 210 Sitze im Parlament werden derweil direkt vom Interimspräsidenten bestimmt, was Scharaa einen ungewöhnlich direkten (und massiven) Einfluss auf die Zusammensetzung der Kammer verschafft.
Nicht nur die Repräsentation der Provinzen, sondern auch die der Frauen hat sich im neuen syrischen Parlament zum schlechteren verkehrt: Nur sechs Frauen haben einen Platz errungen – das entspricht gerade einmal 4 Prozent der Sitze. Zwei von ihnen kommen aus Tartus und je eine Abgeordnete aus Aleppo, Homs, Hama und Latakia. Es ist der niedrigste Anteil weiblicher Abgeordneter seit Jahrzehnten.
Im Jahr 2020 lag dieser Anteil am höchsten. Damals hatten 33 Frauen mehr als 13 Prozent der Sitze im Parlament inne. Zu verdanken war das einer gesetzlichen Quote für bestimmte Wahlbezirke. Selbst unter dem Assad-Regime lag der Frauenanteil höher als heute — obwohl das Regime Frauen in der Politik nur als Fassadenutzte und die meisten Kandidatinnen Anhängerinnen der »Nationalen Progressiven Front« und Assads Baath-Koalition waren. Selbst an dieser Schein-Gleichberechtigung fehlt es dem neuen Parlament nun allerdings. Die neue Regierung hat weder auf Quoten noch auf Nominierungen oder andere Mechanismen gesetzt, um ein Geschlechtergleichgewicht herzustellen.
Ingenieure und Ärzte machen jetzt jeweils 17 Prozent der Kammer aus, Ökonomen 10 Prozent und Vertreter religiöser Organisationen 7 Prozent
Das Problem der mangelnden Repräsentation geht jedoch weit über die Themen Geschlecht und Geografie hinaus – sie betrifft auch die soziale Zusammensetzung des Parlaments. In der neu zusammengesetzten Kammer ersetzen Berufseliten die Arbeiter und Landwirte, die jahrzehntelang das Rückgrat des Gremiums gebildet hatten. Ingenieure und Ärzte machen jetzt jeweils 17 Prozent der Kammer aus, Ökonomen 10 Prozent und Vertreter religiöser Organisationen 7 Prozent. Mit dem Versprechen der neuen Regierung, auf den Trümmern des alten Regimes einen zivilen Staat aufzubauen, ist diese Verteilung nicht vereinbar.
Für alle, die die syrische Politik und den Aufstieg von Ahmad Al-Scharaa verfolgt haben, waren die ersten Anzeichen für diesen Trend klar erkennbar – nicht nur in Bezug auf soziale Schichten oder ethnische Gruppen, sondern auch in Bezug auf die politische Landschaft selbst. Vor den Wahlen – und nach der Ankündigung der »Konferenz des Sieges« nach Assads Sturz – erließ der Interimspräsident ein Dekret zur Auflösung aller politischen Parteien in Syrien, einschließlich jener Organisationen, die bereits seit den Anfängen der Syrischen Republik existierten: die panarabische und sozialistische Baath-Partei, die Arabische Sozialistische Union und weitere linke und nationalistische Parteien. Diese Entscheidung, die ohne öffentliche Konsultation oder Verweis auf die Verfassung getroffen wurde, zerstörte auf einen Schlag die politische Infrastruktur Syriens und lähmte gesellschaftliche Organisationen, die einst als Brücken zwischen den Bürgern und dem Staat dienten.
Gleichzeitig wurde eine Vielzahl an Kandidaten von den Wahlen ausgeschlossen, teils mit komplett undurchsichtigen Begründungen oder gar ohne Gründe anzugeben. Eine Liste der Kandidaten, die zur Wahl zugelassen oder abgelehnt wurden, existiert bis heute nicht. Klar ist nur: Wer nach 2011 für ein Amt kandidiert hat (auch Gegner des Assad-Regimes), Militärangehörige, hochrangige Staatsbeamte, »Anhänger des ehemaligen Regimes« und »Befürworter des Separatismus« konnten bei den Wahlen nicht für ein politisches Amt kandidieren.
Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist ein homogenes Parlament, das ideologisch mit der Übergangsregierung auf einer Linie liegt – ein Gremium, das keine kritischen Fragen stellt, sondern lediglich die Entscheidungen einer Exekutive durchwinkt, der es an echter Legitimität fehlt. Den wichtigsten Teilen der syrischen Gesellschaft – Kurden, Drusen, Alawiten, Christen und Sunniten verschiedener Glaubensrichtungen – wurde das Recht verwehrt, ihre eigenen Vertreter zu wählen. Stattdessen werden ihnen jetzt Personalentscheidungen vorgelegt, denen die Regierung eine repräsentative Bedeutung beimisst. In den Gemeinschaften selbst spielen viele der vermeintlichen neuen Repräsentanten aber kaum eine Rolle.
Dafür muss zunächst Dekret Nr. 66 aufgehoben werden. Im nächsten Schritt braucht es dann Wahlen unter neutraler internationaler Aufsicht
Die Lösung für diese lange Liste an Problemen liegt nicht in der Ernennung von Loyalisten aus bestimmten Gesellschaftsgruppen. Sie liegt vielmehr darin, diesen Gruppen klare politische Rechte zu gewähren: das Recht, lokal gewählte Gremien zu bilden, das Recht, sich ohne Schikanen zur Wahl stellen zu können, und das Recht, an der Ausarbeitung von Gesetzen mitzuwirken, die ihre Identität und ihre Rechte betreffen. Ohne diese Garantien spielt das Parlament nur eine symbolische Rolle — und die Demokratie bleibt eine Illusion.
Sofern die Übergangsregierung ihren Kurs nicht ändert, wird Syriens politisches und soziales Gefüge so fragil und schwach bleiben, wie es seit über zwei Jahrzehnten ist. Obwohl der Bertelsmann Transformation Index (BTI) für Syrien zuletzt die größte Verbesserung im Bereich »politische Transformation« unter allen 137 untersuchten Ländern registriert hat, bleiben die meisten Fortschritte oberflächlich. Es überrascht kaum, dass Indikatoren wie »politisches Lernen«, »Versöhnung« und »Konsens über Ziele« seit Jahren stagnieren. Das Syrien nach Assad leidet unter der Reproduktion alter Machtstrukturen. Solange institutionelle Leerstellen weiter mit Strukturen aufgefüllt werden, denen es an echter Legitimität mangelt, wird sich daran nichts ändern.
Anstatt alte Politik mit neuer Rhetorik zu schmücken, muss Ahmad Al-Scharaa öffentlich anerkennen, dass Syrien ein multikommunaler Staat ist – und diese Anerkennung in Verfassungsrechte übersetzen. Jede Gemeinschaft in Syrien braucht eine wirksame – und nicht nur eine symbolische – politische Vertretung. Zu diesem Zweck müssen die 70 vom Präsidenten kontrollierten Sitze nicht nur dazu genutzt werden, das Geschlechterverhältnis im Parlament zu verbessern, sondern auch dazu, das soziale Gleichgewicht des Landes wiederherzustellen. Dafür muss zunächst Dekret Nr. 66 aufgehoben werden. Im nächsten Schritt braucht es dann Wahlen unter neutraler internationaler Aufsicht, damit jeder Syrer und jede Syrerin – egal ob in Damaskus, Qamischli, Suweida oder Idlib – seine politischen Vertreterinnen und Vertreter wählen kann.
Ohne diese konkreten Schritte wird das erste Parlament nach Assad ein leeres Versprechen bleiben — und das Land leidet weiter: unter Wahlen ohne Rechte, unter einem Parlament ohne Legitimität und unter Transformation ohne Demokratie.
Wessam Al-Jurdi ist freiberuflicher Journalist mit Sitz in Damaskus.




