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Gen Z in Marokko

Marokko macht den Anfang

Feature
von Lara Farag
Gen Z in Marokko

Von Nepal bis nach Peru: Die »Gen Z«-Protestwellen gewinnen weltweit an Zulauf – auch in Marokko. Warum sie dennoch an Schwung verloren hat, teils in Gewalt ausartete und der Jugend einen Weg zu mehr Teilhabe eröffnet hat.

In der Nacht zum 1. Oktober erschießen Polizisten den 22 Jahre alten Studenten Abdessamad Oubella in der Stadt Lqliaa, in der Nähe von Agadir. Insgesamt fallen drei Menschen den Schüssen zum Opfer. »Wir wollen keine Weltmeisterschaft, sondern Gesundheit!«, lautet einer der Slogans der Protestbewegung, die seitdem durch quer durch das Land schwappt. Marokko erlebt in diesem Herbst die größte Demonstrationswelle seit den vom Arabischen Frühling inspirierten Februarprotesten von 2011. In Reaktion auf die Proteste hatte König Muhammad VI. damals eine Reihe von Verfassungsreformen eingeleitet, die unter anderem die Machtfülle des Monarchen reduzierte.

 

Doch die Septemberproteste in diesem Jahr unterscheiden sich von früheren Demonstrationswellen: Landesspezifische Missstände stehen zwar im Vordergrund, aber die Bewegung zeichnet sich vor allem durch eines aus: Sie ist Teil eines länder- und Kontinente übergreifenden Phänomens, das in diesem Jahr unter anderem den Sturz der Regierung in Nepal erreichte – nicht zuletzt dank der effizienten Organisations- und generationsspezifischen Kommunikationsformen. In Marokko hat sich die Protestbewegung nach der Telefonvorwahl des Landes »Gen Z 212« genannt. Die jungen Menschen organisieren sich hauptsächlich über soziale Medien, vor allem über den die Plattform Discord, die bislang vor allem als Gruppenchat für Gamer bekannt war.

 

Die ersten Proteste dieser Art brachen am 27. und 28. September 2025 in Rabat, Casablanca und Marrakesch aus. Als Auslöser gilt ein Vorfall im Hassan-II.-Krankenhaus in Agadir Mitte September: Acht schwangere Frauen starben in innerhalb von zehn Tagen während der Entbindung – die meisten während einer Kaiserschnittoperation. Tatsächlich stand das Krankenhaus bereits seit geraumer Zeit wegen chronischem Personalmangel, unzureichenden hygienischen Bedingungen sowie schlechter Infrastruktur in der Kritik. »Der Tod der schwangeren Frauen in Agadir hat das Fass zum Überlaufen gebracht«, bestätigt auch die Politikwissenschaftlerin Sarah Zaaimi, die sich für den US-Thinktank Atlantic Council ausführlich mit den »Gen Z«-Protesten in Nordafrika beschäftigt.

 

Die marokkanische Gesellschaft ist im Hinblick auf die bevorstehende Fußball-WM gespalten

 

Die offensichtlichen Missstände vor allem im ländlichen Raum sind immer wieder Gegenstand wütender Protesten und Aufmärsche. »Demonstrationen sind in Marokko keine Seltenheit, sie gehören vielmehr zur Norm«, erklärt Sarah Zaaimi und führt die Demonstrationen gegen den Genozid in Gaza und die Proteste der Rif-Kabylen 2016 und 2017 als Beispiele an. Vor allem in jenen Gebieten, die das verheerende Erdbeben im September 2023 traf, hatten gingen die Menschen immer wieder aufgrund der ausbleibenden Entschädigungszahlungen durch die Regierung auf die Straße.

 

Dennoch erreicht die diesjährige Protestwelle erstmal seit 2011 wieder ein derartiges Ausmaß. Besonders brisant ist auch der explizite Bezug zum Volkssport Nummer eins: Marokko ist Ko-Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft 2030, bereits in wenigen Wochen richtet das Königreich den Afrika-Cup aus. Für die Großveranstaltungen investierte die marokkanische Regierung in den Ausbau des Moulay-Abdallah-Stadiums in der Hauptstadt Rabat, welches am 11. September offiziell eröffnet wurde sowie die Renovierung des Ibn-Battuta-Stadiums in Tanger. Im Bau befindet sich zudem das Hassan-II-Stadium in Benslimane, östlich von Casablanca, das 2028 fertiggestellt werden und als größtes Stadion der Welt 115.000 Zuschauern Platz bieten soll.

 

Die marokkanische Gesellschaft ist im Hinblick auf die bevorstehende Fußball-WM gespalten: Sie schwankt zwischen Stolz und Vorfreude einerseits und wachsender Kritik an den sozialen und wirtschaftlichen Missständen andererseits, die vor allem die ländlichen Regionen prägen. »Die junge marokkanische Generation fühlt sich zunehmend entfremdet«, erklärt Sarah Zaaimi. Viele hätten das Gefühl, dass die hohen Kosten für Großprojekte eher Investoren und Touristen denn der eigenen Bevölkerung zugutekommen. Die unzureichende und teilweise ganz ausbleibende Kommunikation der Regierung bestärkt diese Wahrnehmung. Stattdessen spüren die Demonstranten die Antwort des Staates auf den Straßen: Immer wieder zerren Beamte junge Leute in einen der aufgereihten Einsatzwägen. Die Sicherheitskräfte gingen in den vergangenen Wochen teils mit äußerster Härte und Brutalität vor und unterschieden dabei kaum zwischen friedlichen Demonstranten und Unruhestiftern. Zugleich verschwimmen auch unter den Jugendlichen die Grenzen zwischen Angriffen auf vermeintliche Symbole der Geldverschwendung und Vandalismus.

 

Zaaimi sieht hier einen der Gründe für die Gewaltausbrüche auf diesen Demonstrationen – ein Phänomen, das in Marokko nicht selten ist und sich bereits im Lexikon des Darija-Dialekts etabliert hat: Der Begriff Hargaoui bezeichnet eine gewaltbereite und »unzivilisierte« Person, wird im Kontext der Gen-Z-Proteste jedoch insbesondere für Randalierer gebraucht. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich bereits im April dieses Jahres: Jugendliche beschädigten Anlagen des neu eröffneten Muhammad-V.-Stadions in Casablanca, darunter Sitze und Toiletten. Die Aufnahmen verbreiteten sich schnell über die Sozialen Medien. Zaaimi sieht deutliche Zeichen dafür, dass die Jugend sich nicht in die von der Regierung initiierten Bauprojekte miteinbezogen fühlt – und sich diese Wut nun nicht nur verbal Bahn bricht.

 

Vor allem in ländlichen Gebieten sowie am Stadtrand von Agadir, Sale, Inezgane und Oujda geriet die Lage außer Kontrolle

 

Den landesspezifischen und globalen Ungleichheiten ist sich die junge Generation zunehmend bewusst: So erreichte die Arbeitslosenquote im ersten Quartal 2024 einen Rekordwert von 13,7 Prozent. Was die marokkanische Gen-Z auszeichnet, ist ihre Vernetzung über soziale Medien, der Zugang zu vielfältigen Informationsquellen und ein Gespür für globale Trends. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie der Genozid in Gaza haben bei ihnen ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein sowie ein starkes Gerechtigkeitsempfinden geweckt.

 

Ihren Unmut äußern sie online, unter anderem auch über Memes und andere kulturelle Referenzen, etwa die japanische Anime-Serie »One Piece«, die das Aufbegehren gegen das politische Establishment thematisiert. Versuche oppositioneller oder islamistischer Gruppierungen, auf den Protestzug mitaufzuspringen, schlugen fehl. So profitierte weder die frühere Regierungspartei PJD (»Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung«) von Ex-Premier Abdelillah Benkirane, noch die offiziell verbotene, aber tolerierte Bewegung »Al Adl wal Ihsane« (zu Deutsch: »Gerechtigkeit und Wohltätigkeit«) vom Unmut auf den Straßen.

 

Zu Beginn erfuhr die Protestbewegung noch Solidarität und Zuspruch, artete jedoch schnell in Gewalt und Vandalismus aus – von brennenden Autos bis hin zu Plünderungen von Geschäften. Viele Unterstützer distanzierten sich daraufhin, darunter auch Vertreter der Amazigh. In einer offiziellen Stellungnahme Mitte Oktober verkündeten die beteiligten Amazigh-Gruppen ihren Rückzug und betonten, dass grundlegende politische Veränderungen nicht durch Chaos und Gewalt herbeigeführt werden könnten. Vor allem in ländlichen Gebieten sowie am Stadtrand von Agadir, Sale, Inezgane und Oujda geriet die Lage außer Kontrolle – ein entscheidender Wendepunkt für die junge Protestbewegung.

 

Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass die Proteste der Gen Z in Marokko trotz der effizienten Vernetzung und geteilter kultureller Codes dennoch weder eine homogene, noch eine zentral geführte Bewegung ist. In diesem Kontext erlebte der Begriff Zlayji, eine Wortschöpfung aus den in Marokko bekannten farbigen Keramiken eine Renaissance. Der Neologismus entstand inmitten der Rivalität mit dem Nachbarn Algerien und bezeichnet konkret über übertriebene nationalistische Haltung. Die äußert sich darin, Marokko auf internationaler Bühne zu profilieren und kulturelle Eigenheiten – darunter den Kaftan, Couscous oder Zellij - ausschließlich für sich zu beanspruchen, und so tatsächliche gesellschaftliche und sozioökonomische Missstände im Land zu übertünchen.

 

Unter anderem haben auch die offiziellen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestags des »Grünen Marsch« die Proteste überschattet

 

Obwohl König Muhammad VI. das Staatsoberhaupt ist, richteten sich die Proteste weder konkret gegen ihn als Teil der Exekutive, noch gegen die Monarchie selbst, sondern vor allem gegen die politische Elite des Landes, die seit 2021 um Premierminister Aziz Akhannouch zentriert ist. Der Politiker und Unternehmer gilt als der reichste Mann Marokkos. Zudem leitet er das Konglomerat »Akwa Group S.A.«, ein Mischkonzern im Bereich Öl und Gas mit einem geschätzten Jahresumsatz von rund 2,7 Milliarden Euro. Im Zuge der Regierungsbildung im Oktober 2024 berief Akhannouch enge Vertraute wie Mohamed Saad Berrada und Amine Taraoui an die Spitze des Gesundheits- beziehungsweise Bildungsministeriums.

 

Dagegen macht sich die soziale Kluft zwischen Arm und Reich zunehmend bemerkbar. Weite Teile der Bevölkerung leiden unter den Folgen struktureller Misswirtschaft und gloabler Krisen, wie des Klimawandels. Auch aus diesem Grund ließ die Regierung etwa in diesem Jahr das Lammschlachten zum islamischen Opferfest wegen der exorbitanten Preissteigerungen und dem Rückgang der Viehbestände verbieten. Als Reaktion auf steigende Gas- und Lebensmittelpreise hatte sich bereits 2022 eine Online-Protestbewegung gegen Premier Akhannouch unter dem Hashtag #Dégage_Akhannouch (zu Deutsch: »Verschwinde Akhnnoush«) formiert.

 

Der König selbst tritt zwar weiterhin öffentlich auf, ist jedoch seit Jahren gesundheitlich angeschlagen – dass sein Sohn Moulay Hassan eher früher als später seine Nachfolge antritt, erscheint daher nicht mehr unrealistisch. Viele junge Marokkaner setzen ihre Hoffnungen auf den 22- jährigen Kronprinzen, der selbst der Gen Z angehört und eine zunehmend wichtige Rolle in der politischen Sphäre spielt.

 

Inzwischen hat die Protestbewegung der Gen Z in Marokko den Elan der Anfangswochen im Oktober verloren. Unter anderem haben auch die offiziellen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestags des »Grünen Marsch«, der die Annexion sowie den Anspruch auf die Westsahara markiert, die Proteste überschattet. Trotz der ausbleibenden Zugeständnisse blickt Sarah Zaaimi optimistisch auf die Zukunft: Die Gen Z habe viele Marokkaner, insbesondere die politische Elite, überrascht: So stand die Jugend im Ruf, politisch desinteressiert zu sein. »Viele junge Marokkaner denken nun darüber nach, eigene politische Parteien zu gründen oder sich als Kandidaten für die Wahlen 2026 aufstellen zu lassen«, sagt Zaaimi. Ein wesentliches Ergebnis der Proteste sei vor allem der Reifeprozess innerhalb nur weniger Wochen gewesen: So hätten viele der Organisatoren verstanden, dass ein realistischer politischer Wandel nur innerhalb des Systems möglich sei.

Von: 
Lara Farag

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