Algerien und Frankreich belegen sich gegenseitig mit Reisebeschränkungen. Die jüngste Eskalation zwischen Paris und Algier hat nur auf den ersten Blick mit der Westsahara und Marokko zu tun. Warum Algerien in der diplomatischen Krise eine längst überfällige Gelegenheit sieht.
»Lange haben wir Vorsicht walten lassen, aber inzwischen glauben wir Algerier, wir können Frankreich aus unserem Leben streichen.« So kommentierte der algerische Journalist Akram Belkaïd gegenüber Radio France die Staatskrise, die sich zwischen Algerien und Frankreich zunehmend verschärft. Belkaïd reagierte auf die Äußerungen von Emmanuel Macron, der seinen Premierminister François Bayrou in einem Schreiben aufgefordert hatte, eine härtere Gangart gegenüber Algier an den Tag zu legen. In dem Schreiben des Präsidenten vom 6. August heißt es, man müsse von Algerien wieder »mehr Respekt einverlangen.« Belkaïd bescheinigt dem Gebaren der Franzosen denn auch »irrationale Züge«.
Bereits im Februar hatte der französische Außenminister Jean-Noël Barrot geäußert, dass Frankreich die Visavergabe für bestimmte algerische Staatsangehörige einschränken möchte. Mitte August kündigte Paris an, das algerisch-französische Visa-Abkommen von 2013 aufzukündigen, das algerischen Offiziellen und Diplomaten die visafreie Einreise nach Frankreich von bis zu 90 Tagen ermöglicht hatte. Eine rechtzeitige Benachrichtigung, wie sie im Falle eines einseitigen Ausstiegs aus solchen Vereinbarungen eigentlich vorgeschrieben ist, verschickten die französischen Behörden nicht.
Im April hatten französische Strafverfolgungsbehörden einen algerischen Konsulatsmitarbeiter verhaften lassen. Ihm wurde vorgeworfen, die Entführung des algerischen Investigativjournalisten Amir Boukhors ein Jahr zuvor veranlasst zu haben. Für Algier ein unzumutbarer Eingriff – zwölf französische Diplomaten und Botschaftsmitarbeiter wollte man als Reaktion des Landes verweisen. Auch Frankreich kündigte ähnliche Maßnahmen an.
Der Fall Boualem Sansal belastet die bilateralen Beziehungen ebenfalls. Im November 2024 war der französisch-algerische Schriftsteller in Algerien festgenommen worden. Bei der Einreise am Flughafen Algier hatten ihn die algerischen Behörden in Gewahrsam genommen. Am 27. März 2025 verurteilte ein algerisches Gericht den 75-Jährigen zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung wegen »Untergrabung der nationalen Einheit«.
Hintergrund der Verhaftung des Schriftstellers soll ein Interview mit dem Magazin Frontières sein, in welchem er über die algerisch-marokkanische Grenze spricht, und behauptet, Algerien habe von der Kolonialmacht Frankreich Territorien zugesprochen bekommen, die eigentlich zu Marokko gehörten. Der französische Präsident Macron forderte nach Verhaftung und Urteilsspruch die Freilassung des Schriftstellers. Ein algerisches Berufungsgericht bestätigte hingegen am 1. Juli Urteil und Strafmaß.
Die von Algerien unterstützte Polisario lehnt Rabats Autonomieplan ebenso wie Algier ab und fordert die vollständige Unabhängigkeit der Westsahara
Der Fall verdeutlicht, wie sehr die Frage legitimer Grenzen das politische Handeln im Maghreb weiterhin bestimmen – allen voran in Bezug auf die Westsahara. Obwohl der Konflikt auf militärischer Ebene nahezu zum Erliegen gekommen ist, hat er auf diplomatischer Ebene in den vergangenen Jahren wieder deutlich an Relevanz und Brisanz gewonnen – nicht zuletzt seitdem die USA im Gegenzug für Marokkos Beitritt zu den Abraham-Abkommen die Souveränität des Königreichs über die ehemalige spanische Kolonie anerkannten und sich hinter den marokkanischen Autonomieplan von 2007 stellten. Eben dieser Position schloss sich Frankeich im vergangenen Sommer an – der Ausgangspunkt für die bis heute andauernde Eskalationsspirale.
In einem Schreiben an den marokkanischen König Muhammad VI. bezeichnete Macron Rabats Autonomieplan als »die einzige Grundlage für eine gerechte, dauerhafte und ausgehandelte politische Lösung im Einklang mit den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats«. Er sieht vor, dass die Westsahara unter marokkanischer Souveränität verbleibt, aber eine weitgehende Selbstverwaltung mit eigenem Parlament, Regierung und Justiz erhält. Die von Algerien unterstützte Polisario lehnt den Plan ebenso wie Algier ab und fordert die vollständige Unabhängigkeit der Westsahara.
Fraglich bleibt in jedem Fall, in welchem Maße die sahraouische Bevölkerung von ihrem Selbstbestimmungsrecht unter marokkanischer Herrschaft Gebrauch machen kann. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International berichten, dass systematische Einschränkungen bezüglich Meinungsäußerung und Versammlungsrecht auch in den vergangenen Jahren weiter bestehen. Dennoch lässt sich der Autonomieplan durchaus als gangbarer Ausweg aus dem verfahrenen Konflikt bewerten. Die Glaubwürdigkeit des marokkanischen Vorhabens hängt allerdings stark von dessen Umsetzung ab.
Dieser Position hat sich im Juni auch das Vereinigte Königreich angeschlossen. Auch Spanien hat in der Westsahara-Frage seine Position geändert. Damit ist klar: Algerien steht mit seiner Haltung zunehmend auf verlorenem Posten. Die politische Führung ist sich allerdings bewusst, dass mehr als die politische Zukunft der Westsahara auf dem Spiel steht. Aus Sicht von Algier hat sich Frankreich auf die Seite des Rivalen Marokko geschlagen. Bestätigt sieht man sich etwa auch angesichts der intensivierten militärischen Kooperation zwischen Rabat und Paris.
Es geht kaum darum, sämtliche Länder abzustrafen, die nicht die algerische Position im Westsahara-Konflikt teilen
Angesichts der diplomatischen Rückendeckung, die Marokkos Diplomatie in den vergangenen Jahren hinter sich versammeln konnte, erscheint Belkaïds Beschreibung eher als Spiegelbild der algerischen Stimmungslage denn als korrekte Einschätzung des Handlungsspielraums in der Westsahara-Frage, aber auch allgemein im Verhältnis mit Europa, insbesondere Frankreich.
Dennoch sieht man in Algier die Krise auch als Chance, die auswärtigen Beziehungen zu diversifizieren. So importierte das Land im Jahr 2025 zum ersten Mal keinen französischen Weizen mehr. Zwar wurde Frankreich als wichtigster Handelspartner Algeriens schon 2013 von China überholt. Sollte der Trend jedoch anhalten, droht Paris auch gegenüber anderen europäischen Staaten ins Hintertreffen zu geraten. Während der Handel mit Frankreich im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen ist, hat Algerien die wirtschaftlichen Beziehungen etwa zu Italien und der Türkei ausgebaut. Zudem haben Deutschland, Italien, Tunesien und Österreich sich als Partner für das Projekt eines Wasserstoff-Korridor zwischen Nordafrika und Europa angeboten.
Im Januar 2025 wiederum unterzeichneten Algerien und die USA eine Absichtserklärung zur Militärkooperation. Gerade diese Übereinkunft zeigt: Es geht kaum darum, sämtliche Länder abzustrafen, die nicht die algerische Position im Westsahara-Konflikt teilen. Vielmehr will sich Algerien mehr Handlungsspielraum verschaffen – politisch wie wirtschaftlich. Die jahrzehntelange privilegierte Partnerschaft mit Frankreich erscheint da nicht nur als Hindernis, sondern als Ursache für die strategische Schwäche, die Algier überwinden möchte.
Hinzukommt, dass Frankreich in der öffentlichen Kommunikation Stärke demonstrieren will und dabei aus Sicht der Algerier immer wieder den Ton des alten Kolonialherren anschlägt. Für Algerien kommen oft überheblich anmutenden Statements wie zuletzt jenes von Emmanuel Macron wie gerufen. Denn so liefert Paris dem autokratisch regierenden algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune Munition, um das antikoloniale Narrativ weiter zu bedienen.