Die – wenn auch bedingte – Annahme des 20-Punkte-Plans schafft eine neue Dynamik, die ein Ende von Krieg, Vernichtung und Vertreibung in Gaza näher rücken lässt. Eine entscheidende Rolle fällt nun Israels Innenpolitik zu.
Die Hamas stand vor einem strategischen Dilemma: Sie wusste, dass Benyamin Netanjahu, Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir – mithin eigentlich die gesamte israelische Regierung – darauf setzten, dass man den 20-Punkte-Plan ablehnen würde. Daher war die Annahme, wenn auch nur unter Vorbehalt, eine rationale Entscheidung.
Donald Trumps 20-Punkte-Plan bleibt bewusst vage gehalten – es handelt sich bei dem Dokument eher um eine Reihe von Leitlinien als eine detaillierte Vereinbarung. Dennoch stellt er im Vergleich zur Situation vor seiner Präsentation eine bedeutende Wende und einen möglichen Durchbruch dar.
Noch vor der Präsentation des Plans erklärten die Vereinigten Staaten unmissverständlich, dass es keine israelische Annexion des Westjordanlands geben werde, nicht einmal eine teilweise. Der Rückzug aus Gaza soll schrittweise erfolgen, was viele praktische Herausforderungen mit sich bringt. Aber es bedeutet, dass Israel sich zurückziehen wird. Nicht weniger wichtig ist, dass Trump sich vom sogenannten freiwilligen Migrationsplan distanziert hat. Die Bewohner Gazas bleiben im Gazastreifen.
Netanyahu hatte diesen Vertreibungsplan zuvor begrüßt und ihn zu einem zentralen Ziel seiner Regierung gemacht. Das ist nun vom Tisch. Bereits vor der Veröffentlichung des Trump-Plans standen einige entscheidende politische Fakten fest. Dennoch lässt das Dokument noch viele Fragen offen, insbesondere hinsichtlich seiner Umsetzung, doch seine Richtung ist klar: Deeskalation und ein Ende der direkten israelischen Besetzung des Gazastreifens.
Der Wendepunkt kam nach Israels gescheitertem Angriff in Doha, der politische Schockwellen in der gesamten Region auslöste. Kurz darauf alarmierten Netanyahus Äußerungen über ein Groß-Israel die arabischen Führer und beschleunigten die diplomatischen Aktivitäten. Innerhalb weniger Tage fand in Katar ein arabisch-islamischer Krisengipfel statt, bei dem der ägyptische Präsident Abdul-Fattah Al-Sisi eine Rede hielt, die den regionalen Kontext grundlegend veränderte.
Die Hamas kann keine weitere Verwüstung oder politische Marginalisierung ertragen, muss aber gleichzeitig zeigen, dass sie nicht bedingungslos kapituliert hat
Sisi warnte, dass die fortgesetzte Besetzung des Gazastreifens oder eine Massenflucht von Palästinensern nach Ägypten die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien zunichte machen und die Abraham-Abkommen platzen lassen würde. Die Botschaft an Washington war klar: Israels derzeitiger Kurs droht, den gesamten Nahen Osten zu destabilisieren. Diese Reaktion brachte Trumps Berater vermutlich zu dem Schluss, dass ein neuer Ansatz unabdingbar sei. Diese Einschätzung erhöhte dann unmittelbar den Druck auf Netanyahu, den 20-Punkte-Plan zu akzeptieren.
Aus Sicht der Hamas bestand ein zentrales Hindernis darin, vor dem vollständigen Abzug der israelischen Streitkräfte alle Geiseln freilassen zu müssen. Diese Bedingung löste tiefes Zögern und interne Debatten aus. Dennoch stand die Hamas unter enormem Druck – seitens der Bevölkerung des Gazastreifens, aus Katar und der Türkei sowie aus der gesamten arabischen und islamischen Welt –, ein Ende des Krieges zu akzeptieren und mit den Wiederaufbau beginnen zu lassen.
Wie erwartet, reagierte die Hamas letztlich mit einem »Ja, aber…« – einer grundsätzlichen Zustimmung, begleitet von Forderungen nach Klarstellungen und Änderungen. Die Reaktion stimmte mit früheren Einschätzungen überein, wonach die Hamas versuchen würde, eine Balance zwischen der Vermeidung völliger Isolation und der Wahrung ihrer internen Legitimität zu finden. Die Entscheidung spiegelt ein pragmatisches Kalkül wider: Die Hamas kann keine weitere Verwüstung oder politische Marginalisierung ertragen, muss aber gleichzeitig zeigen, dass sie nicht bedingungslos kapituliert hat.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Hamas-Erklärung veröffentlichte US-Präsident Trump den Wortlaut des Textes wörtlich und rief Israel anschließend öffentlich auf, den Waffenstillstand umzusetzen. Diese Abfolge war kein Zufall. Sie machte deutlich, dass Trump nun den Lauf der Dinge diktiert. Die israelische Regierung und Netanyahu persönlich blieb nichts anderes übrig als zu reagieren, statt selbst die Ereignisse zu bestimmen.
Für Netanyahu bedeutet das sowohl eine diplomatische Demütigung als auch eine politische Warnung: Sein Einfluss im In- und Ausland hat stark abgenommen
Diese Entwicklung markiert einen tiefgreifenden Wandel: von amerikanisch-israelischer Koordination hin zu einer klaren Hierarchie, in der Washington das Kommando hat. Für Netanyahu bedeutet das sowohl eine diplomatische Demütigung als auch eine politische Warnung: Sein Einfluss im In- und Ausland hat stark abgenommen.
Wenn die derzeitige Dynamik anhält, tritt der Krieg faktisch in seine letzte Phase ein. In diesem Fall wird der nächste und folgenreichste Schauplatz nicht mehr Gaza sein, sondern Israels Innenpolitik. Netanyahus Koalition steht auf wackeligen Beinen. Sollten Smotrich und Ben-Gvir die Regierung verlassen, könnte die Koalition zerbrechen und Neuwahlen folgen. Netanyahu wird dann versuchen, sich als einziger stabiler Führer zu präsentieren, Stimmen seiner rechtsextremen Partner zu absorbieren, gleichzeitig die Mitte umwerben und sich auf ultraorthodoxe Verbündete verlassen, um abermals eine knappe Mehrheit zu schmieden.
Gleichzeitig wird erwartet, dass er sich für Änderungen zur Senkung der 3,5-Prozent-Hürde einsetzen wird, um kleineren rechten Fraktionen den Wiedereinzug in die Knesset zu ermöglichen und die Opposition zu spalten. Netanyahu könnte auch versuchen, die Legitimität von Wahlen zu untergraben, die Beteiligung arabischer Wähler zu erschweren oder sogar erneute militärische Spannungen zu provozieren, um mit Notstandsmaßnahmen weiter durchzuregieren.
Die israelische Opposition hingegen bleibt zersplittert. Viele ihrer Führer vertreten in zentralen politischen Fragen – dem Siedlungsausbau, den Beziehungen zu arabischen Bürgern und ultraorthodoxen Juden – ähnliche Positionen wie Netanyahu. Wenn sich die Opposition nicht auf eine gemeinsame demokratische und bürgerliche Vision einigen kann, könnten Netanyahus politische Überlebensinstinkte erneut obsiegen. Ob dieser Übergang eine Chance zur Deeskalation bietet oder ein erneutes Abgleiten ins Chaos droht, wird in erster Linie von Israels internen Entscheidungen in den kommenden Monaten abhängen.
Der stetige Druck und die Beharrlichkeit der arabischen Welt sowie das nachhaltige Engagement der USA sind die einzigen Faktoren, die diesen fragilen Rahmen des 20-Punkte-Plans in eine dauerhafte politische Realität verwandeln können
Die regionale Landschaft hat sich dramatisch verändert. Trumps Plan, obwohl er so fehlerhaft und mehrdeutig ist, hat neue strategische Realitäten geschaffen: Israel hat sich schriftlich zum Rückzug und zur Anerkennung der palästinensischen Selbstbestimmung verpflichtet. Arabische und islamische Staaten, angeführt von Saudi-Arabien und Ägypten, haben den Wiederaufbauprozess im Gazastreifen übernommen. Und die bedingte Zustimmung der Hamas verhindert ihre völlige Isolation, stellt aber sicher, dass die Palästinensische Autonomiebehörde und die arabischen Staaten den »Tag danach« gestalten werden.
Der 20-Punkte-Plan beendet weder den Konflikt, noch löst er die tiefergehenden Fragen von Besatzung, Legitimität oder Rechenschaftspflicht. Aber er hat das Potenzial, ein destruktives Kapitel zu schließen und eine neue, unsichere politische Phase einzuleiten – eine, die weniger von militärischer Konfrontation als vielmehr von innenpolitischen und regionalen Verhandlungen geprägt ist.
Gleichzeitig bleibt die Umsetzung höchst ungewiss. Sie hängt von einem unberechenbaren und oft offen demokratiefeindlichen US-Präsidenten sowie von zwei Akteuren vor Ort – Netanyahu und der Hamas – ab, die beide nur ein begrenztes reales Interesse an einem umfassenden Abkommen haben. Entscheidend ist daher die Richtung: Der stetige Druck und die Beharrlichkeit der arabischen Welt sowie das nachhaltige Engagement der USA sind die einzigen Faktoren, die diesen fragilen Rahmen des 20-Punkte-Plans in eine dauerhafte politische Realität verwandeln können.
Zwei Jahre nach dem 7. Oktober, nach unvorstellbaren Verlusten und Verwüstungen, kann die bedingte Annahme des 20-Punkte-Plans durch die Hamas den Krieg beenden. Vieles von dem, was folgt, wird von Israels politischer Neuausrichtung, dem effektiven Einfluss der arabischen und muslimischen Welt auf Trump und dem konsequenten Engagement der USA abhängen. Zusammengenommen können diese Faktoren die Israelis, aber auch die Palästinenser, dazu bringen, Absichtserklärungen auch endlich Taten folgen zu lassen. Zum ersten Mal seit Jahren besteht die Aussicht auf Wandel – so unvollkommen und fragil er auch sein mag.
Dr. Eran Tzidkiyahu ist französisch-israelischer Politikwissenschaftler. Er lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem und ist Mitglied des Sekretariats der Bewegung »One Land for All«.