Donald Trumps öffentliche Forderung nach Begnadigung von Benyamin Netanyahu in mehreren Prozessen kommt dem bedrängten Regierungschef gerade recht. Wie es Israels Premier über Jahre gelang, Krieg und Krisen zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen – und warum seine Regierung nun wieder die Justizreform in den Blick nimmt.
Donald Trump fragte Israels Präsident Isaak Herzog in einem offenen Brief am 11. November: »Warum begnadigen Sie ihn nicht?« Gemeint war Benjamin Netanyahu, der in mehreren Fällen angeklagt ist. »Zigarren und Champagner, wen zur Hölle kümmert das?«, argumentiert Trump, der aus seiner Geringschätzung für eine ihm nicht loyale Justiz keinen Hehl macht.
Netanyahus Vorgänger Ehud Olmert wurde 2016 als erster ehemaliger Regierungschef des Landes rechtskräftig verurteilt und saß über ein Jahr in der Haftanstalt Maasyahu ein. Der Fall »Talansky«, der als Prüfstein für den Rechtsstaat in Israel galt, zog sich vom Beginn der Ermittlungen 2009 bis zum erstinstanzlichen Urteil fünf Jahre hin. Im Fall Netanyahu dauert das Verfahren inzwischen länger. Seit Frühjahr 2016 laufen Untersuchungen, die sein politisches Umfeld zunehmend erschütterten. Trotz eines holprigen Starts in seine zweite Amtszeit 2009 gelang es Netanyahu, sich als wirtschaftsliberaler Modernisierer und sicherheitspolitische Konstante zu positionieren. Israels hohe Wachstumsraten, der Aufstieg zur »Start-up-Nation« und eine niedrige Arbeitslosenquote stützten dieses Bild.
Zudem prägte Netanyahu seit Jahrzehnten das Selbstverständnis Israels als Staat im permanenten Ausnahmezustand. Der Tod seines landesweiten bekannten Bruders Jonathan 1976, der beim Entebbe-Einsatz ums Leben kam, wurde zu einem wiederkehrenden Bezugspunkt seiner politischen Karriere. Als Premier gab er sich als Garant gegen Iran, Hamas und Hizbullah. Außenpolitisch öffnete Netanyahu Israel breiter in verschiedene Richtungen. Die Beziehungen zu den Golfstaaten, zu Russland und zu Staaten in Asien und Afrika wurden intensiviert. Sein diplomatisches Netzwerk, das er schon als UN-Botschafter in New York aufgebaut hatte – darunter die Verbindungen zum Unternehmer, Filmproduzenten und früherem Geheimdienstler Arnon Milchan – begleitete ihn auch in spätere politische Konfliktfelder.
Nach israelischem Recht muss ein Premier erst bei rechtskräftiger Verurteilung zurücktreten. Minister hingegen bereits im Falle einer Anklage
Bis Mitte der 2010er-Jahre galt Netanyahu in vielen Augen als charismatischer und strategisch überragender Politiker. Die Wahlerfolge 2013 und 2015 bestätigten dieses Image. Doch ab 2016 begann es zu bröckeln. Die Ermittlungen in mehreren Korruptionskomplexen bezeichnete er als »Hexenjagd«, »linke Verschwörung« und »Putschversuch der Eliten«. Inhaltlich ähneln die Vorwürfe denen, die sich auch gegen Ehud Olmert richteten: Bestechung, Betrug und Untreue. Politisch war die Lage jedoch grundverschieden.
Wegen der Ermittlungen und auf Drängen seiner Koalition trat Olmert 2008 schließlich als Premier zurück – noch bevor Anklage erhoben wurde und wenige Tage, nachdem er den Vorsitz der Kadima-Partei niedergelegt hatte. Netanyahu nutzte das im Wahlkampf, ein Premierminister »bis zum Hals in Ermittlungen« habe nicht das »moralische oder öffentliche Mandat«, zentrale Entscheidungen zu treffen. Und äußerte seine Befürchtung, Olmert würde seine Rücktrittsentscheidung »auf der Grundlage seines persönlichen Interesses am politischen Überleben und nicht im nationalen Interesse« treffen.
Ein Jahrzehnt später galt dieser Maßstab nicht mehr, zumindest nicht für Netanyahu selbst. Nach israelischem Recht muss ein Premier erst bei rechtskräftiger Verurteilung zurücktreten. Minister hingegen bereits im Falle einer Anklage. Diese Asymmetrie nutzte Netanyahu gezielt. Als Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit im November 2019 offiziell Anklage in den Fällen mit den Nummern 1.000, 2.000 und 4.000 erhob, blieb Netanyahu im Amt und erklärte, er sei Opfer einer politisierten Justiz. In seinem Brief an Herzog redet auch Trump von »Lawfare« – also Rechtsmitteln und Institutionen als Waffe.
Die Sonderauflagen der Corona-Pandemie verzögerten den Prozess ab 2020 erheblich
Oppositionsführer Yair Lapid, damals die Nummer Zwei des Bündnisses »Blau und Weiß«, sprach im Wahljahr 2019 offen aus, was viele dachten: »Es sei undenkbar, dass ein Premier nachts Luftangriffe auf Syrien anordnet und am nächsten Morgen mit Zeugen streitet«. Gemeint waren Raketen auf Waffenlager der iranischen Al-Quds-Brigaden in Syrien. Lapid warnte, dass »er [Netanyahu] das ganze Land in gefährliche Tiefen stürzen wird, die in einer beispiellosen internen Krise und sogar Gewalt enden werden.« Ein absurder Fiebertraum, der Realität wurde.
Auch Dimension und Umfeld divergieren in den beiden Verfahren erheblich. Während im Fall Olmert weniger als zwanzig Zeugen aussagten, sind es im Fall Netanyahu über 300. Die Sonderauflagen der Corona-Pandemie verzögerten den Prozess ab 2020 erheblich. Anhörungen wurden verschoben, Zeugen konnten erst spät gehört werden. Erst im April 2021 begann die eigentliche Beweisaufnahme. Israel befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer Phase politischer Ungewissheit. Der angeklagte Premier blieb geschäftsführend im Amt. Mit dem Auslaufen des Corona-Einschränkungen im Juni 2022 kehrten auch die Gerichte zum regulären Betrieb zurück, das Verfahren gegen Netanyahu wurde wieder in voller Taktung fortgesetzt und die Zeugenvernehmungen im Jerusalemer Bezirksgericht fanden wieder öffentlich in dichterem Rhythmus statt.
Netanyahus Rückkehr an die Macht im Dezember 2022 veränderte den Regelbetrieb abermals. Kurz darauf präsentierte Justizminister Yariv Levin eine Reformagenda, die den Einfluss der Politik bei der Ernennung des Obersten Gerichts und die Kompetenzen der Justiz insgesamt massiv verschoben hätte. Die Generalstaatsanwältin untersagte Netanyahu zwar offiziell, sich an rechtlichen Entscheidungen aktiv zu beteiligen – doch auf politischer Ebene unterstützte er die Justizreform proaktiv. Eine breite Bewegung protestierte 39 Wochen, bis dato die längsten anhaltende Protestwelle in der Geschichte Israels.
Parallel zu den Protesten gegen die Justizreform schritt der Prozess gegen Netanyahu nur schleppend voran. Nach dem Terrorangriff der Hamas rief das Sicherheitskabinett am 8. Oktober den landesweiten Ausnahmezustand aus. Das Jerusalemer Bezirksgericht reduzierte die Zahl der Anhörungstage wegen der Sicherheitslage erneut. Während Israels Armee im Gazastreifen vorrückte, rückten die juristischen Fragen öffentlich in den Hintergrund.
Nicht mal zwei Wochen nach dem Waffenstillstand kündigte die Regierung einen Gesetzentwurf an, der die laufenden Verfahren gegen Netanyahu erneut berühren würd
Im Frühjahr 2024, nach dem israelischen Luftangriff auf das iranische Konsulatsgebäude in Damaskus und dem anschließenden iranischen Drohnen- und Raketenangriff im April, verwies Netanyahus Verteidigung wiederholt auf die Mehrfrontenlage, um Terminreduzierungen zu beantragen. Zwar ließen die Richter diese Argumentation nur teilweise gelten, doch der ohnehin verlangsamte Prozess kam zeitweise fast zum Erliegen. Erst im Dezember 2024 begann Netanyahu mit seiner eigenen Aussage vor Gericht. Auch 2025 änderte sich wenig. Als Israel im Frühsommer seine Operationen in Rafah intensivierte, setzte das Gericht eine ganze Sitzungswoche aus. Die offizielle Begründung lautete »diplomatisch-sicherheitsrelevante Verschlusssache«.
Die regionalen Krisen waren teils Konsequenz, teils Kalkül einer verschachtelten Verteidigungsstrategie, die Netanyahus Prozess verzögerte. Der Waffenstillstand und Trumps 20-Punkte-Plan haben Netanyahu in eine heikle Lage gebracht: Der Prozess läuft weiter, inklusive regelmäßiger Anhörungen und einer nahezu abgeschlossenen Beweisaufnahme. Mit dem Ende der Kämpfe verliert er das Kriegsnarrativ, das ihm über Monate hinweg als politischer Schutzschild diente. Innerhalb seiner rechtsnationalen Koalition wächst der Unmut: Hardliner sehen den Kompromiss als Verrat und drohen mit dem Ausstieg aus der Regierung. Gleichzeitig steigt der Druck von außen. Ermittlungen vor dem Internationalen Strafgerichtshof rücken näher, während westliche Verbündete auf Distanz gehen und Unsicherheit in der israelischen Wirtschaft herrscht. Der Krieg, der ihm Stabilität verschafft, wird als Belastung empfunden. Wie 2023 im Zuge der Justizreform sieht sich Netanyahu dem Vorwurf ausgesetzt, den Konflikt instrumentalisiert zu haben, um seine eigene politische und juristische Lage zu verbessern.
Vor diesem Hintergrund rückt die umstrittene Justizreform wieder auf die Agenda. Nicht mal zwei Wochen nach dem Waffenstillstand kündigte die Regierung einen Gesetzentwurf an, der die laufenden Verfahren gegen Netanyahu erneut berühren würde. Kern des Entwurfs ist die Aufspaltung der Generalstaatsanwaltschaft in drei Posten – ein Schritt, der der Regierung direkten Einfluss auf die Strafverfolgung verschaffen würde, darunter die Möglichkeit, Netanyahus Verfahren neu zu bewerten oder ganz einzustellen. Die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die als unabhängig und Netanyahu gegenüber kritisch gilt, würde damit faktisch entmachtet. Am 28. Oktober 2025 verabschiedete die Knesset das Vorhaben in erster Lesung. Seit dem 10. November wird die zweite Fassung im zuständigen Ausschuss beraten.
Die substantiellen Vorwürfe gegen den Premier bleiben davon (noch) unberührt: Im ersten Komplex, Fall Nummer 1.000 ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Betrug und Untreue gegen Benyamin und Sara Netanyahu. Über Jahre hinweg sollen sie Luxusgeschenke im Wert von rund 200.000 US-Dollar unter anderem von Arnon Milchan erhalten haben, darunter Zigarren, Champagner und Schmuck, die regelmäßig an die Privatresidenz der Netanyahus geliefert wurden. Im Gegenzug soll Netanyahu für Milchan wirtschaftliche Vorteile ermöglicht haben, etwa die Verlängerung eines steuerbegünstigenden Gesetzes mit zehnjähriger Laufzeit sowie Unterstützung bei Visafragen in den Vereinigten Staaten. Die Ermittlungen stützen sich auf Aussagen aus dem Umfeld der Familie, Lieferlisten und interne Kommunikation.
Zahlreiche Zeugen sagten aus, Netanyahu habe persönlich Einfluss auf Schlagzeilen, Bildauswahl und Platzierung von Artikeln genommen
Fall Nummer 2.000 betrifft mögliche Absprachen zwischen Netanyahu und Arnon Mozes, dem Herausgeber der Tagezeitung Yedioth Ahronoth. Tonaufnahmen von Netanyahus Handy dokumentieren Gespräche, in denen der Premier erwägt, die Reichweite der konkurrierenden Gratiszeitung Israel Hayom gesetzlich einzuschränken. Im Gegenzug sollte Yedioth wohlwollender über Netanyahu berichten. Die Staatsanwaltschaft sieht darin Untreue und unzulässige politische Einflussnahme auf die Pressefreiheit. Der Fall gilt als besonders sensibel, weil er die strukturelle Frage berührt, ob ein amtierender Premier versucht hat, die mediale Landschaft Israels gezielt zu seinen Gunsten zu lenken.
Fall Nummer 4.000 schließlich gilt als das schwerwiegendste Verfahren. Netanyahu wird vorgeworfen, als Premier und zeitweise als Kommunikationsminister dem Konzern Bezeq erhebliche regulatorische Vorteile gewährt zu haben, darunter Genehmigungen in Millionenhöhe, im Gegenzug für positive Berichterstattung auf dem zu Bezeq gehörenden Nachrichtenportal Walla!. Zahlreiche Zeugen, unter ihnen der ehemalige Kommunikationsberater Nir Hefetz, sagten aus, Netanyahu habe persönlich Einfluss auf Schlagzeilen, Bildauswahl und Platzierung von Artikeln genommen. Interne Chats und E-Mails stützen diesen Befund. Die Staatsanwaltschaft sieht genug Beweise für Bestechung, Betrug und Untreue.
Hinzu kommt die Vorgeschichte im Umfeld der Familie. Ehefrau Sara Netanyahu wurde 2015 wegen der Veruntreuung staatlicher Gelder in Höhe von etwa 100.000 US-Dollar für private Zwecke verurteilt. Gegen Benjamin Netanyahu liefen fünf weitere Verfahren, die wegen mangelnder Beweise oder Verjährung eingestellt wurden.
Trumps Intervention in das israelische Justizsystem ist politisch kalkuliert, kommt aber nicht überraschend. Schon im Oktober hatte er bei Herzog nachgehakt, nun fordert er per offenem Brief eine umfassende Begnadigung. Der Vorstoß fällt in eine Phase, in der Israels Regierung zentrale institutionelle Weichenstellungen vorbereitet, die den weiteren Verlauf der Verfahren direkt beeinflussen könnten und die Legislative und Judikative weiter aushebeln. Dass der Premier seit Jahren versucht, politische Stabilität, Sicherheitsfragen und seine persönliche juristische Lage miteinander zu verknüpfen, macht die Anklagefälle, die Justizreform und die Aufrechterhaltung des Waffenstillstands zur Bewährungsprobe für die israelische Demokratie.




