Während die internationale Gemeinschaft Visionen von einem Gaza entwirft, das von einem technokratischen Komitee regiert und von einer internationalen Stabilisierungstruppe gesichert wird, setzt Israel vor Ort eine widersprüchliche und weitaus brutalere Strategie um.
Am 3. November 2025 machte ein Video aus Gaza die Runde. Es zeigt Hussam Al-Astal, einen örtlichen Milizenführer, wie er eine Hamas-Flagge in Brand setzt. »Hamas ist erledigt«, erklärt er und schwört Vergeltung. »Ich bin hier... Wir sind der ›Tag danach – ‹ob es euch gefällt oder nicht.« Astals Provokation war kein Zufall. Sie war eine direkte Reaktion auf eine wenige Tage zuvor in Khan Yunis durchgeführte »präzise Sicherheitsoperation«. Die neu gegründete interne Sicherheitstruppe der Hamas namens »Rad'a« (zu Deutsch »Abschreckung«) hatte mehrere Mitglieder seiner Miliz festgenommen. Die Hamas sprach dabei eine unmissverständliche Warnung aus: »Wir werden mit entschlossenen Maßnahmen gegen jeden vorgehen, der das Volk und die Heimat verrät.«
Al-Astal ist einer von mehreren Warlords, die aus den Trümmern des zweijährigen Krieges gegen Gaza hervorgegangen sind. Die von ihnen geführten Milizen fallen aus der üblichen Typologie bewaffneter Akteure in Gaza heraus, die bisher in Widerstandsgruppen und bewaffnete Clans unterteilt war. Ihr Auftauchen ist kein zufälliges Nebenprodukt der chaotischen Sicherheitslage, sondern das erste greifbare Ergebnis eines bewusst forcierten israelischen Plans für den »Tag danach«.
Um den Aufstieg der bewaffneten Milizen einzuordnen, lohnt sich ein Blick auf das Kalkül, das Israels Politik gegenüber palästinensischen Fraktionen seit Jahrzehnten bestimmt. Die derzeitige Situation ähnelt den 1980er- und 1990er-Jahren, als Israel begann, die Hamas stillschweigend zu unterstützen, um die Fatah und das säkular-nationalistisches Projekt der PLO zu schwächen. Diesem Kurs folgte auch Benyamin Netanyahu. Seit 2009 bestand sein Ansatz darin, die Hamas strategisch zu managen und ihre Machtposition im Gazastreifen zu stärken. Die daraus resultierende Spaltung zwischen Gaza und dem Westjordanland war politisch von unschätzbarem Wert: Sie ermöglichte es Israel, gegenüber der internationalen Gemeinschaft zu argumentieren, dass mit einer zutiefst gespaltenen palästinensischen Führung kein tragfähiger politischer Prozess möglich sei.
Aber die Nachkriegsrealität in Gaza hat die Art und Weise verändert, wie die Strategie umgesetzt werden muss. Die Hamas hat ihren strategischen Wert verloren und soll nach dem Willen der israelischen Regierung vollständig ausgemerzt werden. Zugleich wird die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als zu schwach und politisch unerwünscht angesehen wird. In diese Lücke soll ein neues Ökosystem aus loyalen Sicherheitskräften und kriminellen Milizen stoßen, das darauf abzielt, sowohl die Hamas als auch die PA zu untergraben und sicherzustellen, dass keine einheitliche Regierungsführung Wurzeln schlagen kann. Das Ziel besteht darin, ein kontrolliertes Chaos zu kultivieren, indem Kompetenzen zersplittert und jede Säule der gesellschaftlichen Infrastruktur und Selbstbestimmung demontiert wird.
Um hierfür die Grundlage zu schaffen, zielt die israelische Kriegsstrategie seit Beginn nicht nur auf den militärischen Flügel der Hamas. Sie hat auch deren zivil-politische Strukturen ins Visier genommen. Dem dienen die gezielten Angriffe auf lokale Polizeibeamte, die Israel als Teil der Hamas betrachtet, und vor allem auch auf Gefängnisse in Gaza, was Hunderten von Kriminellen zu Beginn des Krieges die Flucht ermöglichte. Das resultierende Machtvakuum vereinte Opportunismus von unten und Kooptation von oben. Als die neuen bewaffneten Gruppen als kriminelle Akteure auftauchten, begann Israel, ihnen nicht nur materielle, sondern auch operative Unterstützung zu gewähren. Die Gegenleistung: Kollaboration in der Nachkriegsordnung.
Die neuen Milizen rekrutieren sich aus zwei Zielgruppen: der kriminellen Unterwelt und desillusionierten früheren PA-Kadern
Die Entstehung dieser Gruppen beruht nicht auf ideologischer Konvergenz, sondern auf pragmatischer Anwerbepraxis. Dabei setzten sie vor allem auf zwei Zielgruppen: die kriminelle Unterwelt und desillusionierte frühere PA-Kader. Die kriminellen Elemente bringen bestehende, bewaffnete, apolitische Netzwerke mit, die rein profitorientiert sind und etwa auf die Kontrolle und Plünderung humanitärer Hilfe abzielen. Sie lehnen die Rechtsordnung der Hamas naturgemäß ab und lassen sich leicht instrumentalisieren. Die ehemaligen PA-Sicherheitskräfte teilen ideologische Ressentiments gegen die Hamas, die auf die Machtergreifung im Jahr 2007 zurückgehen. Sie sorgen für einen dünnen Schleier der Legitimität und darüber hinaus für ein Rekrutierungsnetzwerk ehemaliger PA-Beamter, das den rein kriminellen Elementen fehlt.
Zu den ersten Neugründungen gehören die selbsternannten »Volkskräfte«, die im südlichen Gazastreifen aktiv sind. Ihr Anführer Yasser Abu Shabab war zu Beginn des Krieges wegen Drogendelikten in Rafah inhaftiert. Kurz nach seiner Flucht aus dem Gefängnis, das von einem israelischen Luftangriff getroffen wurde, wurde er aktiv. Seine Miliz begann damit, Hilfskonvois zu plündern, die über den Grenzübergang Kerem Schalom in den Gazastreifen gelangten. Ein UN-Bericht vom November 2024 identifizierte seine Gruppe als den »einflussreichsten Akteur« bei der »systematischen [...] Plünderung« von Hilfskonvois.
Diese Aktivitäten führten zu Zusammenstößen mit der Hamas, die wiederum Israel dazu veranlassten, Abu Shababs Miliz mit Geld, Lebensmitteln und Waffen zu versorgen. Im Juni 2025 bestätigte Benyamin Netanyahu, Israel habe Clans in Gaza »aktiviert«. Ein aktiver IDF-Soldat des Wüsten-Aufklärungsbataillons (Einheit 585), das in Kerem Schalom stationiert ist, bestätigte, dass seine Einheit die Lieferung von »Lebensmitteln, Waffen und Bargeld« an Abu Shabab erleichtert. Die Zusammenarbeit hat sich für die Miliz gelohnt: Ihr Machtzentrum im südlichen Gazastreifen hat sich zu einem sicheren Hafen mit reichlich Zugang zu allen knappen Gütern entwickelt. Sie beherbergt 1.500 Menschen, darunter geschätzt 500–700 Kämpfer der Gruppe.
Es dauerte nicht lange, bis dieses Modell Nachahmer fand. Im August 2024 folgte Hussam Al-Astal. Er war früher Beamter des »Präventiven Sicherheitsdienstes« der PA und legt nun mit seiner neuen Miliz »Anti-Terror-Eingreiftruppe« den Fokus seiner Operationen in die Nähe von Khan Yunis, in unmittelbarer Nähe zur »Gelben Linie«, die jene 53 Prozent des Gazastreifens abgrenzt, die noch unter IDF-Kontrolle stehen. Astal selbst behauptet, Gelder von Israel, den USA und bestimmten arabischen Staaten zu erhalten – weitergehende Recherchen etwa von Sky News bestätigen seine Aussagen.
Es handelt es sich nicht um eine Strategie der Kooptierung von Clans, die durchaus Einfluss auf die öffentliche Meinung hätten, sondern um eine kontrollierte Zerschlagung der lokalen Notabeln-Strukturen
Ashraf Al-Mansi wiederum operiert mit seiner »Volksarmee – Nordstreitkräfte« im Norden Gazas. Seine Gruppe besteht aus ehemaligen Drogenhändlern und mit der PA affiliierten Kämpfern. Ihre Basis liegt innerhalb der von Israel kontrollierten »Gelben Linie«, Nachschub für seine Miliz trifft über eine Straße ein, die nur zu einem IDF-Außenposten oder zur israelischen Grenze führt. In Gaza-Stadt hat zuletzt Rami Helas im Stadtteil Shujaiya die Miliz »Volksverteidigungskräfte« ins Leben gerufen. Helas, dessen Familie auf eine lange Rivalität mit der Hamas zurückblickt, sich aber inzwischen öffentlich von ihm losgesagt hat, behauptet explizit, mit der PA zusammenzuarbeiten. Schätzungen zufolge befehligen diese vier Fraktionen rund 3.000 Kämpfer.
Was mit vereinzelten Berichten über bewaffnete Banden begann, die mit Israel kollaborieren, kristallisiert sich nun als ein Projekt heraus, das darauf abzielt, die Grundlagen für ein Modell unter israelischer Sicherheitskontrolle zu legen. Astal selbst bestätigte, dass die vier Gruppen Teil dieses Projekt sind. Es steht nicht nur semantisch, sondern auch in der Praxis im Einklang mit der Vision eines »Neuen Gaza«, die US-amerikanische und israelische Beamten vorgebracht haben. Der von Washington angestoßene Plan sieht den Aufbau Gazas in Hamas-freien Gebieten vor, wobei der Wiederaufbau und die Verteilung von Hilfsgütern über neue Zentren verwaltet werden sollen.
In der Praxis begrenzt sich dieses Vorhaben auf die Hälfte des Territoriums, das derzeit unter IDF-Kontrolle steht. Hier laufen die beiden Pläne zusammen: Die neuen Warlords sind die Vollstrecker dieses Wiederaufbaus. So ist beispielsweise dokumentiert, dass die Miliz von Yasser Abu Shabab sich mit der IDF und dem von den USA und Israel unterstützten privaten Auftragnehmer »Gaza Humanitarian Foundation« (GHF) abstimmte. Der gut geschützte Stützpunkt der Miliz ist Ausdruck für die Umsetzung dieses Konzepts. Indem Wiederaufbau und humanitäre Hilfe – der einzige verbliebene Wirtschaftszweig in Gaza – an die Zusammenarbeit mit diesen spezifischen Milizen geknüpft werden, hat Israel ein System von Abhängigkeiten geschaffen, das die neuen Warlords und die Milizen unter ihrem Kommando zu idealen Agenten eines kontrollierten Chaos macht.
Diese Strategie hat jedoch tiefgreifende Auswirkungen und weist ein unübersehbares Legitimitätsdefizit auf. Tatsächlich handelt es sich hierbei nicht um eine Strategie der Kooptierung von Clans, die durchaus Einfluss auf die öffentliche Meinung hätten, sondern um eine kontrollierte Zerschlagung der lokalen Notabeln-Strukturen. Yasser Abu Shabab und Rami Helas wurden von ihren Clans verstoßen, und das »Hohe Komitee für Stammesangelegenheiten«, das wichtigste Koordinierungsgremium der Clans in Gaza, hat das Vorgehen der Hamas gegen die Milizen begrüßt und Vorschläge zur Kollaboration mit Israel entschieden zurückgewiesen. Indem Israel abtrünnige, verstoßene Akteure stärkt, zersplittert es den gesellschaftlichen Zusammenhalt von innen heraus. Durch die Einfuhr von Waffen in eine Post-Konflikt-Region schafft Israel keine Stabilität, sondern ein System von Warlords, das weder den Wünschen der palästinensischen Bevölkerung, noch einer von dieser legitimierten zivilen Vertretung oder verbindlichen rechtlichen Rahmenbedingungen verantwortlich ist.
Die USA erteilen der Hamas gleichzeitig die Lizenz, diese Stellvertreter zu zerschlagen, um der Hamas dann mit der Auslöschung zu drohen, wenn die unvermeidliche Gewalt ausbricht
Ein weiteres entscheidendes Element dieses neuen Ökosystems ist die zweideutige und letztlich selbstzerstörerische Rolle der PA. Öffentlich präsentiert sie sich als einzige legitime Regierung in Wartestellung. Laut Berichten aus Gaza, unter anderem von einem Mitglied der Miliz von Rami Helas, wird die Koordination mit der IDF indirekt über die Bezirkskoordinierungsstelle (DCO) abgewickelt. Die DCO ist keine neue Institution. Es handelt sich um ein seit langem bestehendes, formelles Verbindungsgremium, das im Rahmen der Osloer Verträge eingerichtet wurde, um die zivile und sicherheitspolitische Koordination zwischen Israel und der PA zu gewährleisten, und dem auch Vertreter der PA angehören. Hussam Al-Astal, der behauptet, Angestellte der PA in seinen Reihen zu haben, fasste diese Strategie der glaubwürdigen Abstreitbarkeit zusammen: »Die Palästinensische Autonomiebehörde kann eine direkte Beziehung zu uns nicht zugeben. Wenn Verbindungen zu Milizen oder den Besatzungstruppen bekannt würden, können Sie sich vorstellen, wie das aussehen würde«, sagte der Warlord gegenüber Sky News.
Der ultimative politische Widerspruch liegt jedoch in Washington. Die USA verfolgen derzeit zwei sich gegenseitig ausschließende Pläne für den »Tag danach«. Plan A fährt die diplomatische Schiene: Am 3. November brachten die USA eine UN-Resolution zur Schaffung eines »Friedensrats« zur Überwachung der Internationalen Stabilisierungstruppe für Gaza mit ein. Plan B ist der De-facto-Plan, der vor Ort umgesetzt wird. Dieses Projekt kommt ohne internationale Friedenstruppen aus.
Diese Konstellation belässt die 47 Prozent des von der Hamas kontrollierten Gazastreifens bewusst in einem Vakuum, das durch eine unbeständige Zwei-Schritte-Politik der USA verwaltet wird. Der Widerspruch wurde Mitte Oktober offensichtlich. Als die »Rad'a«-Einheiten der Hamas gegen die von Israel unterstützten Milizen vorgingen, sagte US-Präsident Donald Trump gegenüber CNN, die Hamas »geht rein und schaltet die gewalttätigen Gangs, aus.« Wenige Tage später, nach einem Angriff auf israelische Truppen, den die Hamas bestritt, machte er eine Kehrtwende und warnte, der Hamas drohe ein »schnelles und brutales« Ende, sollte sie den Waffenstillstand verletzen.
So bleibt Gaza in einem Zustand, der weder Krieg noch Frieden ist. Israel sorgt für Chaos, indem es Stellvertreter bewaffnet. Die USA erteilen der Hamas gleichzeitig die Lizenz, diese Stellvertreter zu zerschlagen, um der Hamas dann mit der Auslöschung zu drohen, wenn die unvermeidliche Gewalt ausbricht. Die eine Hälfte Gazas wird als das »Neue Gaza« abgetrennt, ein abhängiger Vasallen-Kleinstaat. Die andere Hälfte ist ein von der Hamas geführtes Ghetto, das nicht durch Diplomatie, sondern durch einen permanenten, ungewissen Kreislauf aus impliziter Duldung und brutaler, sporadischer Durchsetzung verwaltet wird. Diese Inkohärenz garantiert eine Zukunft des kalkulierten Chaos und hält Gaza in einem permanenten Machtkampf gefangen, der jede echte palästinensische Selbstbestimmung auf unbestimmte Zeit verschiebt.




