Die israelische Aktivistin Eliah Levin erklärt im Interview, wie die Bewegung »Standing Together« ihre Gesellschaft wachrütteln, warum sie sich von der internationalen Linken im Stich gelassen fühlt – und wie sie rechtsextremen Politikern gegenübertritt.
zenith: Sie und andere Mitglieder der israelischen Bewegung »Standing Together« sorgten am 10. August für Aufsehen mit einer Protestaktion beim »Big-Brother«-Finale. Warum sprangen Sie in der Live-Übertragung auf die Bühne?
Eliah Levin: Wir fanden, dass wir die Routine und die Normalität in Israel durchbrechen müssen. Dafür mussten wir unsere Proteste anpassen. Wir wollten die Menschen dazu auffordern, sich die Frage zu stellen, auf welcher Seite sie stehen? Gehörst du zu denen, die hinschauen, was in Gaza passiert, oder gehörst du zu denen, die wegschauen? Und die Reality-Show »Big Brother« ist nun mal sehr beliebt – die Sendung dient vielen Israelis als Flucht aus ihrem Alltag. Deswegen haben wir genau dort eine Intervention geplant. Ich wollte eine Rede halten, die ich ganz genau vorbereitet hatte. Als ich es dann auf die Bühne geschafft hatte, war ich froh, dass ich meinen vorbereiteten Text aufsagen konnte. Aber mein Adrenalinspiegel war so hoch, dass ich mich nicht mehr wirklich an die ersten Sekunden erinnern kann.
Und was hat die Aktion gebracht?
Obwohl die Übertragung von der Bühne nach den ersten Sekunden gestoppt wurde, war die Aktion insgesamt sehr erfolgreich, weil viele Medien darüber berichteten – auch international. Auch über die sozialen Medien haben das sehr viele Menschen mitbekommen. So haben wir in Israel ein breites Publikum erreicht. Wir haben gezeigt, dass die israelische Bevölkerung kann nicht einfach so weitermachen, als wäre alles normal und als fände nicht gerade ein Genozid in Gaza statt.
»Warum wir uns von den Linken im Stich gelassen fühlen? Weil sie uns das Gefühl geben, dass sie uns nicht als Partner sehen«
Solche Ansichten sind in Israel nicht unbedingt mehrheitsfähig und werden als radikal verunglimpft. Hat sich diese Wahrnehmung in den letzten Wochen verändert?
Am darauffolgenden Sonntag gingen 400.000 Israelis für einen Deal zur Freilassung der Geiseln auf die Straße. Auf einer der Kundgebungen kamen Menschen auf mich zu, die mich erkannten und mir auch positives Feedback gaben. Das war echt ermutigend. Ich glaube, wir haben die öffentliche Debatte aufgerüttelt, eine Dringlichkeit reingebracht und vielen Verzweifelten auch Hoffnung gemacht. Aber solche Aktionen sind aus Sicht der politischen Mitte in Israel immer noch zu radikal. Gleichzeitig glaube ich, dass viele dieser Menschen dankbar sind, dass es uns gibt und Dinge Ansprechen, die sie sich vielleicht nicht trauen, anzusprechen. Ob sie zum Beispiel in der Lage sind, über palästinensisches Leben zu sprechen, hat viel mit ihrer Gemeinschaft und ihrer Erziehung zu tun. Aber ich glaube, dass Israelis im politisch linken Spektrum ganz dankbar sind, dass es uns gibt.
Manchen im linken Milieu außerhalb Israels fällt es schwer, sich mit der israelischen Linken zu solidarisieren. Woran liegt das?
Eigentlich sind wir nicht anders als Linke in Europa und Amerika. Warum wir uns von ihnen im Stich gelassen fühlen? Weil sie uns das Gefühl geben, dass sie uns nicht als Partner sehen. Das ist überhaupt das Schmerzhafteste für mich. Dabei sind wir diejenigen, die vor Ort sind und die Arbeit machen. Wir müssen uns ganz konkret mit unserer rechtsextremen Regierung auseinandersetzen, mit der komplexen Situation, dass wir Israelis sind und als Verräter verunglimpft werden, weil wir für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen. Das sehen viele Linke in Europa eben nicht – im Gegenteil: Weil Juden und Palästinenser bei uns zusammenarbeiten, werfen uns beispielsweise Vertreter der BDS-Bewegung, wir würden die Besatzung normalisieren. Es wirkt, als ob die internationale Linke möchte, dass die Palästinenser eines Tages wie durch Zauberhand befreit von der Besatzung aufwachen. Währenddessen kämpfen wir schon jetzt für Verbesserungen unser aller Leben.
Wie sind Sie zu Ihrer politischen Bildung gekommen, die in Israel scheinbar nicht selbstverständlich ist?
Ich bin einen Teil meiner Kindheit und Jugend in New York aufgewachsen. Das hat natürlich viel Einfluss auf mich ausgeübt. Ich bin mit Menschen aus aller Welt aufgewachsen und hatte für den israelischen Rassismus nichts als Verachtung über. Meine Eltern, besonders mein Vater, haben mich zu Demonstrationen mitgenommen. Ich habe mich schon früh für meine palästinensischen Nachbarn in Haifa interessiert und habe an Dialog-Programmen teilgenommen. Es war mir wichtig, mich palästinensischen Lebensrealitäten auszusetzen.
Leben in Haifa nicht Juden und Araber Seite an Seite?
Ich muss zunächst mal anerkennen, dass meine Nachbarn etwas völlig anderes sehen als ich, wenn sie etwa Instagram öffnen. Sie sehen den ganzen Tag getötete Kinder aus Gaza, nur weil sie Arabisch sprechen und ich nicht. Aber selbst wenn Menschen in utopischen Modelldörfern zusammen groß werden, Hebräisch und Arabisch lernen, zusammen zur Schule gehen und befreundet sind, bekommen die Einen irgendwann ihren Einberufungsbescheid zum Militärdienst und die anderen eben nicht. Spätestens da trennen sich viele Wege. Deswegen haben Israelis größtenteils keine Ahnung, wie es ist, als Palästinenser in Israel zu leben. Die Palästinenser in Israel sympathisieren natürlich mit den Menschen in Gaza. Manche haben dort ja auch Familie. Und die Israelis identifizieren sich eher mit den Soldaten im Gazastreifen.
»In diesem Sinne war die Beleidigung ein Kompliment, denn ich bin eine Kraft, mit der sie rechnen muss. Das sollte sie wissen«
Was muss sich in der israelischen Gesellschaft ändern, damit das Leid der Palästinenser nicht länger derart hingenommen wird?
Es geht darum zu begreifen, dass Palästinenser Menschen sind, auch wenn ihre Erfahrungen andere sind als die eigenen. Das klingt erst einmal selbstverständlich, aber ich glaube, viele Israelis haben Palästinenser und Araber als Bewältigungsmechanismus generell entmenschlicht. Wir Israelis sind in dieser Hinsicht einer Art Gehirnwäsche unterzogen. Ich bin mir bewusst, wie schwer dieser Vorwurf wiegt, weil wir uns als diese liberale, moderne Nation im Nahen Osten sehen. Aber wenn man einmal die Augen geöffnet hat und die Anderen als Menschen sieht, dann kann man nicht wieder zurück zum Status quo. Und es geht auch gar nicht darum, altruistisch für Palästinenser zu kämpfen, sondern darum, wie Israel tatsächlich sicher wird. Und dafür braucht es nicht mehr Bomben und höhere Mauern, sondern eine Vision, die allen Menschen eine Zukunft in Frieden bietet.
Die Regierung Netanyahu scheint diese Vision offensichtlich nicht zu teilen, ebenso wie viele Abgeordnete. Vor ein paar Wochen waren Sie zu einer Anhörung in der Knesset geladen, in der Ihnen so jemand gegenüber saß …
… In der Anhörung im Ausschuss für Bildung, Kultur und Sport, bei der ich zu Wort kam, ging es um ein Gesetz, das arabische Studierende schneller als Unterstützer von Terrorismus kriminalisiert. Eingebracht hatte es die Abgeordnete Limor Son Har-Melech von der Regierungspartei Otzma Yehudit eingebracht hatte …
… also der rechtsextremen Partei von Innenminister Itamar Ben-Gvir …
… Es war beängstigend und etwas deprimierend. Die anwesenden Politiker waren wirklich sehr unhöflich. Limor Son Har-Melech sah mir in die Augen und sagte, ich sei der Feind Israels. Das ist ohnehin ein häufiger Vorwurf. Erst Mitte August bezeichnete die Regierung die Familien der als Verräter, weil sie einen Deal zur Freilassung einfordern. Manchmal will man sich erklären. Dass man das alles aus Liebe für sein Land und die Menschen macht. Aber als Limor Son Har-Melech mich in der Knesset beschimpfte, stimmte ich ihr zu. Denn ja, ich bin die Feindin jenes Israels, das sie anstrebt. In diesem Sinne war die Beleidigung ein Kompliment, denn ich bin eine Kraft, mit der sie rechnen muss. Das sollte sie wissen.
Eliah Levin