Israels Kabinett beschließt, den Krieg in Gaza auszuweiten. Daraufhin riefen die Familien der Geiseln zum Generalstreik auf. Ihre Forderung: Deren Freilassung und ein Ende des Krieges. Hundertausende im ganzen Land schlossen sich dem Aufruf an, darunter auch drei Aktivisten der »Pink Front«. Mit zenith sprachen sie über den Protest.
Nachdem das israelische Kabinett am 8. August beschlossen hatte, den Krieg auszuweiten und Gaza-Stadt einzunehmen – gegen den Widerstand von Generalstabschef Eyal Zamir – riefen die Familien der Geiseln zum Generalstreik auf. Unternehmen, Universitäten und Teile der örtlichen Verwaltungen schlossen sich dem Aufruf an. Auch der israelische Gewerkschaftsbund unterstützte den Streik, entschied sich allerdings dagegen, seine Mitglieder direkt dazu aufzurufen, die Arbeit niederzulegen. Israelische Gerichte hatten vor einem Jahr den Streikaufruf von Gewerkschaftschef Arnon Bar-David für illegal erklärt, da er politisch und nicht ökonomisch motiviert gewesen sei. Auslöser für die Proteste im September letzten Jahres war die Ermordung von sechs israelischen Geiseln durch die Hamas in einem Tunnel unter der Stadt Rafah gewesen.
Am 17. August begannen nun die landesweiten Proteste um 6:29 Uhr – genau die Uhrzeit, zu der die Hamas und andere Gruppen ihren Angriff am 7. Oktober 2023 gestartet hatten. Im ganzen Land fanden über den Tag verteilt Demonstrationen und Straßenblockaden statt. In Jerusalem setzte die Polizei einen Wasserwerfer ein, um eine der Blockaden aufzulösen, und nahm im Verlauf des Tages Dutzende Protestierende fest. Zur Hauptdemonstration in Tel Aviv versammelten sich am Abend laut Angaben der Veranstalter rund 400.000 Personen.
Auch Nadav Gat, Shelly Razinsky und Eran Margalit waren am Sonntag auf der Straße. Die drei Aktivisten der »Pink Front« – einer Protestgruppe, die sich für liberale und demokratische Werte einsetzt – folgten dem Aufruf der Familien und sprachen mit zenith über den Streik von unten.
»Die Menschen verstehen nun, dass es nicht reicht, Posts hochzuladen und Likes zu verteilen. Man muss auf die Straße«
»Einerseits war die Stimmung sehr energisch. Das letzte Mal, dass wir so viele auf der Straße versammelten, war im September 2024. Aber es herrscht auch Verzweiflung darüber, dass es so weit gekommen ist«, erklärt der 27-jährige Aktivist Nadav Gat. »Die Atmosphäre war wirklich besonders. Die Menschen verstehen nun, dass es nicht reicht, Posts hochzuladen und Likes zu verteilen. Man muss auf die Straße«, sagt Eran Margalit, der abseits seines Engagements bei der »Pink Front« als Sänger und Trommler an der israelischen Oper in Tel Aviv arbeitet. »Dieser Tag war der Höhepunkt eines Kampfes, der bereits 22 Monate andauert. All die Menschen, die in der prallen Mittagshitze schwitzten und gemeinsam auf die Straße gingen mit dem Ziel, den Krieg zu beenden – das war unglaublich«, sagt die 27-jährige Studentin Shelly Razinsky.
Sie alle drei sind überzeugt, dass der Streik etwas Besonderes war. »In dem Moment, als mich Menschen aus meinem Umfeld, die selten demonstrieren, fragten, wo und wie sie teilnehmen können, und dann auch noch Freunde und Familien mitbrachten – da verstand ich, dass hier etwas Großes passiert.«
Für Eran Margalit war der Streiktag nicht nur aus aktivistischer Perspektive bedeutsam, sondern auch aus persönlicher. Zu seiner Verwandtschaft gehört die Familie Munder aus dem Kibbutz Nir Oz, in der Nähe des Gazastreifens. Am 7. Oktober nahm die Hamas drei Generationen der Familie als Geiseln: Avraham und Ruthi sowie deren Tochter Keren und den Enkel Ohad, zum Zeitpunkt der Entführung acht Jahre alt. Ruthi, Keren und Ohad wurden während des Waffenstillstands im November letzten Jahres freigelassen. Avraham Munder wurde in Gefangenschaft im August 2024 getötet: »Ein früheres Abkommen hätte ihn lebend zurückbringen können«, sagt Eran Margalit, der am Donnerstag Avrahams Grab in Nir Oz besuchen wird. »Wir haben keine andere Wahl, als auf die Straße zu gehen«, sagt der 31-Jährige.
»Als politisch unabhängige Institution ist die Polizei weggefallen«, meint Margalit
Mitglieder der Regierungskoalition warfen den Protestierenden sowie den Familien jedoch vor, die Position der Hamas zu stärken, gar die Sicherheit Israels zu schwächen. »Schämt euch!«, entgegnet Eran Margalit und prangert die Regierung an: »Es wird immenser Druck auf die Familien der Geiseln ausgeübt, eine schreckliche, koordinierte Kampagne.« »Die Regierung versteht sich sehr gut darauf, ständig jemand anderem die Schuld zuzuschieben«, ergänzt Nadav Gat. »Dabei macht sie doch genau das, was sie anderen vorwirft: Sie weigert sich, den Krieg zu beenden, war bis vor Kurzem noch stolz darauf, den Gazastreifen auszuhungern, und ließ Milliarden aus Katar der Hamas zukommen. Das stärkt die Hamas, nicht die Demonstrationen.«
Den rhetorischen Angriffe der Regierung auf die Demonstrationen folgten Repressalien seitens der Polizei, von denen besonders Demonstrantinnen betroffen sind. »Allein auf die Straße zu gehen, verlangt einer Frau bereits mehr Mut ab. Wenn man auf einer Demonstration in eine hitzige Situation gelangt, die auch in Gewalt münden könnte, dann ist das umso stressiger«, erklärt Shelly Razinsky. Weiterhin erzählt die Studentin: »Wir beobachten seit Monaten, dass die Polizei Mittel gegenüber Demonstrantinnen einsetzt, die sie nicht gegenüber Demonstranten einsetzt. Von allen Protestierenden, die festgenommen wurden, mussten sich meines Wissens nur Frauen für die Durchsuchung entkleiden.« Die Polizei versuche, gezielt Demonstrantinnen einzuschüchtern.
Alle drei Aktivisten beschreiben, dass die Beamten schnell Gewalt anwandten, teilweise bevor Protestierende überhaupt die Möglichkeit bekamen, auf Anweisungen zu reagieren. »Als politisch unabhängige Institution ist die Polizei weggefallen«, meint Margalit. »Sie folgt Minister Itamar Ben Gvir. Auch in Abwesenheit ausdrücklicher Befehle ist klar, was erwartet wird«, ergänzt Gat. Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit untergräbt seit seiner Ernennung konsequent die Unabhängigkeit der Polizei. Doch was Nadav Gat besonders besorgt: »Manche Polizisten handeln bei der Auflösung einer Blockade nicht so, als ob sie einen Befehl erhalten hätten und ihn lediglich ausführen müssten. Stattdessen sieht man ihnen an, wie sie von Zorn und Wut motiviert sind.«
»Diese Proteste retten das Land«, ist sich Eran Margalit sicher
Auch wenn die Mehrheit der Familien der Geiseln sich durch die Demonstrationen gestärkt fühlt und bereits zu einem erneuten Streiktag am kommenden Sonntag aufgerufen hat, halten manche die Proteste nicht für das richtige Mittel. Ein lautstarker Gegner des Streiktags ist Zvika Mor. Sein Sohn Eitan Mor wurde auf dem Gelände des Nova-Festivals am 7. Oktober entführt. Die Blockaden bezeichnete er als »sehr naiv« und beklagt, dass Linke den Protesttag für die Geiseln vereinnahmt hätten.
Alle drei Aktivisten betonen, dass sie andere Meinungen respektieren und die Familien verstehen können, Mitgefühl empfinden und sie auf keinen Fall verurteilen würden. »Die Hamas hat am 7. Oktober keine politischen Unterscheidungen vorgenommen. Natürlich spiegeln auch die Familien der Geiseln das gesamte politische Spektrum wider«, macht Margalit deutlich. Der 27-jährige Gat meint: »Es macht mich sehr traurig. Ich würde gerne etwas unternehmen, hinter dem wirklich alle Familien der Geiseln stehen. Doch man kann nicht eine Sache und ihr Gegenteil gleichzeitig tun, also muss man sich entscheiden.«
Für die drei Aktivisten heißt das: weiter demonstrieren. »Diese Proteste retten das Land«, ist sich Eran Margalit sicher. Nadav Gat argumentiert, dass es den öffentlichen Druck dringend brauche, damit die israelische Regierung auch wirklich ein Abkommen unterschreibt, durch das weitere Geiseln freikommen würden. »Letztes Jahr haben wir das Momentum verloren und mussten quasi erneut von null starten. Das hat mich sehr beschäftigt«, erklärt Shelly Razinsky. »Wir müssen das Momentum nutzen und weitermachen.«