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Proteste in Kenia

Kenia in Aufruhr

Analyse
Proteste in Kenia
Auf den Straßen Nairobis nehmen die Proteste keinen Abbruch. Noch immer fordert die Bewegung von der Regierung, das Finanzgesetz 2024 zurückzuziehen. Foto: Privat von Demonstrantin

Seit Wochen stehen sich kenianische Protestierende und Polizei gegenüber. Ausgelöst durch eine umstrittene Steuerreform geht es der jungen Generation inzwischen ums große Ganze – und zahlt dafür mit dem Leben

Es war ein überraschender wie riskanter Schachzug. Kenias Präsident William Ruto hat fast sein gesamtes Kabinett entlassen, und anschließend hochrangige Mitglieder der oppositionellen ODM-Partei auf wichtige politische Ämter berufen. Es sollte ein Zeichen sein an die protestierende Bevölkerung im Land. Und die Opposition spalten. Sofort kamen bei der größten Opposotionskoalition Zweifel darüber auf, wie wirksam ihre politische Führung unter Raila Odinga noch ist. Und auch die Demonstrationen dauern an.

 

Was die Proteste auslöste

Am 25. Juni 2024 stürmte eine Gruppe von jungen Demonstranten das kenianische Parlament. Grund dafür war die Erlassung eines neuen Finanzgesetzes, das gerade die letzte Lesung vor der endgültigen Zustimmung des Parlaments passiert hatte. Schnell kam es zum zweiten, landesweiten Protest gegen das Vorhaben der Regierung. Unter dem Hashtag #RejectFinanceBill2024 wurde bereits Mitte Mai eine Kampagne gegen den geplanten Gesetzesentwurf losgetreten, einen Monat später erreichten die Proteste ihren Höhepunkt auf der Straße.

 

Das neue Finanzgesetz zielt darauf ab, Steuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden US Dollar zu erzeugen, indem Abgaben auf lebenswichtige Waren und Dienstleistungen wie Speiseöl und Brot angehoben werden. Auch digitale Einkommensquellen sind von Steuererhöhungen betroffen. In dem von Arbeitslosigkeit geplagten Land stellen gerade sie für viele junge Menschen eine essenzielle Einnahmemöglichkeit dar.

 

Die junge Generation tritt geschlossen auf – und will von Klassen- und Stammesgrenzen, aber auch von der Opposition nichts wissen. Vor allem geht es der Bewegung um politische Rechenschaft, Bekämpfung der Korruption und die Beseitigung der alten Politikerklasse, die sich gegenseitig am Leben hält. Vereint gegen das Finanzgesetz 2024 fehlt der Bewegung bislang eine politische Führung – auch weil alte Gesichter wie Raila Odinga in der Vergangenheit die Opposition oft für ihre eigene Interessen benutzt haben. Dafür stehen sie ein für einen radikalen Wandel – in der Regierungsstruktur und Zusammensetzung, aber auch der Politik als solches.

 

Unvorhergesehene Polizeigewalt

Auf die Protestwelle reagierte die Regierung mit harter Polizeigewalt. Tagelang wachten Militär und Polizei in den Straßen Nairobis, neben Wasserwerfer wurde auf Protestierende auch geschossen. Während Polizeichef Douglas Kanja behauptete, die Polizei habe die Entscheidung über ihr Vorgehen auf Basis von verlässlichen Informationen getroffen, zeigt sich das Ausmaß der Gewalt erst Tage später. Die Nationale Menschenrechtskommission Kenias berichtet, dass seit Beginn der Proteste am 18. Juni mindestens 50 Demonstranten getötet und weitere 413 verletzt worden seien. Seriöse Quellen hingegen sprechen bei der Anzahl der Todesopfer und Verwundeten von einer weitaus höheren Dunkelziffer.

 

Bei einem Fernsehinterview am 31. Juni hatte Präsident Ruto die Polizeieinsatzkräfte in Schutz genommen – und erklärte, dass es notwendig gewesen sei scharfe Munition abzufeuern, um die allgemeine Sicherheit zu gewährleisten. Im gleichen Satz benannte er die Protestierenden als Kriminelle. Die Stellungnahme Rutos ging nach hinten los – klar wurde in dem Gespräch vor allem sein mangelndes Mitgefühl und Verständnis für die Protestierenden. 

 

Für die Kenianer kaum eine große Überraschung: Immer wieder hatte Ruto ein Verhalten an den Tag gelegt, welches von Missachtung und Billigung von Gewalt geprägt war. Rutos Vergangenheit spricht Bände: Bereits in den Jahren 2007 und 2008 wurde Kenia von einer Welle an Gewalt erfasst – neben Hunderten von Toten kam es auch zu Vertreibung im Land. Ruto, damals auf Seite der Protestierenden, wird seither mit weiteren fünf kenianischen Politikern vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht. Auch eine Art Privatarmee soll Ruto während des Aufruhrs betrieben haben

 

Nächtliche Entführungen oder gesetzeskonforme Verhaftungen?

Nicht nur die Polizeigewalt in den Straßen macht den Kenianern und Kenianerinnen zu schaffen. Seit mehreren Wochen werden Aktivisten und Aktivistinnen zum Teil ganz gezielt aus dem Verkehr gezogen: In vielen Fällen wurden junge Kenianer ohne offizielle Anklage nachts aus ihren Betten gerissen und entführt, und verschwanden so für oft mehrere Tage. Mit den angeordneten Entführungen will die Regierung die Protestierenden vor allem einschüchtern. Auch kursieren Berichte über Studenten und Aktivisten, die tagelang spurlos verschwunden waren und dann an abgelegenen Orten gefunden wurden. Oft weisen sie Anzeichen von Misshandlungen auf. Oder die Leichen werden auf Mülldeponien entdeckt.

 

Um die wachsende Wut auf den Straßen Kenias zu besänftigen, beschrieb Präsident Ruto in seiner Rede Mitte Juli die derzeitige Krise als Chance für einen nationalen Wandel. In diesem Zusammenhang rief er zur Bildung einer breitgefächerten und inklusiven Bürgerkoalition auf. »Ich habe damit angefangen ein neues, durchmischtes Kabinett aufzustellen, um den notwendigen Wandel in unserem Land voranzutreiben«, so Ruto. Die wichtigsten Amtsinhaber – innere Angelegenheiten, Verteidigungs-, sowie Umwelt und Agrarministerium aber bleiben auf ihrer Position sitzen.

 

Die parlamentarische Azimio-Koalition beschrieb die jüngsten Kabinettsveränderungen von Präsident Ruto als oberflächlich. Sie weigert sich, eine Einheitsregierung mit Rutos Partei Kenia Kwanza Partei zu bilden – es wäre ein Verrat an den jungen Kenianern, die in den letzten Wochen ihr Blut lassen mussten. Doch in der Koalition von Regierungsgegnern machen sich Zweifel breit. In Rutos neustem Kabinett sind einige hochrangige Oppositionsmitglieder mit dabei – und es bleibt offen, wie die Koalition ihren Widerstand gegen die Regierung aufrechterhalten kann.

 

Die Protestierenden sind sich dieser politischen Dynamiken zwischen der Regierung und der politischen Opposition durchaus bewusst – ein Bündnis oder eine Zusammenarbeit mit einer von beiden Koalitionen kommt für die Protestierenden nicht in Frage: Sie argumentieren, dass solche Abkommen zwischen Regierung und Opposition tief verankerte korrupte Strukturen der kenianischen Politik fortführen würden. Mit dem Status Quo gibt sich die Jugend nicht mehr länger zufrieden. Für die kenianische Regierung sind die Proteste ein Weckruf. Denn sie zeigen klar: Die Kenianer und Kenianerinnen sind bereit, ist die Kontrolle über ihre Zukunft zu übernehmen und weiterzukämpfen bis all ihre Forderungen erfüllt sind.

Von: 
Yousra Ishaq

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