Lange gestalteten sich Bakus Beziehungen zu den Staaten des Nahen Ostens freundlich, aber oberflächlich. Die Prioritäten lagen in Moskau, Ankara, Brüssel und Washington. Warum sich Aserbaidschan nun als regionale Kraft und Schlüsselpartner aufschwingt.
Beim von der Regierung organisierten »Shusha Global Media Forum« in der vergangenen Woche betonte Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev: »Unsere gesamte Außenpolitik war auf die Wiederherstellung unserer territorialen Integrität ausgerichtet. Da dies erreicht ist, sind wir auf der internationalen Bühne aktiver geworden und werden eine viel wichtigere Rolle in der weiteren Region spielen.« Dazu zählt er neben dem Südkaukasus und Zentralasien vor allem den Nahen Osten, der zunehmend zum Handlungsraum wird, in dem Baku seine Interessen als aufstrebende Mittelmacht artikuliert.
Dass dieser Impuls aus Schuscha ausgeht, ist kein Zufall. Schuscha (Schuschi für Armenier), auf einem steilen Felsplateau im Karabach-Hochland gelegen, hat im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan große kulturelle und militärische Bedeutung. Nicht umsonst markierte seine Einnahme im November 2020 das Ende des Zweiten Karabach-Kriegs, der die Karabach-Frage aus aserbaidschanischer Sicht zum Besten gelöst – und so neuen Handlungsspielraum eröffnet hat.
Ein zentraler Katalysator für Bakus neues Engagement sind die schwierigen Beziehungen zu seinem südlichen Nachbarn Iran. Dessen schiere Größe, seine Unterstützung für Armenien und die Sorge um religiöse Einflussnahme auf die schiitische Bevölkerung Aserbaidschans, sowie umgekehrt Irans Sorge um die Loyalitäten seiner bis zu 20 Millionen ethnischen Aserbaidschaner, sorgen für gegenseitiges Misstrauen. Höhepunkt der Spannungen war der Angriff auf die Botschaft in Teheran durch einen vermeintlichen Einzeltäter im Januar 2023, bei dem ein aserbaidschanischer Wachmann ums Leben kam. Aliyev warf der iranischen Führung vor, sie würde Islamisten unterstützen, die seine Regierung stürzen wollten. Die Folge war die gegenseitige Ausweisung von Diplomaten und die Schließung der aserbaidschanischen Botschaft in Teheran, die erst nach Verhandlungen und einer Verbesserung der Beziehungen im Sommer 2024 wiedereröffnet wurde. Wenige Monate zuvor war Irans Präsident Ebrahim Raisi beim Staatsbesuch im Nachbarland bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen.
Sein Nachfolger Masud Pezeshkian bemüht sich zwar einerseits – wie auch schon Raisi – um eine Annäherung. Doch gerade die geopolitischen Konflikte in der Region trüben auch die Beziehungen zu Baku – zuletzt der sogenannte Zwölf-Tage-Krieg. So unterstellte Pezeshkian beim Telefonat mit Aliyev vor wenigen Wochen, dass der Luftraum Aserbaidschans von israelischen Drohnen genutzt worden sei, um Angriffe auf Iran zu fliegen.
Baku kommt für bis zu 60 Prozent der jährlichen israelischen Rohölimporte auf
Denn die Antwort Bakus auf die Herausforderung Iran besteht darin, die Nähe zu dessen Rivalen zu suchen – den sunnitischen Golfmonarchien und insbesondere zu Israel. Die Eröffnung der ersten aserbaidschanischen Botschaft in Israel im Jahr 2023 – nur kurz nach dem Angriff auf die Botschaft in Teheran – war Ausdruck dieser strategischen Ausrichtung. Die aserbaidschanisch-israelische Zusammenarbeit geht jedoch über die Eindämmung Irans hinaus.
Beide Staaten sind wirtschaftlich eng miteinander verbunden. So zählt Aserbaidschan zu den wichtigsten Abnehmern israelischer Rüstungsgüter. In den Jahren vor dem Zweiten Karabach-Krieg stammten etwa 70 Prozent der aserbaidschanischen Waffenimporte aus Israel und israelische Drohnen sowie Luftabwehrsysteme spielten eine entscheidende Rolle für Aserbaidschans militärische Dominanz in dem Konflikt. Baku wiederum kommt für bis zu 60 Prozent der jährlichen israelischen Rohölimporte auf und baut die energiepolitischen Beziehungen weiter aus. Erst im Juni dieses Jahres erwarb der staatliche aserbaidschanische Energiekonzern SOCAR einen zehnprozentigen Anteil am Gasfeld Tamar im Mittelmeer vor der israelischen Küste, um auch operativ vor Ort tätig zu werden.
SOCAR ist der zentrale Akteur der aserbaidschanischen Wirtschaftsaußenpolitik – auch am Golf. Dort hat der Konzern in den letzten Jahren unter anderem mehrere Abkommen zur Produktion Erneuerbarer Energien mit dem saudischen Kraftwerksentwickler ACWA abgeschlossen und Beteiligungen an zwei Offshore-Ölprojekten in den Vereinigten Arabischen Emiraten erworben.
Die VAE sind mittlerweile zu einem der wichtigsten Investoren in Aserbaidschan aufgestiegen. So eröffnete das emiratische Unternehmen Masdar 2023 das größte Solarkraftwerk Aserbaidschans und die staatliche Ölgesellschaft ADNOC erwarb 30 Prozent der Anteile am Gasfeld Absheron im Kaspischen Meer. Außerdem gründeten die Abu Dhabi Development Holding und die Azerbaijan Investment Holding einen gemeinsamen Investitionsfonds mit einem Volumen von einer Milliarde US-Dollar. Beim Treffen der Staatschefs Anfang Juli in Abu Dhabi wurde ein umfassendes Wirtschaftsabkommen unterzeichnet, das die partnerschaftlichen Ambitionen weiter vertieft.
Syrische, türkische und israelische Emissäre nutzten diese Treffen, um über die Situation in Syrien zu beraten
Für die VAE ist Baku nicht nur ein Verbündeter gegen Teheran – es ist ein Tor nach Zentralasien und China über den so genannten Middle Corridor. Für Aserbaidschan, dessen Wirtschaft weiterhin zum Großteil auf Öl und Gas basiert, sind die Investitionen und Erfahrungen vom Golf in den Bereichen Infrastruktur, Erneuerbare Energien und grüne Technologie zentral für den angestrebten Strukturwandel der Wirtschaft für die Zeit nach dem Öl.
Während die Beziehungen mit Israel und den Golfstaaten über die letzten Jahre strategisch ausgebaut wurden, hat sich durch das Ende des Assad-Regimes, das eng mit der herrschenden Elite Teherans verbunden war, in Syrien eine weitere Chance für Aserbaidschans Engagement eröffnet. Beim Staatsbesuch von Übergangspräsident Ahmad Al-Scharaa am 12. Juli in Baku zeigte sich exemplarisch, was Aserbaidschan neuen Partnern anzubieten hat: Energielieferungen und -erschließung, technisches Know-how, Investitionen im Rahmen des Wiederaufbaus und nicht zuletzt Konfliktmediation –dank guter Beziehungen zu Israel und der Türkei, die sich in den vergangenen Monaten als Antagonisten im Ringen um Einfluss in Syrien herauskristallisiert haben. So nutzten syrische, türkische und israelische Emissäre diese Treffen, um über die Situation in Syrien zu beraten.
Die Eskalation in Suweida Mitte Juli legt aber auch eines der größten Risiken des aserbaidschanischen Engagements im Nahen Osten offen: die enge Bindung an ein offensiv und immer öfter rücksichtslos auftretendes Israel. Vor allem im Hinblick auf den Krieg in Gaza riskiert Aserbaidschan sein Ansehen in der arabischen Welt. Der wichtigste arabische Partner, die VAE, steht allerdings ebenfalls weiter zu Jerusalem, von dieser Seite muss Baku keine negativen Konsequenzen erwarten und könnte sogar nachziehen und den Abraham-Abkommen beitreten.
Anders steht es um Bakus traditionell engsten Verbündeten: die Türkei. Ankara brach im Mai letzten Jahres die Handelsbeziehungen mit Israel ab und setzte Aserbaidschan unter Druck, seine Öllieferungen nach Israel, die durch die Türkei fließen, auszusetzen. Vor der SOCAR-Vertretung in Istanbul brachen Proteste aus. Auch dank aserbaidschanischer Vermittlung wurde der Handel zwischen Israel und der Türkei wieder aufgenommen, ebenso die Öllieferungen vom Kaspischen Meer fortgesetzt. Hier zeigt sich, dass Aserbaidschans Rolle im Nahen Osten der Türkei nützen kann: Ankara konnte durch Bakus Vermittlung sein Gesicht als islamische Führungsmacht wahren, aber von den wirtschaftlichen Vorteilen der Beziehungen zu Israel weiter profitieren. Auch die Schwächung Irans liegt im türkischen Interesse. Ankara sieht jedoch die Notwendigkeit, das regionale Engagement mit Aserbaidschan zu koordinieren, um Konkurrenz beispielweise beim Wiederaufbau in Syrien zu vermeiden.
Die wohl größte Gefahr für Aserbaidschans wachsendes außenpolitisches Engagement im Nahen Osten ist eine strategische Überdehnung
Die wohl größte Gefahr für Aserbaidschans wachsendes außenpolitisches Engagement im Nahen Osten ist eine strategische Überdehnung. Auf wirtschaftlicher Ebene ist nicht gesichert, dass Bakus finanzielle und fossile Ressourcen ausreichen, um langfristig die Nachfrage nach Investitionen und Rohstoffen aus mehreren süd(ost)europäischen Staaten, dem Vereinigten Königreich, der Türkei, Zentralasien, Georgien, Israel und wohlmöglich Syrien und weiteren arabischen Partnern zu bedienen.
Ebenfalls riskant ist eine mögliche sicherheitspolitische Überdehnung. Zwar hat Aserbaidschan ausgeschlossen, Israel sein Territorium oder auch nur den Luftraum für Angriffe gegen Iran zur Verfügung zu stellen. Aber bereits jetzt ist aserbaidschanisches Öl strategisch bedeutsam für das israelische Militär und sammeln israelische Geheimdienste mutmaßlich von Aserbaidschan aus Informationen über Iran. Das Regime der Islamischen Republik ist sich bewusst, dass die Beziehungen Aserbaidschans zu Israel nicht mehr bloß transaktionaler Natur sind, sondern das regionale Machtgleichgewicht mitbestimmen. In Iran wächst die Sorge, dass eine gegen Teheran gerichtete Achse Baku-Jerusalem-Abu Dhabi Form annimmt.
Das Misstrauen wächst auch in Russland. Seit Ende letzten Jahres bewegt sich Baku zunehmend auf Konfrontationskurs mit Moskau, ausgelöst durch den Abschuss eines aserbaidschanischen Flugzeugs durch die russische Luftabwehr im letzten Dezember und den Tod von ethnischen Aserbaidschanern in russischer Haft. Aber auch, weil Baku sich als Führungsmacht im Kaukasus sieht und von Russland mit Nachdruck erwartet, auf Augenhöhe behandelt zu werden.
Mit seinem Engagement im Nahen Osten geht Aserbaidschan sogar noch einen Schritt weiter und macht Russland seine Rolle als etablierte Ordnungsmacht in der Region streitig – zumal Bakus Engagement Moskaus engsten Verbündeten in der Region Iran betrifft. Für den Moment jedoch strotzt Aserbaidschan auch ob seiner Bedeutung als Transitland zwischen Iran und Russland vor Selbstbewusstsein und Tatendrang, sich als Regionalmacht und Schlüsselpartner zu etablieren.