Lesezeit: 9 Minuten
Kinder und Jugendliche in Gaza

»Schaut her, wir sind noch da«

Feature
Kinder und Jugendliche in Gaza
Die Instagram-Seite von Omar und Muhammad wurde zur Timeline des Krieges. Sie dokumentierten die erste Lebensmittelknappheit, die Vertreibungen aus dem Norden und die Offensive auf Rafah.

Für Kinder und Jugendliche in Gaza sind soziale Medien wie Instagram ein Fenster zur Welt.

Die Linsen in kochendes Wasser geben. Zwiebeln hacken und hinzufügen. Getrocknete Chilischoten. Ein Würfel Maggi. Schwarzer Pfeffer. Kreuzkümmel. Ghee. Etwas Öl. Etwas Salz. Was Renad in einem Instagram-Video zeigt, soll weder die arabische Küche revolutionieren, noch handelt es sich um einen Ernährungstipp oder eine Produktwerbung.

 

Es unterscheidet sich von den unzähligen Kochvideos, die täglich in den Feeds auftauchen, geliked oder weggewischt werden. Renads Videos werden angeschaut, kommentiert und oft geteilt, weil die Zehnjährige aus Deir Al-Balah im Gazastreifen seit über einem Jahr ihren Alltag im Krieg dokumentiert. Bekannte Videoformate, die in den sozialen Medien generell gut funktionieren, ermöglichen in dieser Ausnahmesituation plötzlich ganz besondere Einblicke.

 

Kinder und Jugendliche in Gaza
Renads Videos werden angeschaut, kommentiert und oft geteilt, weil die Zehnjährige aus Deir Al-Balah im Gazastreifen seit über einem Jahr ihren Alltag im Krieg dokumentiert.

 

»Unboxing« beschreibt ein beliebtes Format, bei dem Pakete vor laufender Kamera ausgepackt werden. Bei Renad sind es Kisten mit Hilfsgütern aus der Türkei. In kurzen Posts kündigt sie die nächsten Rezepte an und thematisiert in ihren Kochvideos die alltäglichen Probleme, mit denen die Menschen in Gaza zu kämpfen haben. Zum Beispiel die extrem hohen Preise für die wenigen Lebensmittel, die es noch zu kaufen gibt, oder den schwierigen Zugang zu sauberem Wasser.

 

Der Hintergrund der fröhlich anmutenden Kochvideos von Renad könnte dramatischer kaum sein: Selbst das US-Außenministerium sprach im März 2024 von einer Hungersnot im Norden Gazas. Nach UN-Angaben vom Juli letzten Jahres leiden fast alle Menschen dort an Unterernährung und akuter Ernährungsunsicherheit. Auch die Haftbefehle gegen Benjamin Netanyahu und Yoav Gallant, die der Internationale Strafgerichtshof im November 2024 erließ, stützen sich vor allem auf den Vorwurf, »vorsätzlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen lebensnotwendige Güter, einschließlich Nahrung und Wasser, vorenthalten zu haben«.

 

Renad ist für viele Menschen zu einer Begleiterin in den sozialen Medien geworden. Instagram-Profile wie ihres sind Fenster, durch die die Welt den Alltag der Palästinenser in Gaza verfolgen kann. Wie so oft in den sozialen Medien entsteht ein Gefühl der Vertrautheit, der Vorfreude auf neue Posts und – das unterscheidet Renad und andere wohl am meisten von sonstigen Influencern – der Hoffnung, dass sie überhaupt noch am Leben sein werden.

 

Gleichzeitig ist das bewusste Aufrufen von Tiktoks aus Gaza ein Akt der Solidarität mit den Menschen vor Ort

 

Soziale Medien dienen darüber hinaus auch als wichtige Informationsquelle, da Journalisten der Zugang nach Gaza entweder nur in Begleitung der israelischen Armee möglich ist – oder gänzlich verwehrt wird. Gleichzeitig ist das bewusste Aufrufen von Tiktoks aus Gaza ein Akt der Solidarität mit den Menschen dort. Sie bitten ihre Zuschauer, nicht weiterzuscrollen, um die Reichweite der Videos zu erhöhen. Mit dem kriegsbedingten Zusammenbruch der Wirtschaft sind Einnahmen aus sozialen Medien und Spenden über das Internet für viele Menschen zur einzigen Möglichkeit geworden, Geld zu verdienen.

 

Die weltweite Debatte über den Gaza-Krieg wird auch auf Instagram, Tiktok und Co. vehement geführt. Das Wassermelonen-Emoji – die Farben der Wassermelone ähneln denen der palästinensischen Flagge – ist zum Erkennungszeichen einer solidarischen Haltung geworden.

 

Es wird auch genutzt, um eine befürchtete Zensur der Plattformen zu umgehen, die – wie ein Bericht von Human Rights Watch vom Dezember 2023 zeigt – oft automatisiert erfolgt und Kommentare wie »Free Palestine« als »unerwünschte Inhalte« markiert. Wenig überraschte die Kritik aus dem konservativen Lager, etwa in den USA, an der jugendlichen Gaza Solidarität.

 

Sie reichte bis zu der von republikanischen Politikern häufig wiederholten Behauptung, Tiktok betreibe mit pro-palästinensischen Inhalten eine »Gehirnwäsche« bei Jugendlichen. Solche Äußerungen führten dazu, dass schnell die Vermutung aufkam, die Solidaritätswelle für die Menschen in Gaza auf Tiktok könnte einer der Gründe für das diskutierte Verbot der chinesischen Videoplattform in den USA sein.

 

Sie dokumentierten die ersten Nahrungsengpässe, die Vertreibungen aus Nord-Gaza und die Offensive auf Rafah

 

»Wir teilen unseren Alltag in einem Kriegsgebiet – Tag Nummer X«. Diesen charakteristischen Video-Einstieg kennt wohl jeder, der den Gaza-Krieg schon einmal in seiner Timeline gesehen hat. So beginnen die Videos der »omarherzshow«, eines der bekanntesten Instagram-Profile, das von den beiden Freunden Muhammad und Omar betrieben wird. Die Videos auf ihrem Kanal werden regelmäßig von mehr als einer Million Menschen angeklickt.

 

Eigentlich sollten die beiden jetzt für ihre Zwischenprüfungen an der Uni lernen. Doch daraus wurde nichts. Heute sind ihre Videos nicht ein an die Welt gerichtetes »Seht her, wir sind noch da«, sondern für die beiden Influencer auch ein Weg, mit dem Krieg und der Zerstörung umzugehen.

 

Die Instagram-Seite von Omar und Muhammad wurde zur Timeline des Krieges. Sie dokumentierten die erste Lebensmittelknappheit, die Vertreibungen aus dem Norden und die Offensive auf Rafah. In einem Video, das kurz nach Inkrafttreten des Waffenstillstands im Januar 2025 veröffentlicht wurde, zeigen sie ihre hoffnungsvolle Rückkehr in ihre Heimat Nord-Gaza. Die Reise endet auf einem Trümmerhaufen, der einmal ihr Zuhause war, und mit dem Versprechen: »Wir werden es wieder aufbauen«.

Von: 
Felix Haschen

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.