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Kurz erklärt: Studentenproteste in Bangladesch

Das steckt hinter der Gewalt in Bangladesch

Analyse
von Leo Wigger
Kurz erklärt: Studentenproteste in Bangladesch
Wikimedia Commons / Rayhan9d

In Bangladesch demonstrieren Studenten für ein menschenwürdiges Leben. Doch die Regierung schlägt mit massiver Gewalt zurück. Die Regierung von Sheikh Hasina steht nun am Abgrund.

Was ist passiert?

Bei schweren Zusammenstößen von Studierenden, die gegen ein Quotensystem im öffentlichen Dienst protestieren, und Sicherheitskräften sind allein am Donnerstag nach Angaben von AFP mindestens 32 Menschen ums Leben gekommen, darunter auch ein mindestens ein Journalist. Hunderte wurden verletzt. Die Polizeieinheiten gingen mit Tränengas, Stöcken und Gummigeschossen gegen die Studenten vor. Augenzeugen berichten vereinzelt auch vom Einsatz scharfer Munition. Verletzte berichten teilweise davon, von Krankenhäusern abgewiesen worden zu sein.

 

Die Lage ist aktuell unübersichtlich. Das mobile Internet und ab Donnerstagabend selbst das Festnetz wurden vollständig abgeschaltet. Auch das nationale Fernsehen sendet nicht. Das Hauptgebäude des Fernsehsenders BTV brannte aus. Informationen dringen somit nur langsam nach außen. Am Freitag waren mehrere Webseiten der Regierung, unter anderem des Büros der Ministerpräsidentin, nicht regulär abrufbar und unter der Kontrolle von Hackern, die ein Ende der tödlichen Gewalt gegen Studierende forderten. Videoaufnahmen zeigen Feuer an mehreren zentralen Stellen der Hauptstadt Dhaka und weitere schwere Zusammenstöße, im Laufe des Freitags. Schon in den letzten Tagen waren landesweit schwere Proteste und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Studierendengruppen, der Anti-Quoten-Bewegung auf der einen Seite und der Chhatra-Liga, dem Studentenarm der Regierungspartei Awami-Liga, ausgebrochen, bei der bis Mittwoch sieben Menschen ums Leben gekommen waren.

 

Die Proteste entzündenden sich an einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, der Anfang des Monats die Wiedereinführung von Quoten für Regierungsstellen angeordnet hatte. Das Quotensystem war erst 2018 nach massiven Studentenprotesten abgeschafft worden. Am Mittwoch forderte Premierministerin Sheikh Hasina die Demonstranten auf, Vertrauen in den Obersten Gerichtshof des Landes zu haben, der im nächsten Monat eine neue Entscheidung über das Quotensystem fällen soll.

 

Die bislang friedlichen Proteste nahmen an Fahrt auf, als Hasina die Demonstranten in einer Pressekonferenz am Sonntag indirekt als »Razakars« bezeichnete. Der Begriff bedeutet in etwa »Landesverräter« und bezieht sich auf diejenigen, die Bangladesch im Unabhängigkeitskrieg 1971 mit Pakistan kollaborierten. Zudem sorgten unter der Woche Bilder von Misshandlungen weiblicher Protestierender in den sozialen Medien mutmaßlich durch Angehörige der Chhatra Liga für Empörung und heizten die Proteste weiter an.Das Auswärtige Amt in Berlin forderte in einem Statement am Freitag alle beteiligten Akteure zur Mäßigung und sofortigen Beendigung der Gewalt auf. Alle Gewaltakte müssten untersucht und Täter vor Gericht gestellt werden. Auch die EU zeigte sicht besorgt. 

 

Worum geht es eigentlich?

Bangladesch hat in den letzten Jahren zwar ein starkes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, die extrem junge Bevölkerung (Durchschnittsalter 27 Jahre) leidet aber unter hoher Jugendarbeitslosigkeit und allgemeiner Perspektivlosigkeit in einem verkrusteten System. Das Kabinett der in einer umstrittenen Wahl unter Ausschluss der größten Oppositionspartei BNP Anfang des Jahres wiedergewählten Regierung der Awami-Liga von Ministerpräsidentin Sheikha Hasina ist im Durchschnitt 69 Jahre alt. Aus Mangel an Jobs und Karrieremöglichkeiten streben die meisten Universitätsabsolventen eine Karriere im öffentlichen Dienst an. Und hier kommt die Quote in Spiel.

 

Denn sie sieht vor, dass 56 Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst sind für bestimmte Gruppen reserviert sind, zum Beispiel für Frauen oder ethnische Minderheiten. Im Zentrum der jetzigen Kontroverse stehen die 30 Prozent der staatlichen Stellen, die für Familienangehörige von Veteranen reserviert sind, die 1971 im Befreiungskrieg gegen Pakistan gekämpft haben. Die »Freiheitskämpfer« haben in Bangladesch eine herausgehobene Stellung angesichts der Schrecken des Unabhängigkeitskrieges. Ihre Verdienste würden wohl nur wenige Studierende in Frage stellen. Stein des Anstoßes ist vielmehr, dass nun aber mehr als 50 Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg ihre Enkel und Urenkel qua Geburt wieder mit diesem strukturellen Vorteil bedacht werden sollen. Schätzungen gehen davon aus, dass die Gruppe der berechtigten Nachkommen nur aus wenigen hunderttausend Menschen bestehen dürfte. Zudem gilt das System zur Ausstellung der Nachkommensnachweise als korrupt.

 

Bemerkenswert ist auch die Demografie der Proteste. Demonstrationen fanden überall im Land statt, aber einige der schlimmsten Gewaltexzesse ereigneten sich an Eliteuniversitäten wie BRAC, Dhaka University oder Jahangirnagar. Es ist gerade auch die Bildungselite des Landes, die nun auf die Straße geht. Die Angehörigen der Demonstranten müssen nun eine bisher kaum vorstellbare Eskalation verarbeiten. Menschen, die in der hochpolarisierten politischen Gemengelage zwischen der Regierung und der oppositionellen BNP, die regierende Awami-Liga unter Sheikh Hasina bislang nicht selten als das humanere von zwei Übeln sahen.

 

Doch nun brennen die Straßen auch in Gegenden wie dem schicken Dhanmondi, das eigentlich als eine Hochburg der Regierung gilt. Immer stärker richten sich die Proteste, die bislang gegen eine spezifische Politik, aber nicht gegen das System an sich gerichtet waren, nun auch gegen Sheikh Hasina selbst. Die Gewalt der Sicherheitskräfte hat zu einer Radikalisierung der Studierenden geführt, die ursprünglich der Wunsch nach einem menschenwürdigen Leben, nach stabilen Jobs und Perspektiven auf die Straße getrieben hatte.

 

Wie geht es weiter?

Die Taktik der Sicherheitskräfte, die Proteste durch massive Gewalteinwendung klein zu halten, ist bisher nicht aufgegangen. Im Gegenteil. Sie hat eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt, die das Land und die Regierung nun an den Rand des Abgrunds geführt hat. Selbst wenn es Hasina kurzfristig gelingen sollte, die Proteste unter großem Gewalteinsatz zu unterdrücken. Kompromissbereitschaft und Abrüstung – rhetorisch und auf der Straße – wären nötig, um die Lage mittelfristig zu stabilisieren.

 

Dafür müsste die tieferliegende Legitimationskrise des politischen Systems, die Straflosigkeit der derzeitigen Gewaltexzesse durch regierungstreue Sicherheitskräfte und vor allem die Perspektivlosigkeit und Jobkrise der Jugend angegangen werden. Nun wird sich zeigen, ob die Politikerin, die in der Vergangenheit immer wieder erbarmungslos gegen ihre politischen Feinde vorgegangen ist, dazu willens oder in der Lage ist. Ebenso inwieweit das Militär, das derzeit anders als in der Vergangenheit keine aktive politische Rolle mehr spielt, weiterhin stillhält. Insbesondere, weil die Polizei bei ihren Gewaltexzessen auch vor Studenten von Bildungseinrichtungen des Militärs nicht Halt machten.

Von: 
Leo Wigger

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