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Eskalation zwischen Indien und Pakistan

Einen Krieg in Südasien kann niemand gebrauchen

Analyse
Kurz erklärt: Neue Krise in Kaschmir
Indische Sicherheitskräfte in Srinagar, der Hauptstadt der Provinz Jammu und Kaschmir Sclarkson / lizensiert gemäß Wikimedia Commons

Noch konnte nach dem Anschlag von Pahalgam ein offener Krieg zwischen Indien und Pakistan verhindert werden. Die Krise verdeutlicht, warum Südasien dringend einen neuen Mechanismus zur Konfliktbeilegung braucht – und beide Seiten endlich direkt miteinander reden müssen.

Indien und Pakistan stehen seit zwei Wochen am Rande eines Krieges. Indien, das größere und stärkere der beiden Länder, droht mit massiven Militärschlägen. Ausgelöst wurde die Krise durch einen Terroranschlag im Ferienort Pahalgam in Jammu und Kaschmir. Sowohl Indien als auch Pakistan beanspruchen die Provinz in seiner Gesamtheit, kontrollieren aber jeweils unterschiedliche Teile davon.

 

Obwohl seit dem Aufstieg beider Staaten zu Atommächten größere Kriege vermieden werden konnten, brechen immer wieder kriegsähnliche Krisen aus. Der von Indien verwaltete Teil Kaschmirs ist von Unruhen geprägt, wobei Indien Pakistan beschuldigt, militante Gruppen zu unterstützen und Instabilität zu verursachen. Pakistan seinerseits behauptet, Indien blockiere die Konfliktbeilegung im Einklang mit den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die unter bestimmten Umständen ein Plebiszit vorsehen. Stattdessen behaupten indische Regierungsvertreter nun, das von Neu-Delhi kontrollierte Gebiet stehe in den Verhandlungen mit Pakistan überhaupt nicht mehr zur Disposition.

 

Die Folgen des Anschlags von Pahalgam markieren den insgesamt siebten Moment erhöhter Spannungen zwischen den beiden Nachbarn im Zeitalter der gegenseitigen nuklearen Abschreckung. Drei Faktoren machten die Krise von Anfang an zur schwerwiegendsten der letzten Jahre.

 

Erstens mangelt es Indien und Pakistan auch zweieinhalb Jahrzehnte nach ihren Atomtests im Jahr 1998 noch immer an robusten bilateralen Mechanismen zum Krisenmanagement – und das ist einzigartig in Südasien. Stattdessen setzen beide Staaten jedes Mal auf Drittparteien, um eine massive Eskalation zu vermeiden. Die USA führten die internationale Krisendiplomatie typischerweise an und koordinierten sich mit anderen einflussreichen Akteuren in Indien und Pakistan. Dieses Modell funktionierte zwar bemerkenswert gut, da die Amerikaner sich als Mittler positionierten und beiden Seiten Anreize beziehungsweise Garantien für eine Deeskalation boten.

 

Die derzeitige zivile und militärische Führung Pakistans ist der Ansicht, dass Pakistans Dialogangebote von Indien als Zeichen der Schwäche interpretiert wurden

 

Doch während der letzten Krise im Jahr 2019 – ebenfalls ausgelöst durch einen Terroranschlag in Kaschmir – stellten Washington (und einige andere westliche Hauptstädte) ihre geopolitische Ausrichtung auf Indien über das unmittelbare Ziel der Krisendeeskalation. Die USA spielten, vielleicht unwissentlich, dem Bedürfnis der indischen Regierung in die Hände, Stärke zu demonstrieren. Derart ermutigt, ließ eine Atommacht Luftangriffe gegen eine andere fliegen – in der Hoffnung, die USA würden Pakistan von einer Reaktion abhalten. Pakistan reagierte dann aber doch. Die Luftabwehr schoss ein Kampfflugzeig ab und nahm den indischen Piloten gefangen – die folgenden Verhandlungen zur Freilassung brachten dann wieder die Drittparteien ins Spiel, die schließlich den Druck erhöhten, um die Lage zu deeskalieren.

 

Beim Blick auf die derzeitige Krise bereitet besonders die Ungewissheit Sorge, wie die USA und andere Drittparteien reagieren – und ob Indien ähnlich wie vor sechs Jahren wieder auf eine militärische Reaktion setzt, allerdings in einem viel größeren Maßstab.

 

Zweitens brach die Pahalgam-Krise zu einem Zeitpunkt aus, an dem die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan einen neuen Tiefpunkt erreicht haben. Geprägt von der religiös-nationalistischen Hindutva-Ideologie, die Indien als explizit hinduistisch dominiertes Land betrachtet, hat die politische Rhetorik in den vergangenen Jahren tiefen Hass auf Pakistan in der öffentlichen Wahrnehmung geschürt. Pakistan wird oft auf das Bild eines geschwächten Landes reduziert, das Terrorismus exportiert. In den letzten Jahren forderten mehrere indische Offizielle und politische Führer mit Verbindungen zur regierenden BJP-Partei von Premier Narendra Modi sogar die gewaltsame Aneignung des pakistanisch kontrollierten Teils Kaschmirs.

 

Drittens hat sich auch die Stimmung in Pakistan seit der letzten Krise 2019 verändert. Damals schienen die Verantwortlichen noch an einen Dialog mit Indien zu glauben, um ihre übergeordnete Vision von wirtschaftlichem Wohlstand zu verwirklichen, für die eine Integration in die regionalen Volkswirtschaften notwendig ist. Die derzeitige zivile und militärische Führung Pakistans ist jedoch der Ansicht, dass Pakistans Dialogangebote von Indien als Zeichen der Schwäche interpretiert wurden. In Islamabad herrscht nun eine »Genug ist genug«-Stimmung, und es besteht Einigkeit darüber, dass jegliche indische Militäraktion mit gleicher Münze beantwortet werden sollte.

 

Narendra Modi hat die Stimmungslage in der internationalen Gemeinschaft falsch eingeschätzt

 

All diese Faktoren spielten in der vergangenen Woche eine Rolle. Die Kriegsbegeisterung in Indien ging mit dem deutlichen Gefühl einher, dass Neu-Delhi trotz der gegenseitigen nuklearen Abschreckung über echte militärische Optionen gegen Pakistan verfügt. Indien verhing zudem erhebliche Strafmaßnahmen und setzte etwa den 1960 von der Weltbank vermittelten Indus-Wasservertrag aus, der lebensnotwendig für Pakistans Versorgung ist. Islamabad reagierte umgehend mit militärischen Vorbereitungen und drohte gleichzeitig mit der Aussetzung des Simla-Abkommens, das den derzeitigen Status Quo Kaschmirs ebenso festschreibt wie das gegenseitige Bekenntnis, bilaterale Konflikte auf friedlichen Weg zu lösen.

 

Trotz dieser beispiellos destruktiven Umstände ist ein offener Krieg im Zuge der Pahalgam-Krise jedoch noch nicht ausgebrochen – nicht zuletzt, weil Narendra Modi die Stimmungslage in der internationalen Gemeinschaft falsch eingeschätzt hat. Seine gesamte Krisenstrategie schien auf darauf zu bauen, dass die USA (und der Westen insgesamt) eine militärische Reaktion Indiens begrüßen würden – und sogar als präventives Mittel zur Verhinderung einer noch größeren Eskalation betrachten würden. Stattdessen schlug sich die internationale Gemeinschaft nicht auf Neu-Delhis Seite beziehungsweise zeigte sich nicht willens, sich überhaupt festzulegen. US-Präsident Donald Trump signalisierte seine mangelnde Bereitschaft zu einer Intervention, während alle anderen Staaten mit Einfluss auf Südasien lediglich zur Zurückhaltung aufriefen – im Wesentlichen agierten sie damit so wie auch schon in früheren Krisen.

 

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Pahalgam-Krise überstanden ist. Selbst die geringste militärische Aktion seitens Indien oder ein Missverständnis auf beiden Seiten könnte Feindseligkeiten auslösen. Da weiterhin keine direkten Möglichkeiten zur Krisenbeilegung zwischen den Nachbarn bestehen, muss die internationale Gemeinschaft wachsam bleiben und die ausdrückliche Ablehnung eines Krieges aufrechterhalten.

 

Letztendlich bleibt die viel größere Herausforderung: Indien und Pakistan dazu zu bewegen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, um ihre Probleme auf friedlichem Weg zu lösen. Es gibt keinen anderen Weg für Südasien, seinen zweifelhaften Ruf als potenzielles nukleares Pulverfass loszuwerden, und für die gesamte Region – derzeit die wirtschaftlich am wenigsten integrierte der Welt – voranzukommen. Die zwei Milliarden Südasiaten haben Besseres verdient, als der gefährlichen Rivalität zwischen Indien und Pakistan ausgeliefert zu sein.



Eskalation zwischen Indien und Pakistan

Moeed Yusuf ist ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater Pakistans und derzeit Präsident der Beaconhouse National University in Lahore.

Von: 
Moeed Yusuf

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