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Der Streit rund und innerhalb der DAVO

Nahostwissenschaft und Medien

Analyse
Uni-Besatzung gegen Genozid: Auch der Campus ist längst ein Nebenschauplatz des Nahostkonflikts.
Foto: anonym

Kaum eine Disziplin wird derart zwischen wissenschaftlichen Anspruch und politischen Erwartungsdruck aufgerieben wie die Nahostwissenschaften. Auch im Fachverband der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (DAVO) rumort es. Der Burgfrieden ist zu Ende – und der Vorstand neu gewählt. Wie politisch darf ein Fach sein?

Ein formaler Tagesordnungspunkt reicht, um einen jahrelang schwelenden Streit in den deutschen Nahostwissenschaften endgültig zum Ausbruch zu bringen. Schon in den letzten beiden Jahren diskutierten junge und etablierte Forschende hitzig über die Einrichtung eines neuen Gremiums innerhalb der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (DAVO). Das »Gremium für Wissenschaftsfreiheit« (GfW) stürzt die Nahostwissenschaft in einen offenen Richtungstreit. Inzwischen ist der Vorstand zurückgetreten, ein neuer gewählt und das Gremium installiert – doch die Diskussion über die Rolle der Nahostwissenschaften ist damit noch längst nicht vom Tisch.

Denn der Nahostkonflikt wirft auch in der Fachschaft grundsätzliche Fragen auf: zur Legitimität akademischer Boykotte, zur Deutungshoheit über Wissenschaftsfreiheit und zum Selbstverständnis der (Nahost-)Wissenschaften in einer Zeit, in der die Geistes- wie Sozialwissenschaften ihren gesellschaftlichen Mehrwert stets von neuem beweisen müssen. Während politischer Aktivismus zuvor meist von Studierenden selbst ausging und Wissenschaftler nur vereinzelt öffentliche politische Einordnungen formulierten, steht nun der gesamte Fachverband deutscher Nahostwissenschaftler, die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (DAVO), im Scheinwerferlicht der öffentlichen Debatte.

Am 1. November teilte der zu diesem Zeitpunkt bereits ehemalige Vorsitzende Günter Meyer einen Artikel der WELT vom 27.10. über die DAVO-Verteilerliste. Dessen vielsagender Titel – »Ruf nach Israel-Boykott – Wie sich deutsche Nahostwissenschaftler gegen den jüdischen Staat stellen« – kann wohl als eine Art Abschiedsgruß an den neuen Vorstand verstanden werden, auch wenn Meyer dies später zurückwies. Der Artikel selbst, der mit Polemik nicht geizt, spricht von »Anti-Israel-Aktivisten« an der Spitze des Verbands und beklagt ein »zunehmend antisemitisches Klima«.

Nicht weniger polemisch, wenn auch nuancierter, schreibt Johannes Becke, Professor für Israel- und Nahoststudien in Heidelberg und selbst DAVO-Mitglied, wenig später in einem Beitrag für die FAZ von den Nahoststudien »im Griff des Aktivismus«, die sich in einer ideologischen »Echokammer« befinde. Er bedauert darin die Entwicklung der Nahoststudien von einer ehemals philologisch-historischen Disziplin hin zu einem aktivistischen Forschungsfeld. Die Diskussionen, so Becke, münden inzwischen in zugespitzten Phrasen anstatt wissenschaftlicher Betrachtung. Stattdessen plädiert Becke für Methoden- und Meinungspluralismus.

Und tatsächlich deutet der Trend auf eine zunehmende Abkopplung einzelner Teildisziplinen aus dem Blumenstrauß der Nahoststudien hin zu eigenständigen, kleineren Verbänden – etwa der Gesellschaft für Turkologie, Osmanistik und Türkeiforschung (GTOT). Gleichzeitig sind im DAVO-Vorstand heute weniger klassische (Teil-)Disziplinen wie VWL (Vorsitzende Christine Binzel), Politikwissenschaften (stellvertretende Vorsitzende Hanna Al-Taher) und Global Health (Schriftführerin Hanna Kienzler) vertreten.

Der Konflikt ist nicht nur von den Differenzen zwischen angelsächsischer und deutschsprachiger Wissenschaftstradition geprägt, sondern verläuft auch entlang generationeller Trennlinie. Heutige Studierende, zum Beispiel der Arabistik oder Islamwissenschaft, treten ihr Studium mit anderen, politisierteren Erwartungen an – und das nicht erst seit dem Gaza-Krieg. Bereits 2008 verwiesen Abbas Poya und Maurus Reinkowski auf eine wachsende öffentliche Nachfrage und die damit verbundenen »islamwissenschaftlichen Wachstumsschmerzen« – wohlgemerkt vor dem Arabischen Frühling, der Flüchtlingswelle 2015 oder dem Erstarken der AfD und ihrer islamophoben Agenda. Auch Johannes Becke erkennt die politische Relevanz der Nahostwissenschaften und ihren gesellschaftlichen Auftrag an. Für Becke besteht dieser jedoch darin, »kontroverse Themen aus möglichst vielen Blickwinkeln zu beleuchten«. Die Frage ist deshalb vielleicht weniger, ob, sondern wie sich die Nahostwissenschaften im Lichte aktueller und zukünftiger Krisen ausrichten sollten.

Mit der Wahl eines neuen Vorstands am 10. September, nachdem der vorherige wie angedroht geschlossen zurücktat, ist zumindest eine Richtung in der DAVO gesetzt: So fordert die amtierende Vorsitzende und Ökonomin Christine Binzel mit der Unterstützung der Uppsala-Erklärung einen institutionellen Boykott Israels. Vorstandsmitglied Hanna Al-Taher wiederum kommentierte den 7. Oktober mit den Worten «Ausbruch, Rückkehr, Freiheit«. Auch wenn diese Aufrufe weder in amtlicher Funktion erklärt wurden, noch repräsentativ für die DAVO sind: Die Positioniering des neuen Vorstands zu Palästina hatte bei dessen Wahl sicher eine Rolle gespielt.

Auch das neu geschaffene GfW muss man unter dem Gesichtspunkt der Palästina-Solidarität betrachten. Laut Website ist das Ziel, die akademische Freiheit in Forschung, Studium und Lehre zu verteidigen. So stellte sich das Gremium gegen zwei kurz aufeinanderfolgende Absagen wissenschaftlicher Veranstaltungen, die sich mit dem Thema Israel/Palästina beschäftigen, einmal am Collège de France, dann an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In den Tagen vor der Absage hatten Vertreter des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrer sowie mehrere CSU-Politiker öffentlich Kritik geäußert, insbesondere an den palästinensischen Referenten. Das GfW hingegen kritisiert die Praxis, wissenschaftliche Standards noch vor einer Diskussion zu diskreditieren, und sieht im Vorwurf der Politisierung von Wissenschaft ein strategisches Argument, das tatsächlichen politisch motivierten Eingriffen Tür und Tor öffnet.

Damit stellt sich erneut die Frage, was für die Nahostwissenschaften eigentlich auf dem Spiel steht: Droht eine thematische Verengung, oder handelt es sich um eine notwendige Reaktion auf die zunehmende Einflussnahme politischer und staatlicher Akteure? GfW-Mitglied Ilyas Saliba spricht von einer »reaktiven Maßnahme« in Bezug auf die Gründung des Gremiums, um angesichts zunehmender Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit Sprech- und Handlungsfähigkeit zu garantieren. »Es ist nicht die Aufgabe des GfW, tagtäglich zu diskutieren, ob es sich in Gaza um einen Genozid handele«, so Saliba gegenüber zenith. »Stattdessen reagiert das GfW auf die Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit von Nahostwissenschaftler:innen – nicht andersherum.«

Augenscheinlich sah sich das Gremium bisher am meisten dort gefragt, wo es um die Abwertung (pro-)palästinensischer Stimmen ging – die gezielte Zerstörung und Unterdrückung von Bildungseinrichtungen und akademischer Tätigkeit. Anders Johannes Becke, der israelische Stimmen als die derzeit »vulnerabelste Wissenschaftscommunity« betrachtet, und von einer »Obsession angelsächsischer und zunehmend deutscher Wissenschaftler mit dem Nahostkonflikt« spricht. Auffällig ist zudem, dass in der Vergangenheit durchaus umstrittene Äußerungen des langjährigen Vorsitzenden Günter Meyer – etwa zum Einsatz chemischer Waffen durch das Assad-Regime – außerhalb der Fachwelt kaum Widerhall fanden.

Erst die Einschätzungen des neuen Vorstands zum Krieg in Gaza rücken die DAVO in den Mittelpunkt medialer Skandalisierung. Es stellt sich daher die Frage, wer hier eigentlich vom Nahostkonflikt besessen ist. Gerade deshalb müssen diese Debatten über die inhaltliche Ausrichtung der Nahoststudien aus der Wissenschaft selbst herausgeführt werden, nicht von Leitartiklern oder politischen Akteuren.

Klar ist: Viele Mitglieder wünschten sich einen Neuanfang innerhalb der DAVO. Doch inmitten der medial medial aufgeheizten Debtatte drohen die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der DAVO zu einem ausufernden Streit zu werden. Dabei liegen die Positionen möglicherweise näher beieinander, als viele Beteiligte annehmen. Der Mehrheit dürfte es nach wie vor an einem freien aber auch pluralen wissenschaftlichen Austausch gelegen sein.

Denn Kooperation ist und bleibt im Sinne der Disziplin. Ansonsten droht ein politisch motivierter Rückschlag – wie er im Streit zwischen der Trump-Regierung und US-Universitäten sichtbar wurde. Die Nahostwissenschaften sollten dabei weiterhin versuchen, Perspektiven zu stärken, die zu einer Konfliktlösung beitragen. Gerade hier sieht Johannes Becke Potenzial: »Die enge Verzahnung von Judaistik und Islamwissenschaft an vielen Standorten bietet der deutschsprachigen Nahostforschung die Möglichkeit, Brücken zu bauen.«

Von: 
Philipp Hanke

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