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Waffenstillstand zwischen Indien und Pakistan

Zeit für Krisenprävention im Südasienkonflikt

Kommentar
Waffenstillstand zwischen Indien und Pakistan
Grenzübergang nach Indien in Wagah Koshyk / Flickr

Der Waffenstillstand vom 10. Mai zwischen Pakistan und Indien hat zwar die unmittelbaren Feindseligkeiten für den Moment gestoppt. Dennoch sind weitere Krisen vorprogrammiert – nicht zuletzt, weil Indiens Pakistan-Politik eben darauf angelegt ist.

Im indischen Staatsfernsehen erklärte Narendra Modi, Indien habe seine Operationen gegen Pakistan nur vorübergehend eingestellt. Das Statement mag zwar in erster Linie für die Heimatfront gedacht gewesen sein, verdeutlicht aber dennoch, wie Neu-Delhi die Parameter der Auseinandersetzung verschoben hat.

 

Dieser Kurswechsel begann vor knapp einem Jahrzehnt. Am 29. September 2016 hatten Teams der indischen Spezialeinheiten die Kontrolllinie im pakistanisch verwalteten Kaschmir überquert, um Ziele im Umkreis von bis zu einem Kilometer anzugreifen. Die Operation erfolgte damals in Reaktion auf den Angriff auf einen Außenposten der indischen Armee in Uri im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Damals verwendete die Regierung Modi erstmals die Bezeichnung »Präzisionsschlag« für begrenzte Militärschläge gegen den Nachbarn. Der Begriff sollte Indiens Entschlossenheit zum Ausdruck bringen soll, Pakistan der gegenseitigen nuklearen Abschreckung zum Trotz militärisch zu bestrafen.

 

Die Gefahr einer solchen Politik liegt auf der Hand. Selbst eine begrenzte Eskalation wird durch den Einsatz tödlicherer Waffensysteme sowie durch die Ausweitung der Ziele nicht ohne Weiteres unberechenbar. Dieses Mal überschritt Indien mehrere rote Linien. Man wählte Ziele im Punjab, also dem Kernland Pakistans, und setzte unbemannte Kampfflugzeuge, Lenkwaffen und Marschflugkörper ein. Im Gegenzug traf die pakistanische Luftwaffe mehrere indische Kampfflugzeuge, darunter mindestens einen französischen Rafale-Kampfjet. Pakistans behauptet zudem, das Zielradar eines russischen S-400-Bodenabwehrsystems zerstört zu haben.

 

Der Zwischenfall am Ussuri im Jahr 1969 ist das einzige Beispiel für einen solchen direkten konventionellen Konflikt zwischen zwei Atommächten

 

Der entscheidende Punkt ist hier nicht, welche Kriegspartei welche Waffensysteme des Gegners ausgeschaltet hat. Es geht um den Charakter der dreieinhalb Tage andauernden Kämpfe. Denn die Eskalationsdynamik läuft den gängigen Annahmen über Konflikte zwischen Atommächten zuwider.

 

Der Zwischenfall am Ussuri im Jahr 1969 ist das einzige Beispiel für einen solchen direkten konventionellen Konflikt. Doch diese Auseinandersetzung Konflikt zwischen China und der Sowjetunion war begrenzt, weil China nicht über das heutige Atomwaffenarsenal verfügte und darüber hinaus keine der beiden Seiten den Konflikt über die Grenzinsel Zhenbao Dao hinaus eskalieren wollte.

 

Während des Kalten Krieges war das Thema konventionelle Kriegsführung vor dem Hintergrund nuklearer Arsenale zentral. Mitunter stand sogar die Frage im Raum, ob ein begrenzter Atomkrieg geführt und gewonnen werden könne, ohne die Gegenseite zu massiven Gegenmaßnahmen zu zwingen. Die Kubakrise 1962 spielte eine wichtige Rolle bei der Etablierung der  gegenseitigen Abschreckung, indem sie die Risiken einer Eskalation verdeutlichte und die Bedeutung von Kommunikations- und vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen den USA und der UdSSR hervorhob. Auf diese Weise trug die Krise zu einem geteilten, aber vergleichsweise stabilen Zentrum in Mitteleuropa bei. Während die Peripherie durch Stellvertreterkriege destabilisiert wurde, blieb das Zentrum aufgrund der Pattsituation ruhig.

 

Es geht nicht darum, dass eine Seite zu Atomwaffen greifen würde, sondern dass diese Option vorhanden ist und eine Eskalationsspirale bis ganz nach oben führen könnte, wenn sich eine Seite in ihrer Existenz bedroht fühlt

 

Zwischen Pakistan und Indien gibt es keine solche Peripherie. Das gesamte Gebiet ist das Zentrum. Indiens Politik ist auf Eskalation ausgerichtet – das heißt der Ausgangspunkt jedes neuen Konflikts liegt naturgemäß in der indischen Rhetorik auf einer höheren Eskalationsstufe. Es geht nicht darum, dass eine Seite zu Atomwaffen greifen würde, sondern dass diese Option vorhanden ist und eine Eskalationsspirale bis ganz nach oben führen könnte, wenn sich eine Seite in ihrer Existenz bedroht fühlt.

 

Modis Politik basiert auf zwei Säulen. Die erste ist der Hindu-Nationalismus, verkörpert in der Hindutva-Ideologie, die eine klare Vorrangstellung gegenüber allen anderen Religionen definiert. Damit einher geht Modis Überzeugung, Pakistan müsse unterworfen und Indiens regionale Hegemonie etabliert werden. Diese Politik erhielt zusätzlich Auftrieb durch Washingtons Versuch, Indien als zentralen Sicherheitsgaranten in der Region und als Gegengewicht zu China zu stärken. Modi nutzt diese Säulen, um Indiens muslimische Bevölkerung und den Rivalen Pakistan direkt miteinander in Verbindung zu setzen – und letztlich so die Verfolgung der indischen Muslime zu rechtfertigen.

 

Der einzige Weg, Konflikte zwischen Pakistan und Indien künftig zu verhindern, besteht darin, dass sich die internationale Gemeinschaft mit der Frage beschäftigt, wodurch diese Krisen verursacht werden. Im Kern liegt Kaschmir beziehungsweise die Weigerung und Indiens, die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates anzuerkennen, die eine Volksabstimmung zur Klärung des Status der Region vorsieht. Solange die Kaschmir-Frage nicht angegangen wird, werden Kaschmiris angesichts der staatlichen Repressionen Indiens auch künftig auf Gewalt zurückgreifen und so die kommenden Krisen auslösen. Die aktuelle Krise hat gezeigt, dass die Präventivschlag-Logik eben erst solche Gruppen wie die Täter von Pahalgam auf den Plan ruft und es ihnen ermöglicht, beide Staaten in einen Krieg zu verwickeln.

 

Nach dem Anschlag in Pahalgam lehnte Indien Pakistans Kooperationsangebot für eine gemeinsame Untersuchung ab, entschied sich stattdessen für Angriffe auf Ziele in Pakistan und setzte die gesamte Region den Folgen einer Eskalation aus. Die Vermittlungsbemühungen der internationalen Gemeinschaft konzentrierten sich bisher auf Krisenmanagement und Stabilisierung. Es ist an der Zeit, sich der Krisenprävention zuzuwenden. Dies erfordert erhebliche diplomatische Investitionen, um beide Seiten, insbesondere Indien, zu substanziellen Gesprächen an den Verhandlungstisch zu bringen.


Ejaz Haider lebt in Lahore und kommentiert seit über zwei Jahrzehnten die Außenpolitik seines Landes für verschiedene pakistanische Zeitungen und Fernsehsender.

Von: 
Ejaz Haider

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