Lesezeit: 7 Minuten
Kinder und Jugendliche und Sport in Gaza

Jeder Champion war mal ein Herausforderer

Reportage
Kinder und Jugendliche in Gaza
Boxen ist für die jungen Frauen mehr als Sport. Angst, Verlust, ständige Vertreibung und ein Leben in Gefahr haben Narben hinterlassen. Beim Boxen lassen sie ihrer Wut freien Lauf, verarbeiten ihre Traumata.

Osama Ayoub bringt jungen Mädchen in den Trümmern von Khan Yunis das Boxen bei.

Boxtrainer Osama Ayoub steht auf einem kleinen Sandstreifen mitten im kriegszerstörten Khan Yunis. Nichts ist heil geblieben, die Sonne brennt erbarmungslos. Mit offenen Handflächen lenkt er sanft die Schläge der Mädchen ab, die trotz ihrer Schmerzen auf ihn einschlagen. Immer wieder treffen die kleinen Fäuste auch auf das abgewetzte grüne Polster, das er sich vor die Brust geschnallt hat. Ein schlechter Ersatz für die Boxausrüstung, die er verloren hat. Der Ring, in dem sie kämpfen, ist nicht markiert, niemand trägt Handschuhe, es gibt keinen Boxsack. Sie kämpfen dennoch.

 

Der Weg zu diesem kleinen Provisorium war entbehrungsreich und zeugt von Osama Ayoubs Resilienz. Vor dem Krieg leitete er ein gut laufendes Fitnesscenter, in dem ambitionierte Amateursportler trainierten. Er hatte ein Zuhause und große Pläne für die Athleten, die er ausbildete. Dann brach alles zusammen. Seine Schüler wurden vertrieben, wie alle anderen auch, das Studio wurde bombardiert, seine Wohnung ebenfalls. Aber er überlebte, und was ihm blieb, war der unbedingte Wille, nicht aufzugeben.

 

Osama Ayoub wollte sich nicht damit abfinden, dass von nun an Hoffnungslosigkeit sein Schicksal bestimmen sollte. So kehrte er zum Boxen zurück, seiner großen Liebe. »Das größte Problem ist der Mangel an Ausrüstung«, sagt er mit kräftiger Stimme. »Uns fehlen Trainingsgürtel, Werkzeug und Boxhandschuhe. Wir haben nur eine Matte, auf der wir trainieren können.« Und so bringt er den Mädchen bei, mit der bloßen Faust zuzuschlagen. »Wenn ich in ihre Augen sehe, vergesse ich meine eigenen schmerzenden Hände.«

 

Kinder und Jugendliche in Gaza
Osama Ayoub will seine Schüler für internationale Wettkämpfe fit machen und in einer Sporthalle voller Athleten trainieren.

 

Seine 17-jährige Nichte Belsan Ayoub ist eine der jungen Frauen, die bei ihm boxen lernt. Vor dem Krieg trainierte sie in einer gut ausgestatteten Sporthalle, die Hände mit speziell gefertigten Handschuhen geschützt. Jetzt kämpft sie unter freiem Himmel gegen die Geister der Vergangenheit. »Unsere Turnhalle wurde völlig zerstört«, sagt sie, ihre Stimme klingt verzweifelt und entschlossen zugleich. »Auf der Flucht in den Süden konnten wir nicht trainieren. Wir verloren uns aus den Augen, jeder suchte einen sicheren Ort. Aber Coach Osama hat uns wiedergefunden und zusammengebracht.«

 

Boxen ist für die jungen Frauen mehr als Sport. Angst, Verlust, ständige Vertreibung und ein Leben in Gefahr haben Narben hinterlassen. Beim Boxen lassen sie ihrer Wut freien Lauf, verarbeiten ihre Traumata und werden stärker. »Der Sport hilft uns, all die negativen Gefühle, die Erschöpfung und die Last der Verantwortung loszuwerden«, sagt Belsan Ayoub, bevor sie weitertrainiert und mit voller Kraft zuschlägt.

 

Vor dem Training ist Aufwärmen angesagt. Die Mädchen, die eine lange Nacht auf dem steinharten Boden hinter sich haben, stellen sich in einer Reihe auf und bewegen sich rhythmisch im Gleichschritt. Dann beginnt das Training. Die ganz jungen Mädchen üben Schläge und bauen so Kraft in ihren Händen auf. Mit jedem Schlag auf das grüne Polster scheinen sie mehr davon überzeugt zu sein, dass sie mehr als bloß Vertriebene sind.

 

Doch der Krieg ist nie weit. Während des Trainings ist der Lärm der über ihnen kreisenden Drohnen allgegenwärtig, in der Ferne erinnert eine Explosion daran, dass noch immer gestorben wird. Osama Ayoub blickt Richtung Himmel, als erwarte er jede Sekunde eine neue Gefahr: »Es gibt hier keinen sicheren Ort.« Seine Angst ist nachvollziehbar, aber sie lähmt ihn nicht. Alles neu aufbauen, das ist sein großer Wunsch. Er will seine Schüler für internationale Wettkämpfe fit machen und in einer Sporthalle voller Athleten trainieren. Er will der Welt zeigen, dass der Krieg die Palästinenser nicht zum Schweigen bringt. »Wir machen weiter«, sagt er lakonisch. »Niemand kann uns davon abhalten, unsere Ziele zu erreichen, Medaillen zu gewinnen und der Welt zu zeigen, dass es uns gibt.«

 

Da steht er nun auf dem kleinen Sandstück, die Hände in die Höhe gereckt. Schlag um Schlag, bis der Traum wahr wird. Für Osama Ayoub ist allein die Tatsache, dass er dieses Training leitet, ein Akt des Widerstands gegen den Krieg, Zeugnis eines unbedingten Überlebenswillens und Beweis dafür, dass dieser Wille nicht zu brechen ist.

Von: 
Alaa Al-Sharif

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.