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Die Drusen und die Protestbewegung im Süden von Syrien

Weiter geht es in Suweida

Feature
Die Drusen und die Protestbewegung im Süden von Syrien
Friedlicher Protest der drusischen Bevölkerung in Suweida gegen Syriens Regierung Suwayda24

Die Protestwelle im Süden Syriens stellt das Assad-Regime vor ein Dilemma: Denn als Schutzmacht der Minderheiten kann es sich nicht mehr inszenieren.

Seit Mitte August demonstrieren die Menschen in der südsyrischen Provinz Suweida regelmäßig gegen das Assad-Regime. In vielerlei Hinsicht ähneln die Ereignisse den Protesten, die im März 2011 ausbrachen und die Revolution auslösten. Auch heute fordern die Demonstranten den Rücktritt der Regierung in Damaskus und grundlegende politische Reformen. Die Proteste sind gut organisiert, friedlich und haben mitunter Volksfestcharakter. Es wird gesungen und getanzt, die Forderungen auf den Transparenten sind oft sarkastisch und humorvoll formuliert.

 

Andererseits unterscheiden sich die Proteste deutlich von jenem vor über einem Jahrzehnt. Sie spiegeln vor allem die drängenden Probleme der Gegenwart wider. So bringen viele der Plakate die Forderung nach einer Lösung der sozioökonomischen Krise zum Ausdruck, die das syrische Volk zwölf Jahre nach Beginn der Revolution in teils tiefe Armut gestürzt hat. Andere Transparente fordern den Rückzug der iranischen Truppen oder die Umsetzung der UN-Resolution 2254, also einen Verhandlungsfrieden für Syrien.

 

Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass die neuen Proteste einen klar benannten Anführer haben: Hikmat Al-Hajari, einer der drei spirituellen Führer der drusischen Gemeinschaft. Hamoud Al-Hennawi steht ihm nahe, während die Rolle von Youssef Jarbou weniger klar ist. Der Mangel an allgemein anerkannten und akzeptierten Führern war eine der größten Schwächen des Aufstands, der 2011 als friedliche Protestbewegung begann und sich erst im Laufe der Jahre und mit zunehmender Brutalität des Regimes zu einem bewaffneten Konflikt entwickelte.

 

Schon heute sind Strom, Benzin und andere Erdölprodukte rationiert

 

Die Proteste in Suweida werden von zivilgesellschaftlichen Gruppen getragen, von denen viele bereits 2011 aktiv waren. Hinzu kommen Anhänger der Opposition und viele junge Männer und Frauen, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben politisch engagieren. Die hohe Beteiligung von Syrerinnen ist dabei besonders hervorzuheben, noch mehr als es bereits 2011 der Fall war. Epizentren des zivilen Widerstands sind einerseits der zentrale Platz in der Stadt Suweida, auf dem die Demonstrationen stattfinden, andererseits das Anwesen von Hikmat Al-Hajari, der die Proteste anführt.

 

In Al-Hajaris Haus treffen regelmäßig Delegationen ein, um ihre Unterstützung für die Proteste zu bekunden oder politische Entwicklungen zu besprechen. Unter den Besuchern finden sich auch die Anführer vieler bewaffneter Gruppen, die sich in den letzten Jahren in der Provinz geformt haben. Wen diese Milizen letztlich unterstützen, ist schwer zu sagen. Vor Beginn der Demonstrationen hatten sich nur wenige offen gegen das Regime gestellt, doch mit Beginn der Proteste wird deutlich, dass für viele die Solidarität unter den Drusen oberste Priorität hat.

 

Das syrische Regime hat bisher, abgesehen von einigen allgemeinen Warnungen vor den Gefahren der Unruhen, kaum reagiert. Das Ausbleiben einer direkten Reaktion, etwa einer blutigen Niederschlagung der Proteste, hat Beobachter überrascht. Ein Grund dafür könnten logistische Schwierigkeiten sein, aber auch die Tatsache, dass die Bevölkerung, wie in vielen Teilen Syriens, mitunter schwer bewaffnet ist und große Solidarität unter den Demonstranten herrscht. Umstände, die den Preis für ein militärisches Eingreifen in die Höhe treiben.

 

Theoretisch könnte das Regime aber auch auf andere Mittel zurückgreifen. Zum Beispiel Einschränkungen in der Versorgung mit Strom, Öl oder Mehl. In dieser Hinsicht ist Suweida in der Tat weitgehend von Damaskus und anderen Provinzen abhängig. Problematisch für die Regierung ist wiederum, dass sie Suweida ohnehin nur mit wenigen dieser Güter beliefert. Entsprechend gering wäre der Effekt, wenn sie die Lieferungen ganz einstellen würde. Schon heute sind Strom, Benzin und andere Erdölprodukte rationiert.

 

Dieses Vorgehen des Regimes folgt einem Muster, das auch anderen von der Opposition gehaltenen Gebieten zu beobachten ist

 

Die am Weitesten verbreitete Erklärung dafür, dass das Regime nicht mit Gewalt gegen die Proteste vorgeht, ist die Tatsache, dass hier Drusen und nicht Sunniten demonstrieren. Nur Suweida weist eine drusische Bevölkerungsmehrheit und gleichzeitig nur wenige Sunniten auf – in den beiden Küstenprovinzen Latakia und Tartus sind die Alawiten in der Mehrheit, aber die sunnitische Bevölkerung stellt dafür einen erheblichen Bevölkerungsanteil. Da sich das syrische Regime immer wieder als Schutzmacht der Minderheiten präsentiert, dürfte es Damaskus schwerfallen, überzeugende Gründe für die Niederschlagung der Demonstranten in Suweida zu finden.

 

Die Zentralregierung ist jedoch weiterhin in der Provinz aktiv. Obwohl die lokalen Büros der Baath-Partei geschlossen sind, arbeiten einige staatliche Institutionen in Suweida weiter, Beamte werden bezahlt und Soldaten sind vor Ort, obwohl sie offensichtlich strikte Anweisung haben, sich nicht einzumischen. Dieses Vorgehen des Regimes folgt einem Muster, das auch anderen von der Opposition gehaltenen Gebieten zu beobachten ist: Gehälter werden weitergezahlt, um die Beamten in Abhängigkeit zu halten. Zuletzt aber scheute das Regime auch nicht vor kaum verhohlenen Drohungen zurück. Als Reaktion auf die Forderung der Demonstranten, Iran solle sich aus Syrien zurückziehen, verbreiteten Hizbullah-nahe Medien Bilder aus dem Jahr 2018, als der sogenannte Islamische Staat (IS) in Suweida Hunderte Menschen ermordete.

 

Abgesehen von einigen Anrufen westlicher Diplomaten und Politiker hat Al-Hajari bisher keine nennenswerte Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Es mehren sich jedoch Spekulationen, dass Suweida aufgrund seiner geografischen Nähe zu Jordanien mit Hilfe Ammans eine autonome Selbstverwaltung aufbauen könnte – vergleichbar mit den kurdisch kontrollierten Gebieten im Nordosten oder den der Türkei nahestehenden Gruppen im Nordwesten Syriens. Da aber konkrete Hinweise auf eine solche Unterstützung fehlen, bleibt es hier bei Spekulationen.

 

Die Proteste werden, solange sie sich auf die Provinz Suweida beschränken, also im wahrsten Sinne des Wortes eine geografische und politische Randregion, keine wirklichen politischen Konsequenzen nach sich ziehen. Für das Regime geht es daher darum, vergleichbare Proteste in anderen Landesteilen zu verhindern. Dies gilt insbesondere für die Küstenregionen und Damaskus, wo die meisten regierungstreuen Syrer leben, die die Basis seiner Macht stellen. Bislang ist dies dem Regime auch dadurch gelungen, dass es in allen wichtigen Städten Sicherheitskräfte in großer Zahl auf die Straßen geschickt hat.

 

Mit Hikmat Al-Hajari haben die Demonstranten in Suweida einen Anführer, der sie angemessen repräsentiert und für sie spricht

 

Eine sechstägige Auslandsreise von Präsident Baschar Al-Assad nach China im September sowie die Tatsache, dass die Proteste in den staatlichen Medien nicht auftauchen, deuten darauf hin, dass das Regime von den Demonstrationen in Suweida bislang unbeeindruckt bleibt. Baschar Al-Assads Zukunft ist ohnehin an Teheran und Moskau gebunden.

 

Da der Konflikt in Syrien so viele internationale Implikationen hat, hängt das Überleben des Regimes von dieser Unterstützung ab. Selbst Kritiker innerhalb der syrischen Elite, die in Assads Person ein Hindernis für eine Befriedung des Landes sehen, werden nichts unternehmen, solange Syrien sich der Unterstützung seiner Verbündeten im Ausland sicher ist. Die zunehmende Zahl von Treffen zwischen westlichen Diplomaten und syrischen Offiziellen nach mehr als einem Jahrzehnt der Isolation dürfte das Regime in dieser Hinsicht noch selbstbewusster machen.

 

Mit Hikmat Al-Hajari haben die Demonstranten in Suweida einen Anführer, der sie angemessen repräsentiert und für sie spricht. Gleichzeitig verhindert die Tatsache, dass er ein Geistlicher ist, eine Ausweitung der Proteste auf andere Landesteile, in denen kaum Drusen leben. Alawiten etwa würden Al-Hajari kaum als Anführer akzeptieren.

 

So zeigen die Demonstrationen, was jeder Syrien-Kenner ohnehin wusste: Das Land ist völlig zerrüttet, und solange das Regime fest im Sattel sitzt, wird es weder politische noch wirtschaftliche Reformen geben. Daran ändert auch keine Annäherung der arabischen Staaten, kein Geld aus Iran und kein Besuch ausländischer Politiker etwas. Und auch inwiefern die neue Protestwelle die grundlegenden Spielregeln des Konflikts neu schreiben können, muss bezweifelt werden.


Jihad Yazigi ist Gründer und Chefredakteur des Fachportals The Syria Report.

Von: 
Jihad Yazigi

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