Lesezeit: 8 Minuten
Justizreform und Protestbewegung in Israel

Neue Bündnisse auf Israels Straßen

Feature
Justizreform und Protestbewegung in Israel
Lizzy Shaanan via the PikiWiki

Die Proteste gegen die geplante Justizreform sind in ihrer Zusammensetzung einzigartig in der Geschichte Israels. Hunderttausende Demonstranten fragen sich: Was macht unser Land eigentlich aus?

Der Oberste Gerichtshof des Landes entscheidet über nichts weniger als über seinen eigenen Machtverlust. Und damit über einen empfindlichen Schlag für die fragile Gewaltenteilung im jüdischen Staat. Bisher konnte das Gericht im Rahmen der »Angemessenheitsklausel« Beschlüsse der Regierung kassieren, die gegen das israelische Grundgesetz verstoßen. Mit »Grundgesetz« ist eher eine lose Sammlung nach britischem Vorbild gemeint als eine ausformulierte Verfassung gemeint, die Israel nicht besitzt.

 

Allerdings hat das Land auch keine zweite Kammer neben der Knesset oder andere Formen der Gewaltenkontrolle. Die Aufgabe kommt dem Obersten Gericht zu. Die aktuelle Regierung versucht, diese Kontrolle zu minimieren. Dagegen versammeln sich seit 32 Wochen ununterbrochen donnerstags und freitags Hunderttausende Israelis.

 

Was die Proteste so besonders macht, ist nicht nur ihre schiere Größe und anhaltende Dauer, sondern auch ihre Zusammensetzung. Noch im Juli ätzte der marxistische Historiker Adam Raz in der taz, hier demonstriere »vor allem die Bourgeoisie, darunter die sehr gut verdienenden Angestellten der Hightech-Industrie«. Da waren die Menschenmassen in Tel Aviv schon kaum noch überschaubar. Doch auch er musste zugeben, dass der gemeinsame Protest mit Soldaten und Angehörigen der »End Occupation«-Bewegung einzigartig sei.

 

Ursprünglich war diese Gruppe vor allem von israelischen Arabern und jungen Linken getragen, die sich eben nicht mit Emblemen wie der Staatsflagge schmückten

 

Hier demonstriert nicht die liberale Tel Aviver Blase. Ein breites Bündnis umspannt die zionistische Linke über das Zentrum bis hin zur liberalen Rechten. Es umfasst unterschiedliche Berufsgruppen wie Angestellte, Angehörige der Verwaltung, der Sicherheitsbehörden und nicht zuletzt des Militärs. Die politische Opposition läuft der Protestentwicklung eher hinterher, als das sich für sich nutzbar machen könnte.

 

Die »konservativen« Forderungen dieses Blocks, wie die Beibehaltung der Gewaltenteilung, umfassen hierbei keine generelle Veränderung des Status Quo. Bezugspunkte sind die israelische Flagge sowie das Selbstverständnis Israels als »jüdischer und demokratischer Staat«, ohne die inhärenten Spannungen dieser Definition angehen zu wollen.

 

Doch die Zusammensetzung der Proteste verändert sich. Stellte bisher das säkulare, konservative Israel den Hauptteil der Demonstranten (75 Prozent der Israelis zwischen 18 und 35 bezeichnen sich als recht-konservativ), also vor allem junge, wirtschaftlich orientierte Menschen, die sich als »Patrioten« verstehen, so wird eine zweite Gruppe stärker, die bisher eher am Rande mitlief.

 

Israels Linke war in den letzten Jahren kaum mehr wahrnehmbar. Auch das »Friedenslager«, dessen Hauptanliegen ein Ende der Besatzung im Westjordanland ist, stellte keineswegs den Großteil der Demonstranten. Jedoch mehren sich nun die Stimmen, denen es nicht nur um eine Rettung des Status Quo geht, sondern die das Selbstverständnis Israels grundsätzlich reformieren wollen. Ursprünglich war diese Gruppe vor allem von israelischen Arabern und jungen Linken getragen, die sich eben nicht mit Emblemen wie der Staatsflagge schmückten. Innerhalb des Fahnenmeeres der Bilder aus Tel Aviv fielen sie nicht auf. Doch ihr Einfluss unter den Demonstranten wächst.

 

All diese Debatten mussten in den vergangenen Jahren der omnipräsenten Sicherheitsfrage unterordnen

 

Die Gegenproteste von rechtsgerichteten Befürwortern der Reform sind im Vergleich dazu klein. Zudem sind sie erkennbar von der Regierung selbst einberufen und organisiert. Allerdings werden sie genutzt, um extremen Positionen Raum zu geben. Zum erkennbaren Unwillen zahlreicher gemäßigterer Befürworter tauchten Plakate der kahanistischen Rechten auf. Den Anhängern des 1990 erschossenen ultranationalistischen Rabbiners Meir Kahana ist gelungen, was ihrem Vorbild nie vergönnt war. Als Meir Kahane 1984 in der Knesset sprach, tat er dies vor leeren Rängen. Auch die Abgeordneten des Likud verließen aus Protest den Saal. Heute sitzen Kahanes Schüler in den Reihen der Likud-Abgeordneten und bestellen ihre Unterstützer auf die Straße.

 

Die Staatskrise um die Justizreform hat offengelegt, dass die israelische Demokratie in vielen Belangen einer Baustelle gleicht und zahlreiche zentrale Fragen nie geklärt wurden. Dazu zählen, neben dem Status als Besatzungsmacht, das Verhältnis von säkularen und religiösen Israelis, von Juden und Arabern, von »Jecken« und »Sabras«. Und der Blick auf die Schicksalsjahre 1948 und 1967.

 

All diese Debatten mussten in den vergangenen Jahren der omnipräsenten Sicherheitsfrage unterordnen. Nun brechen diese Gräben auf. Auch unter einer gemäßigteren Regierung wäre es über kurz oder lang dazu gekommen. Damit übersteigen die Proteste sowohl die anberaumte Justizreform als auch Netanyahus persönliche Probleme mit den Richtern.

Von: 
Wenzel Widenka

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.