Im Jubiläumsjahr des arabischen Filmfestivals ALFILM, das seit 2009 jährlich in Berlin stattfindet, ist den Organisatoren nicht nach Feiern zumute. Leiterin Pascale Fakhry über fragwürdige Einschränkungen im Berliner Kulturbetrieb – und warum der Film so ein wichtiger Begegnungsort bleibt.
zenith: ALFILM findet seit 15 Jahren statt, aber dieses Jahr scheint alles anders zu sein. Inwiefern prägt der Gaza-Krieg das arabische Filmfestival?
Pascale Fakhry: Palästina steht in diesem Jahr nicht zum ersten Mal im Fokus von ALFILM. Seit 2009 haben wir es als unsere Aufgabe verstanden, palästinensischen Filmschaffenden eine Plattform zu geben. Zum einen ist palästinensisches Kino sehr hochwertig; auf den großen Leinwänden in Deutschland kaum zu sehen, aber international angesehen und preisgekrönt. Außerdem wollen wir arabische Perspektiven zeigen, dadurch ist die palästinensische Sache immer ein Thema, sie ist zentral in der Konstruktion arabischer Identitäten.
Ist das Festival in diesem Jahr von besonderer Bedeutung?
Ja, wir verstehen uns als eine Brücke zwischen zwei Kulturen, die gerade deswegen so wichtig ist, weil in Deutschland sehr wenige palästinensische Stimmen zu hören sind. Wir merken auch, dass uns in diesem Jahr viel mehr Interesse entgegenkommt als sonst. Wie immer ist es unser Ziel und unsere Hoffnung, arabische Perspektiven zu beleuchten und einen sicheren und respektvollen Raum für Dialog zu schaffen. Im Kontext des Krieges ist das in diesem Jahr sehr bedeutsam.
Wird es diesmal schwieriger sein, diese Gespräche zu initiieren und zu führen?
Auf jeden Fall, und es war wirklich nie einfach in Deutschland, wenn es um Palästina und den Nahostkonflikt geht. Und auch wenn sich die Lage seit 2009 stetig verschlechtert hat, haben wir es immer wieder geschafft, Räume zu bieten, in denen der Dialog sehr friedlich entstanden ist. Wir hoffen, dass das immer noch möglich ist; alles andere wäre eine große Katastrophe. Wir sind ein wichtiger Ort der Repräsentation und wofür sind wir überhaupt da, wenn wir das nicht mehr leisten dürfen?
Was motiviert Sie, trotz dieser steten Verschlechterung weiterzumachen?
Resignation darf keine Option sein. Man sollte nie aufgeben, sondern immer wieder versuchen, seine Perspektive darzustellen und in den Dialog zu treten. Gerade weil es in Deutschland immer schwieriger wird, über Palästina zu sprechen und seine Meinung zu äußern, ohne mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert zu werden, dürfen wir die Einschränkung unserer Freiheit nicht akzeptieren.
»Palästina ist tief verwoben in der arabischen Geschichte, Identität und Kunst«
Welche Stimmung herrscht derzeit in arabischen Kulturkreisen in Berlin?
Das Ausmaß der Zensur in Berlin ist verrückt. Ich kenne Künstler, deren Arbeit gecancelt wurde, weil sie die Farben rot, grün und schwarz und arabische Schrift darstellen. Ohne dass sie sich explizit über den Krieg oder Gaza äußern. Palästina ist tief verwoben in der arabischen Geschichte, Identität und Kunst – und zwar nicht erst seit dem 7. Oktober. Die Künstler sind in ihrer Freiheit beschnitten, auch weil sie Angst haben, ihre Förderungen zu verlieren.
Was hat das für Konsequenzen?
Wir fühlen uns zurzeit als arabische Community in Deutschland unerwünscht. Wir haben das Gefühl, dass Deutschland uns sagt: Es gibt keinen Platz für euch, eure Perspektive ist nicht akzeptabel. Unglaublich viele möchten Deutschland verlassen, jeden Tag höre ich von Freunden, die sich überlegen, wo sie hinziehen können oder die schon weg sind. Wir reden auch über eine große Community, die nach Deutschland gekommen ist, weil diese Menschen Freiheit suchten und hier auch fanden. Und jetzt sind wir plötzlich wieder unterdrückt. Dann fragen wir uns: Wo liegt der Unterschied? Warum habe ich dann meine Heimat verlassen? Seit dem 7. Oktober hat sich unser Leben komplett verändert.
Wieso ist das Verständnis von historischen arabischen Identitäten so wichtig?
Abgesehen davon, dass das, was den Palästinensern seit Jahrzehnten widerfährt, jeden erschüttern sollte, egal welchen Hintergrund man hat, prägen Identität und Vergangenheit unsere Perspektive – gleiches gilt auch für Deutsche. Ich als Libanesin habe seit meiner Geburt Kriege gegen Israel erlebt. Das ist für mich kein Konflikt, der sich in der Ferne abspielt und über den ich in Sicherheit diskutieren kann. Das ist meine Realität – etwas, was ich persönlich erlebt habe. Jahrelang hatte ich einen Alptraum, der sich immer wiederholt hat, in dem wir aus israelischen Flugzeugen heraus mit Raketen beschossen wurden. Wie soll ich damit umgehen? Soll ich einfach meine Identität und meine Perspektive ändern oder aufgeben, weil sie hier nicht mehr passt? Wenn wir in diesen schwierigen Zeiten unsere Identitäten nicht repräsentieren können, wird unsere Existenz in Frage gestellt.
Wieso bleibt diese Perspektive in Deutschland in weiten Teilen unbeachtet?
Ich denke, das hat mehrere Gründe. Dazu gehören Staatsräson und Schuldgefühle. Außerdem ist es extrem problematisch, einer rechtsextremen Regierung wie jener in Israel uneingeschränkten Beistand zuzusichern. Die Regierenden müssen die Bedeutung ihres Handelns viel stärker hinterfragen, insbesondere die Tatsache, dass sie ihre Augen verschließen vor dem, was gerade in Gaza passiert. Welche Regierung auf Erden hat einfach eine carte blanche und kann machen, was sie will? Das darf nicht möglich sein. Hinzu kommt sicherlich auch Rassismus. Erinnern wir uns an den Vorwurf, Antisemitismus sei importiert und die vielreichen Vorverurteilungen und Zensuren arabischer Solidarität. Der Antisemitismusvorwurf wird instrumentalisiert, um rassistische Narrative salonfähig zu machen.
»Unsere Unterstützer haben keine Probleme mit unserem Programm«
Denken Sie, dass sich der deutsche Diskurs auch in anderen europäischen Ländern widerspiegelt?
Ich kann sagen, dass der politische Diskurs in Frankreich dem deutschen sehr ähnelt. Allerdings finden sich in der Politik oppositionelle Stimmen, die sich gegen die offizielle Position der Regierung stellen. Das sehen wir hier in Deutschland in dieser Form nicht. Man fragt sich: Wie kann ein Land demokratisch sein, wenn keine Opposition existiert? Sogar in Israel ist es einfacher als in Deutschland. Vor kurzem habe ich mit einer palästinensischen Freundin aus Nablus gesprochen. Sie hat mir erzählt, dass diese Unterdrückung von pro-palästinensischen Stimmen in Deutschland viel stärker ist als in Israel selbst. Dort wird immer eine präsente linke israelische Perspektive abgebildet, auch wenn die Regierung damit ein Problem hat.
Haben Sie sich in diesem Jahr verstärkt mit rechtlichen Einschränkungen auseinandersetzen müssen?
Ja, in diesem Jahr hatten und haben wir viele Bedenken. Von unserer Abhängigkeit von staatlicher Förderung über die Diskussionen zur Antisemitismus-Klausel bis hin zu staatlichen Einschränkungen arabischer Veranstaltungen und der Kriminalisierung etwa der Kuffiya. Mitte April berichtete eines unserer Partnerkinos von Nachfragen durch die Polizei. Der einzige Grund: Man hatte gehört, dass im Kino ein arabisches Filmfestival stattfindet. Dabei wussten die Beamten noch nicht einmal, dass der Schwerpunkt auf Palästina liegt.
Sie werden größtenteils durch den Senat und aus dem Hauptstadtkulturfonds gefördert. Haben Sie von Förderseite Bedenken über das diesjährige ALFILM mitbekommen?
Außerdem erhalten wir auch Förderungen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient. In diesem Jahr werden wir zudem von dem Produzenten Frieder Schlaich unterstützt, dem es ein Anliegen war, gerade jetzt arabisches Kino zu fördern. Unsere Unterstützer haben keine Probleme mit unserem Programm, was uns sehr freut. Die meisten, zum Beispiel die FES, arbeiten schon sehr lange mit uns zusammen. Sie kennen uns und wissen, dass wir in erster Linie qualitativ hochwertiges Kino nach Deutschland bringen und dass wir zwar politisch sind, aber eben nicht aufhetzen. Dieses Vertrauen hat uns erleichtert, weil wir Angst hatten, dass wir in diesem Jahr Förderungen verlieren.
Welche Filme werden in diesem Jahr gezeigt, die Sie als besonders wichtig empfinden?
Wer mehr darüber lernen möchte, was es bedeutet, aus Gaza zu kommen, sollte sich »Life is Beautiful« von Mohamed Jabaly anschauen. Ein Einblick in die grausamen Gewalttaten, denen das palästinensische Volk seit Jahrzehnten ausgesetzt ist, verschafft der Film »The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation« von Avi Mograbi. Wenn man Interesse an der Geschichte des Konflikts hat, ist »The Gate of Sun« von Yousry Nasrallah ein toller Film, der die Nakba aus der palästinensischen Perspektive beleuchtet. »It Must Be Heaven« von Elia Suleiman ist wichtig für das Verständnis palästinensischer Identitäten. Und wer interessiert an europäischen Perspektiven und Solidarität ist, sollte sich »Hanna K.« von Costa-Gavras nicht entgehen lassen.
Pascale Fakhry ist seit 2022 Leiterin von ALFILM, zuvor war sie die künstlerische Leiterin. Sie wurde 2012 an der Pariser Sorbonne-Universität im Bereich Filmwissenschaft und Gender Studies promoviert. ALFILM findet vom 24. bis zum 30. April 2024 zum 15. Mal in Berlin statt.