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Politische Kultur in Palästina

Die Formel P

Essay
Politische Kultur in Palästina
Seit 2007 ist der Palästinensische Legislativrat (PLC) nicht ein einziges Mal vollständig zusammengetreten und wurde im Dezember 2018 vom Verfassungsgericht aufgelöst.

Palästina braucht eine neue politische Kultur. Warum die Einbindung von Frauen und jungen Menschen dabei nicht nur wünschenswert, sondern absolut notwendig ist.

Die Rechte der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland einschließlich Ost Jerusalems müssen Vorrang vor den Parteiinteressen von Fatah oder Hamas haben. Der Friedensprozess in Nordirland, der in das von den USA vermittelte Karfreitagsabkommen mündete, könnte als Vorbild dienen. Frieden war erst möglich, als alle Parteien, auch der militärische Flügel der IRA und Sinn Féin, gemeinsam am Verhandlungstisch saßen. Ebenso muss eine palästinensische Einheitsregierung neue und jüngere Vertreter umfassen, die die Unterstützung aller wichtigen Fraktionen genießen.

 

Die Berücksichtigung der Anliegen regionaler Akteure erfordert diplomatisches Engagement, das unter Beweis stellt, dass ein geeinter palästinensischer Staat zur regionalen Stabilität und Sicherheit beitragen kann. Der Aufbau von Allianzen mit befreundeten Staaten kann ebenfalls dazu beitragen, dem Einfluss der Gegner einer innerpalästinensischen Aussöhnung entgegenzuwirken. Schließlich müssen die Palästinenser weiterhin auf der internationalen Bühne für ihre Rechte eintreten. Durch eine Kombination aus internem Dialog, internationaler Diplomatie und strategischen Allianzen könnten und sollten die Palästinenser sich in der komplexen Landschaft regionaler Politik und externen Drucks zurechtfinden und letztlich auf einen geeinten und souveränen Staat hinarbeiten.

 

In Palästina könnten die Modelle für ein Regierungssystem, das das Westjordanland, Gaza und Ost-Jerusalem umfasst, eine föderale, präsidiale, parlamentarische oder eine hybride Form annehmen. Die Einbeziehung der Hamas und anderer militärischer Gruppen ist notwendig, um dauerhaften Frieden und Sicherheit in der Region zu gewährleisten, wie die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen. Die Änderung der Charta der Hamas und ihre Teilnahme an Wahlen auf der Grundlage der Friedensvereinbarungen zeigen ihre Bereitschaft, sich am politischen Prozess zu beteiligen und Vereinbarungen einzuhalten. Dieser Schritt deutet auf ein Kooperationspotenzial hin, das nicht ignoriert werden sollte.

 

Darüber hinaus hat die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) eine historische und vielleicht letzte Gelegenheit, die Führung zu übernehmen und ihren legitimen internationalen Status als Vertreterin des palästinensischen Volkes zu behaupten. Durch einen inklusiven Ansatz, der Hamas und andere Fraktionen einbezieht, könnte die PLO ihr Bekenntnis zur Selbstbestimmung und zur Beendigung der militärischen Besatzung bekräftigen. Es ist wichtig, die Vorstellungen der Hamas über ihre Rolle in einem zukünftigen politischen Rahmen zu verstehen. Zuletzt deutete einiges darauf hin, dass die Hamas zwar keine direkte Kontrolle über die Regierung anstrebt, aber in das politische System integriert werden möchte. Ebenso wichtig ist es, die mögliche Weiterentwicklung ihres politischen Programms zu analysieren. Die Organisation könnte ihre vor dem 7. Oktober vertretenen Positionen ändern und einen pragmatischeren Ansatz verfolgen.

 

Ein Ansatz könnte in Betracht gezogen werden, bei dem die Hamas ohne Entscheidungsbefugnis am politischen System teilnimmt

 

Ein Streitpunkt wäre sicher die implizite Anerkennung des Existenzrechts Israels durch die Hamas aufgrund ihrer Integration in die PLO. Denkbar wäre deshalb ein Ansatz, bei dem die Hamas ohne Entscheidungsbefugnis am politischen System teilnimmt, falls sie sich weiterhin weigert, Israel anzuerkennen. Ohne den Konflikt zu verschärfen, würde diese Konstellation ihre Beteiligung ermöglichen, etwa in Form regelmäßiger Koordinierungstreffen.

 

Eine solche integrative Strategie wäre auch ein Eckpfeiler eines umfassenden Friedensabkommens für den Nahen Osten. Es würde die Einbeziehung aller regionalen Akteure erfordern, einschließlich Israels, der arabischen Nachbarstaaten und der internationalen Gemeinschaft. Die Einbeziehung verschiedener palästinensischer Fraktionen in den Prozess würde sicherstellen, dass ein Friedensabkommen umfassend ist und breite Unterstützung findet. Dies setzt jedoch voraus, dass die PLO und die PA eine junge und pragmatische Führung hervorbringen, die in der Lage ist, die diplomatischen, rechtlichen und politischen Instrumente des 21. Jahrhunderts gut zu nutzen.

 

Qualifizierte Palästinenserinnen sind oft von Regierungs- und Konfliktlösungsprozessen ausgeschlossen. Dabei sollten sie eine viel wichtigere Rolle spielen. Im Palästinensischen Nationalrat, im diplomatischen Korps, im Kabinett und auf kommunaler Ebene sind Frauen in externen und vor allem in innerpalästinensischen Verhandlungen kaum präsent. Der Nahe Osten braucht einen von Frauen geführten Makrorahmen mit einem Top-down- Ansatz. Dieser könnte in Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga geschaffen werden. Dabei könnte die UN-Organisation »UN Women« die Führung übernehmen, um sicherzustellen, dass Frauen auf den höchsten Entscheidungsebenen vertreten sind.

 

Die Einbeziehung von Frauen in Versöhnungsbemühungen ist aus mehreren Gründen unerlässlich. Frauen bringen einzigartige Perspektiven und Ansätze in die Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung ein, die oft auf Kooperation, Empathie und Gemeinschaftswohl ausgerichtet sind. Studien haben gezeigt, dass Friedensabkommen nachhaltiger und effektiver sind, wenn Frauen an der Aushandlung und Umsetzung beteiligt sind. Die aktive Beteiligung von Frauen an Entwicklungs- und Versöhnungsprozessen ist daher nicht nur eine Frage der Gleichberechtigung, sondern eine strategische Notwendigkeit.

 

Diplomatisches Engagement muss aufzeigen, dass ein vereinter palästinensischer Staat zur regionalen Stabilität und Sicherheit beitragen kann

 

Ein weiteres Schlüsselelement ist die Beteiligung von jungen Menschen. Ihre schiere Zahl macht sie zu einer zentralen Kraft bei der Gestaltung jeder zukünftigen Regierungsstruktur. Die Energie, Kreativität und Widerstandsfähigkeit der palästinensischen Jugend sind von unschätzbarem Wert, um die unzähligen sozioökonomischen und politischen Herausforderungen zu bewältigen.

 

Die palästinensische Jugend ist gut ausgebildet und talentiert. Insbesondere in Gaza sind die jungen Menschen digital versiert. Was sie brauchen, ist die Möglichkeit, sich auf die Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu konzentrieren. Dieser Ansatz kann auch dazu beitragen, die Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken, das Verantwortungsbewusstsein junger Menschen zu fördern und eine widerstandsfähigere und inklusivere politische Landschaft aufzubauen.

 

Junge Menschen sind oft offener für Dialog und Versöhnung als ihre Eltern und daher wichtige Akteure bei den Bemühungen um einen dauerhaften Frieden. Ihre Einbindung in der Regierungsführung kann auch der Frustration und Entrechtung entgegenwirken, die oft zu Unruhen und Radikalisierung führen.

 

Das Durchschnittsalter der politischen Entscheidungsträger in Palästina liegt heute bei 60 Jahren. Junge Menschen brauchen Expertise in Politikwissenschaft, internationalen Beziehungen, Recht und öffentlicher Verwaltung. Diese Grundkenntnisse sind entscheidend, um die Komplexität von Regierungsführung und Politikgestaltung zu verstehen. Neben der formalen ist die Verbesserung der politischen Bildung von entscheidender Bedeutung. Junge Palästinenser sollten wissen, wie ihr System funktioniert. Dazu gehören demokratische Prozesse, Regierungsstrukturen und das Konzept staatsbürgerlicher Verantwortung.

 

Darüber hinaus sind Initiativen notwendig, um die grundlegenden Fähigkeiten junger Führungskräfte zu entwickeln. Diese Programme sollten sich auf internationales Recht und Konfliktlösung konzentrieren. Darüber hinaus könnte die Einrichtung von Mentoring Netzwerken jungen Führungskräften Orientierung und die notwendigen Werkzeuge an die Hand geben, um sich in der politischen Landschaft zurechtzufinden.

 

Es muss sichergestellt werden, dass junge Menschen Zugang zu Plattformen für politische Beteiligung erhalten, wie zum Beispiel Jugendräte oder Positionen in politischen Parteien, Universitäten und Kommunen. Die Einführung von Jugendquoten in Regierungsämtern und die Schaffung von beratenden Funktionen für Jugendliche in verschiedenen Organisationen könnten sicherstellen, dass ihre Stimmen Gehör finden.

 

Gerade in diesem kritischen Moment ihrer Geschichte, in dem die Palästinenser ihrer Grundbedürfnisse beraubt und mit Kriegsverbrechen, Hungersnöten, Zwangsvertreibungen, Annexionen und Entrechtung konfrontiert sind, sollten mehr Menschen ein Mitspracherecht haben. Ohne Fortschritte in Richtung einer inklusiven politischen Kultur wird die Hamas weiterhin für sich in Anspruch nehmen, im Namen der 2,3 Millionen Zivilisten in Gaza zu verhandeln – und Israel wird die Hamas weiterhin als Ausrede dafür nutzen, sich einer friedlichen Lösung im Nahostkonflikt zu entziehen.


Dr. Dalal Iriqat ist außerordentliche Professorin für Diplomatie und Konfliktlösung an der Arab American University Palestine (AAUP) im Westjordanland. Iriqat wurde in Öffentlicher Verwaltung an der Sorbonne in Paris I promoviert.

Von: 
Dalal Iriqat

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