Am 10. August 1975 entlädt sich Rassismus und Rechtsradikalismus gegen algerische Gastarbeiter. Die DDR versucht, das Pogrom zu kaschieren. Fast wurde Erfurt aus der deutschen Erinnerung getilgt. Heute aber wehrt sich die Stadt und fordert eine Aufarbeitung – gemeinsam mit Algeriern.
»40 Jahre lauf ich durch die Straßen dieser Stadt, alles was ich höre ist ›wo kommst du her‹, ›wo gehst du lang‹«, rappt Sonne Ra in dem Lied »Atme ein, atme aus« (2023). Sonne Ra, mit bürgerlichen Namen Rashid Jadla, ist 1978 in Erfurt geboren worden und Sohn eines binationalen Paares – eines algerischen Vertragsarbeiters und einer Deutschen. In seiner Musik reagiert er auf die Ressentiments, denen er als Kind ausgesetzt war, und die auch sein Vater erlebte. Klischees und Gerüchte, die in den Sommertagen 1975 in der Thüringer Stadt zu einem Pogrom führten, das die DDR hätte wachrütteln sollen.
Etwa 300 deutsche Jugendliche jagen im August in Erfurt 25 algerische Arbeitsmigranten bei einem Volksfest vom Erfurter Domplatz bis zum Fischmarkt und verprügeln sie – einige so schwer, dass sie ins Krankenhaus mussten. Die Gewaltausschreitungen sind damit nicht zu Ende: Mobs, bewaffnet mit Stangen und Holzlatten, skandieren auf den Straßen »Schlagt die Algerier tot« oder »Aufhängen«. Am 12. August verfolgt ein rassistischer Mob die Vertragsarbeiter auf dem Heimweg. 60 deutsche Jugendliche beleidigen und schlagen algerische Vertragsarbeiter, bis sich die Volkspolizei einschaltete. Schutz finden die Algerier schließlich im Hauptpostamt, anschließend brachte die Volkspolizei die Gastarbeiter über den Hinterausgang vorbei in die Wohnheime – dicht gefolgt von den Angreifern, die deren Aushändigung fordern. Erst am 13. August kehrt in den Erfurter Straßen Ruhe ein.
Bis heute sind die Ereignisse in Erfurt der Öffentlichkeit kaum bekannt. Es sind die ersten rassistisch motivierten Übergriffe nach 1945 in Ostdeutschland – nicht etwa wie sonst häufig angenommen die Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991 oder Rostock‑Lichtenhagen im August 1992. Auf einem einberufenen Parteitag, mit Hunderten Delegierten der SED anwesend, wurden die Ereignisse diskutiert: Und laut Historiker Jan Daniel Schubert das Narrativ darüber zementiert. Für die Ausschreitung sei vor allem der Westen schuldig. Die Partei unterstellte dem Westen eine Art False-Flag Operation mit dem Ziel »die DDR und ihren Antifaschismus zu diskreditieren«, wie Schubert in einem Interview gegenüber der taz erläutert. Es verwundert demnach nicht, dass auch die Presse die pogromartigen Ausschreitungen vor allem versuchte totzuschweigen – berichtet wurde lediglich über die nachfolgenden Gerichtsverfahren gegen einzelne Deutsche. Was genau in im August 1975 passierte, mussten Historiker aus Akten und Protokollen der Polizei und Staatssicherheit sowie durch Aussagen von Betroffenen und Zeitzeugen mühselig rekonstruieren.
Denn rassistische Gewalttaten passten nicht in das Selbstverständnis der DDR – in der sozialistischen Welt galten Rassismus und Nazismus als überwunden, der Antifaschismus war in der Verfassung verankert. Ein Idealbild, das nicht nur der eigenen Bevölkerung vorgehalten wurde. Auch außenpolitisch wollte man es sich in Berlin mit dem sozialistischen Brudervolk Algeriens nicht verscherzen.
Bereits Anfang der 60er Jahre war die DDR auf Arbeitsmigranten angewiesen, auch aufgrund Abwanderung der eigenen Bevölkerung. Im Jahr 1974 schloss die DDR den Vertrag mit Algerien zur Anwerbung algerischer Arbeitskräfte. In Algerien herrschte zu dieser Zeit sowohl Arbeitslosigkeit als auch ein Mangel an qualifizierten Fachkräften. Algerien hatte mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Mit der algerischen Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1962 verließen viele Fachkräfte sowie die Bildungselite das Land. Gleichzeitig bewegte sich das Land, angeführt von der Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale kurz FLN) in eine Art Militärdiktatur. Nach der Präsidentschaft unter Ahmed Ben Bella, Gründer der FLN, stürzte Houari Boumédiène Ben Balla von der Macht. Algerien wurde zu einem sozialistisch geprägten Einparteien-System mit Houari Boumédiène und seiner FLN-Entourage an der Spitze. Die DDR war ein politischer Partner. Dass Algerien sich nach Yom-Kippur-Krieg (1973) der DDR und den sowjetischen Blockstaaten näher als dem kolonialistischen Westen und ehemaligen Besatzer Frankreich verbunden fühlte, verwundert nicht.
Auch die DDR warb mit Brüderlichkeit, Gleichberechtigung und Völkerfreundschaft. Weitere Abkommen folgten mit anderen sozialistisch geprägten „ Bruderstaaten“. So folgten Vertragsarbeiter aus Mosambik, Angola, Vietnam und Kuba. Offiziell galt die Anwerbung der ausländischen Vertragsarbeiter als Hilfsprogramm, um deren berufliche Qualifizierung sicherstellen. Das Ziel war die Rückkehr der Arbeitsmigranten in ihr Heimatland, um dort die erlernten Fähigkeiten zu nutzen und das Land aufzubauen.
Von der propagierten Völkerfreundschaft und –verständigung war in der DDR allerdings oft wenig übrig: Die DDR trennte die Arbeitsmigranten von der restlichen Bevölkerung. Die Gastarbeiter wurden in Wohnheimen oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Auch der Zugang zu den Wohnheimen wurde kontrolliert, An- und Abwesenheit der Bewohner und Besucher wurde protokolliert. Der Kontakt zur Bevölkerung war außerhalb der Betriebe nicht erwünscht – zwar existierten Freundschaften und Liebesbeziehungen, aber nach dem Ende der Verträge sollten Algerier ohne Weiteres wieder ausreisen. Von Integration keine Spur. Binationale Familien, wie sie in Folge der Arbeitsmigration deren viele entstanden, waren politisch unerwünscht. Die Rückkehr ins Herkunftsland war von Anfang an das Ziel.
Die Verträge der Arbeitsmigranten wurden mit den entsprechenden Herkunftsländern geschlossen und nicht etwa mit den Personen selbst. So konnte es beispielswiese auch passieren, dass die Vertragsarbeiter nicht den vollen Betrag ihres Lohns ausgezahlt bekamen. Den Restbetrag sollten sie bei ihrer Rückkehr erhalten, was jedoch in vielen Fällen nicht geschah. Der Wohnort und die Dauer des Aufenthalts waren vorbestimmt. Die Aufenthaltsgenehmigung war an den Arbeitsvertrag geknüpft, welche für Algerier auf maximal 4 Jahre befristet waren. Der Familiennachzug war nicht vorgesehen. Aus Algerien kamen nur Männer meist in ihren Zwanzigern in die DDR. Anders als von der Staatspropaganda behauptet, existierte Fremdenfeindlichkeit durchaus. Immer wieder waren Arbeitsmigranten verbalen aber auch physischen Auseinandersetzungen ausgesetzt. 1984 kündigte Algerien den Vertrag. In den zehn Jahren des Abkommens waren insgesamt circa 8.000 Algerier als Vertragsarbeiter in der DDR.
Gemäß Jan Daniel Schubert war die Solidarität unter den Gastarbeitern schon immer hoch –organisiert hat man sich zudem gemeinsam mit den Gewerkschaften. Nach dem August 1975 haben viele Gastarbeiter mit stillem Protest reagiert – beispielsweise durch Weigerung am Unterricht teilzunehmen. Denn Aus- und Weiterbildungen habe zwar gegeben, allerdings oft nach den langen und erschöpfenden Arbeitstagen.
Jan Daniel Schubert war an der Universität Erfurt bis zum letzten Jahr wissenschaftlicher Mitarbeiter der Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt beim Projekt „Algerische Arbeitsmigranten in der DDR“. 2024 organisierte die Oral-History-Forschungsstelle in Kooperation mit Decolonize Erfurt und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen ein persönliches Zeitzeugengespräch bei dem zum ersten Mal ehemalige Arbeitsmigranten aus Algerien sprachen. Auch dieses Jahr organisiert die Universität eine Veranstaltung, die den Pogromen von 1975 gedenken soll. Diese findet am 10. August auf dem Domplatz statt. Am 11. August gibt es zudem weitere Veranstaltungen zur Thematik der algerischen Gastarbeiter im Erfurter Rathausfestsaal.